Der zweite Winter

Als die Tage des Frühlings einkehren sollten, wurde es wieder kälter, und die eben erst aufgebrochene Eisschicht begann erneut zu verkrusten. Erst dachte man, dass es ein kurzer Wetterumschwung sein könnte, doch als der April vorbei war und sich der Schnee wieder über zehn Zentimeter hoch türmte, begann man sich Gedanken zu machen. Im Mai, als die Tage wieder über 15 Sonnenstunden erreichen sollten, lagen sie bei zehn. Die wenigen Strahlen, die schwach herabkamen, begannen ihr Tagwerk gegen 9.00 Uhr und waren um 19.00 Uhr bereits wieder dem Nachthimmel gewichen - doch selbst in den kurzen Fenstern, in denen sie da waren, konnten sie nicht genug Wärme erzeugen, um etwas durch den tiefen Schnee wachsen zu lassen, und so blieb es weiß und grau.

Das Grau begleitete den Juni, es begleitete den sonst von Vögeln geschwängerten Himmel, der sich zu dieser Zeit endlos blau erstrecken sollte, und es begleitete die, die es nicht mehr ertrugen. Das tat es in allen Monaten dieses Frühlings. Im Übergang zum Juli hatte sich die Sonne auf unter neun Stunden zurückgezogen. Niemand fand eine plausible Antwort für das, was hier vor sich ging. Vielleicht hatte sich die Erde verschoben und dadurch die Jahreszeiten vertauscht, vielleicht war es ein astronomisches Ereignis, vielleicht war es Gott.

Die Vögel, die nun endgültig heimgekehrt waren, zurück von ihrer Reise, bewährt auf hunderttausenden von Jahren, starben. Sie erfroren größtenteils in den ersten zwei Tagen ihrer Wiederkehr. Im August starben die letzten, die widerstandsfähigen. An Insekten oder kleine Säugetiere war nicht zu denken. Was nicht in beheizten Räumen Platz fand, starb eines Todes des Frostes oder Essensmangels wegen. Im September waren die Schneeschicht und die Selbstmordrate so hoch wie noch nie.

Hätten sie etwas länger durchgehalten, hätten sie mitbekommen, dass sich die Temperatur erholte. Sie hätten gemerkt, dass die tägliche Dosis an Licht wieder aufstockte. Sie hätten Hoffnung mit denen in ihren Herzen tragen können, die einen Wechsel kommen sahen - als die Sonne wieder stärker und länger aus ihrem grauen Gefängnis ausbrach. Aber das taten sie nicht und die anderen taten das, was ohne die, die gegangen waren, möglich war. Es entwickelte sich zu einem Aufbäumen Anfang Oktober.

Hoffnung.

Wenn bald der verspätete Frühling einsetzen würde, gegen November, wie man aufgrund der Dauer des zweiten Winters einschätzte, würde es bergauf gehen. Man würde wie gewohnt die Saat ausbringen, die Tiere, die übrig geblieben waren, auf die Felder hinaustreiben und der Arbeit nachgehen.

Ende Oktober war es relativ mild gewesen, bis zu 14 Grad im Plus und ein paar Pflanzen begannen tatsächlich ihre Köpfchen zu strecken. Der Schnee war in der ersten Oktoberwoche abgetaut und der Kreislauf begann wie gewohnt Fahrt aufzunehmen. Dann kam der November und mit ihm der Winter.
 



 
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