Der Zopf

Kyra

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Wawa drehte nachdenklich die die Spitze ihres langen Zopfes zwischen den Fingern. Ihre Mutter stand mit einer langen Schere hinter ihr und wartete.
„Du hattest jetzt lange genug Zeit zu überlegen, kann ich ihn jetzt abschneiden, oder nicht?“
Wawa hielt den Kopf gesenkt, damit man die Tränen nicht sah. Lautlos weinte sie, das salzige Wasser rann aus ihren Augen, verteilte sich breitflächig über die Wangen, sammelte sich wieder unter ihrem Kinn, um von dort aus zu Boden zu tropfen. Was sollte sie antworten? Mutter hatte kein Geld, alles was versetz werden konnte, war schon beim Pfandleiher. Jetzt wollte sie Wawas Zopf, um ihn dem Friseur am Kufsteiner Platz zu verkaufen. Sanft zog die Mutter Wawa den Zopf aus der Hand,
„Du wolltest doch schon immer wie ein Junge sein. Mit kurzen Haaren siehst du viel mehr wie ein Junge aus. Hast Du schon mal einen Jungen mit Zopf gesehen?“
Wawas Hand folgte dem Zopf noch bis zur Schulter, dann ließ sie die Arme sinken. Ihre Mutter packte den Zopf fest am Ansatz und meinte beschwichtigend,
„Wenn es dir nicht gefällt, lässt du sie einfach wieder wachsen. In einem Jahr hast du dann wieder einen Zopf.“
„Genauso lang wie dieser?“
Fragte Wawa leise.
„Na ja, vielleicht nicht genauso lang, aber schon einen Zopf…“
Wawa fühlte die Kälte der Schere in ihrem Nacken,
„Kann ich jetzt den Zopf abschneiden?“
Ohne zu antworten, nickte Wawa und spürte dabei das Ziepen am Kopf.
Dann fühlte sie, wie die Schere sich tief in ihren Zopfansatz gruben, wie ihre Haare sich geschmeidig widersetzten, die stumpfe Blätter zurückdrängten. Ihr Zopf wollte sie nicht verlassen. Aber schließlich gaben ihre Haare nach, immer wieder drückte Wawas Mutter die Schere zusammen, die unerbittlichen Wiederholungen lösten den Zopf immer mehr von Wawas Kopf, bis er schließlich durch einen letzten Schnitt ganz ihrer Mutter gehörte.
Schnell drehte Wawa sich um, schon bei dieser ersten Regung merkte sie den Untersied. Das schwere Pendel am Rücken, das sonst träge jeder Bewegung folgte, fehlte. Ihr Kopf war leicht, nur war es keine angenehme Leichtigkeit, eher das Gefühl einer schutzlosen Nacktheit.
Als sie dann den Zopf in der Hand ihrer Mutter sah, fasste sie sich unwillkürlich an den Hinterkopf. Jetzt verstand sie, warum Indianer ihre Gegner skalpierten, sie hätte es niemandem erklären können, aber es war schrecklich.
Ihre Mutter ließ ihr keine Zeit, sich in ihre Trauer hineinzusteigern. Gut gelaunt hielt sie den Zopf hoch und sagte,
„Jetzt gehen wir erst zum Friseur und dann gehen wir von dem Geld ins Kino“
Das stillte Wawas Tränen schnell, noch nie war sie im Kino gewesen.
Das Gesicht noch tränennass, fing sie an zu strahlen,
„Oh ja, ins Kino. Wir wollen gleich gehen. Komm!“
Schon hatte sie die Mutter an der Hand gepackt und zog sie zur Tür.
„Halt, einen Augenblick noch, so kannst du ja auch nicht aus dem Haus. Etwas muss ich deine Haare noch schneiden.“
Geschickt schnitt die Mutter ihr die Haare in etwas Pagenkopfähnliches, dann waren sie bereit, zu gehen.
Wawa hatte schon einmal ihre Urgroßmutter zum Friseur begleitet, trotzdem blieb sie schüchtern an den Rücken ihrer Mutter gedrängt, als sie den Laden betraten. Die Gerüche waren interessant, neben dem vertrauten Duft von Haarspray und Shampoon lag ein beißender Geruch in der Luft. Der ging wohl von einer kleinen Schüssel aus, deren Inhalt eine Friseuse einer Kundin mit einem Spatel auf die Haare schmierte. Dabei reckte sie den Kopf weit zur Seite, um die Dämpfe nicht einzuatmen.
Der Friseurmeister kam auf sie zu und fragte freundlich, ob sie einen Termin hätten. Als Wawas Mutter ihm den Zopf entgegenhielt, sah er einen Augenblick etwas verdutz aus. Sie verhandelten kurz über den Preis, zwanzig Mark, mehr wollte er nicht zahlen. Wawa hörte nicht genau zu, sie starrte fasziniert in einen großen Spiegel auf ihre neue Frisur. Vielleicht war es ja nicht so schlecht, wie Prinz Eisenherz. Wawa fuhr herum, als der Friseur sie ansprach und fragte,
„Na, kleines Fräulein, tut es dir denn gar nicht leid, dass deine Mama deinen schönen Zopf verkauft?“
Einen Augenblick stiegen ihr die Tränen in die Augen, fanden aber zum Glück über die Nase ihren Weg nach draußen. So schniefte Wawa einmal kurz und sagte stolz,
„Wir hatten kein Geld. Aber jetzt haben wir Geld und damit gehen wir heute ins Kino.“
Wawas Mutter sagte lachend,
„Stimmt“
Dann verließen sie das Geschäft. In der Straßenbahn, auf dem Weg in die Stadt wollte Wawa wissen, wo das Kino sei, welchen Film sie ansehen werden und ob der Film nicht vielleicht schon angefangen hätte.
Als sie zum Kino kamen, wollte die Kartenverkäuferin sie nicht hineinlassen. Wawas Mutter musste sich erste eine Lügengeschichte ausdenken, damit sie dann doch noch eingelassen wurden.
Wawa war etwas enttäuscht, dass der Film nicht farbig war, aber dann war sie von der etwas unverständlichen Handlung so fasziniert, dass sie die fehlende Farbe völlig vergaß. Alles spielte auf einer Bühne, eine alte Frau zog einen Karren der mit allerlei Hausrat bepackt war. Manchmal kamen andere Menschen und sprachen mit ihr, aber Wawa interessierte nur die Frau. Die verlor alle Kinder und am Ende zog sie alleine mit ihrem Karren weiter.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
das

ist wieder einmal typisch für deine mutter, daß sie sich nicht mit dir einen kinderfilm ansieht, um dich über den verlust des zopfes zu trösten, sondern einen film, den du in deinem alter noch gar nicht verstehen konntest. sehr gut geschrieben, gut erzählt. ich finde, du wirst immer besser. ganz lieb grüßt
 



 
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