Destination unknown

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8deer

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Destination unknown

„Eigentlich kann ich das überhaupt nicht gut. Ich habe noch nicht mal eine sonderlich gute Beziehung zur Sprache. Bin immer froh, wenn das Handy ne Rechtschreibhilfe hat.“, sagte er und der Wind machte es Klaus schwierig, alles zu verstehen.
„Aber Sie haben jetzt alle dabei?“
„Nicht wirklich alle, aber die letzten beiden Ordner. Wollen se mal sehen?“
„Klar!“, sagte Klaus, obwohl ihm das gerade piepegal war. Er musste irgendwie Zeit gewinnen.
„Sie kennen das ja“, sagte der Mann, der seinen Rucksack von der Schulter nahm und darin rumwühlte, „man bekommt den Kram zugeschickt, ob man will oder nicht. Werbezeitungen jede Woche. Ganz früher sind die kommentarlos in den Müll gewandert.“

Er gab zwei Ordner Müll an Klaus, der sich darüber wunderte, wie schwer sowas ist.
Er zog den Reißverschluss des Rucksackes wieder zu, ließ ihn aber vor Klaus Füße zu Boden gleiten.
„Das sind ja wirklich viele! Wenn sie es nicht mögen sich damit zu beschäftigen, warum machen sie es denn?“
„Meine Frau liebte Kreuzworträtsel! Sie machte sie immer zur Entspannung und hat sich auch immer diese dicken Hefte am Bahnhof gekauft. Voller Rätsel! Dann hat sie auch mal die anderen Dinger ausprobiert, die mit den Zahlen. Aber das war nicht ihre Sache. Schnell war sie wieder bei ihren guten alten Kreuzworträtseln. Ich saß meistens nur neben ihr aufm Sofa und habe Filme geschaut. Mit Kopfhörer, denn sie mußte sich ja konzentrieren.“
„Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen!“
„Ich hätte auch Mega Ärger bekommen, wenn nicht!“, schmunzelte er. „Aber dann ist sie gestorben und ich habe selber angefangen mit den Dingern. Nicht, daß ich es interessant fand; eher weil es mich an meine Frau erinnerte. Dann war ich nicht mehr alleine aufm Sofa und ich stellte mir vor, wie sie mir die Lösungen ins Ohr flüsterte. Leider war da sehr wenig Geflüstere. Irgendwann habe ich herausgefunden, daß es so Internetseiten gibt, auf denen es die Lösung für fast alle Fragen gibt. Praktisch. Und dann fing es an.“
„Fing was an?“
„Ich hatte mich mühsam durch son Ding durchgewurstelt und habe dann das Lösungswort vor Augen gehabt. Es lautete ‚NICHTSCHUMMELN‘“

Klaus brauchte ein bisschen, um das gerade eben Gesagte zu verarbeiten. „Sie haben ein Kreuzworträtsel gemacht und die Lösung war ‚NICHTSCHUMMELN‘? War das die Lösung, ich meine haben sie es überprüft?“
„Was glauben sie denn? Ich hatte ordentlich im Internet geschummelt und ich war deshalb total verblüfft, dass das jetzt das Lösungswort sein sollte. Aber es war so.“
„Was passierte dann?“
„Ich habe erstmal meine Finger davon gelassen.“ Das war mir zu unheimlich. Ein verhextes Kreuzworträtsel haut mir auf die Finger oder so, weil ich geschummelt hatte.“

Der Wind wurde ruhiger und wehte den Geruch des Kiefernwäldchens herüber.

„Hier sind aber ne ganze Menge Kreuzworträtsel drin,“ , Klaus hob einen Ordner hoch, „da haben sie aber doch noch ein Weilchen weitergemacht, oder?“
„Ja. Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, dachte ich: das habe ich nur geträumt. Und so rätselte ich weiter. Die nächsten Male waren es auch nur wieder ganz normale Lösungsworte. „ARCHAEOPTERYX“ oder „KAULQUAPPE“ oder sowas. Doch dann kam ein „GUTGEMACHT“.
„Naja, das kann doch durchaus ein normales Ergebnis sein. Quasi ein Meta-Joke!“
„Das hätte man wirklich annehmen können, obwohl ich nicht ganz genau weiß, was ‚Meta‘ heißt. Hat aber nix mit Zuckerberg zu tun, oder?“
„Nee, ‚Meta‘ bedeutet, wenn etwas nichts…“, der Mann fiel Klaus ins Wort, „Ich hatte es tatsächlich gut gemacht. Fast gar nicht geschummelt und bei manchen Sachen richtig doll nachgedacht; solange, bis ich von selber draufkam.“

Es war Anfang September und ganz heimlich kündigte sich der Herbst an. Es war noch leidlich warm und in der Ferne sah man die Lichter der Stadt, die sich so langsam für die Nacht schön machte. Die untergehende Sonne berührte noch leicht den Horizont, bevor ihr Orange verglühte. In diesem speziellen Moment nahm Klaus seit langer Zeit wieder bewusst wahr, wie schön der Ausblick hier sein konnte. Wenn man lange an einem Ort lebt, dann kann es durchaus vorkommen, daß man manchmal die kleinen Dinge in der Natur nicht mehr zu würdigen weiß, dachte Klaus. Man nimmt sie nicht mehr wahr.

„Ich sehe es in Ihren Augen! Sie machen das hier öfters, oder?“, fragte der Mann.
Klaus wusste nicht so ganz genau, was er antworten sollte. In der Tat war es für ihn keine Premiere, aber nichtsdestotrotz war es auch keine Alltäglichkeit und es würde wohl hoffentlich auch nie eine werden.
„Tja, das ist hier ein beliebter Spot.“, Klaus versuchte nicht allzu sehr sarkastisch zu klingen. „Und ich haben einen guten Blick von meinem Küchenfenster hierhin, insofern fühle ich mich dann auch aufgefordert.“
„Es tut mir leid, daß ich Ihnen solche Umstände mache. Ich wollte nicht stören. Normalerweise sind die Menschen auch bestimmt jünger, oder? So stelle ich mir das jedenfalls vor.“

Klaus wollte wieder zurück zu der Geschichte des Mannes.

„Wie ging es weiter mit den Kreuzworträtseln?“
„Es dauerte nicht lange und ein Rätsel im Supermarktprospekt ergab ‚ICHBINIMMERBEIDIR‘. Nicht gerade das, was man von Sonderangeboten erwartet, oder?“, er lächelte.
„Da wurde mir klar, daß es Botschaften von meiner verstorbenen Frau waren. Kurz danach, und ich weiß es noch ganz genau, weil es so ein großes und kompliziertes Rätsel war, war die Lösung ‚ESISTSEHRSCHOENHIERHASE‘. Danach waren die letzten Zweifel ausgeräumt. Meine Frau hatte mich immer ‚Hase‘ genannt, wissen sie? Da musste ich weinen.“

Klaus schaute dem Mann ins Gesicht. Er wirkte sehr entspannt, glücklich. Klaus ging in sich, überlegte wie er das Thema drehen könnte. Das Ganze war nicht wie sonst.

„Haben sie denn keine Kinder? Oder Freunde oder Bekannte?“
„Sagen wir es mal so - ich habe mich in den letzten zehn Jahren nicht mehr so lange mit jemandem unterhalten, wie jetzt mit ihnen hier.“
„Ok, verstehe. Das tut mir leid.“
„Das muss es nicht! Wir waren schon immer gerne für uns und großartige soziale Kontakte hatten wir auch als Paar nicht. Kinder wollten wir keine. Insofern hat sich niemand für mich nach dem Tod meiner Frau interessiert. Was auch vollkommen in Ordnung ist.“

„Nicht jeder muss gesellig sein. Ich habe auch oft gerne meine Ruhe und freue mich, wenn ich nicht gestört werde. Beim Eichhörnchenbeobachten zum Beispiel. Das empfinde ich als extrem schön und beruhigend.“
„Ja! Ich habe meine Tauben. Ganz normale Stadttauben unter einer Brücke, die alles vollkacken. Alle 14 Tage kommt ein Reinigungsteam von der Stadtreinigung und kärchert den Bürgersteig darunter. Voll lustig, eine eigene Ökonomie. Und ich gehe gerne ins Kino, aber nur im Originalton. Es ist eine Sünde den Schauspielern ihre Stimme zu nehmen, nur weil man zu faul ist, ein paar Untertitel zu lesen, finden sie nicht? Und der Kassierer im Supermarkt ist ein netter Vogel. Wenn ich einkaufen gehe, dann stelle ich mich in die Schlange zu seiner Kasse, auch wenn die anderen alle frei sind! Seine fröhliche Art versüßt mir den Tag. Im Übrigen lebt er auch bei mir um die Ecke und manchmal grüßen wir uns. Sie sehen, ich habe ein Leben.“

„Ich könnte mir vorstellen, daß sie noch an anderen Dingen Spaß haben könnten. Fertigkeiten erlernen oder neue Orte sehen.“

„Ach, wissen sie, ich bin schon sehr zufrieden so. Ich hatte alles, was ich mir wünschen konnte. Und jetzt erlebe ich sogar ein Wunder. Das mit den Kreuzworträtseln! Eigentlich müsste ich damit ins Fernsehen, damit die Menschen erfahren, daß ihre Liebsten nie ganz verschwinden.“

„Was würden sie davon halten, wenn sie zu mir mit nach Hause kommen und wir trinken einfach eine Tasse Tee. Oder Kaffee. Sind sie ein Tee oder ein Kaffee Mensch?“
„Ganz klar Tee! Und vielen Dank für ihre freundliche Einladung, jedoch habe ich keine Zeit. Ich habe einen Termin. Aber ich bin ihnen dankbar, daß sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen.“
„Könnten sie nicht nach dem Tee zu ihrem Termin? Nur ein Stündchen vielleicht? Ich könnte mir vorstellen, daß eine kleine Konversation auf gemütlichen Sesseln uns vielleicht zu neuen Ideen führt.“
„Leider kann ich nicht schieben. Es ist eine wichtige Sache und ich will nicht zu spät kommen! Sie können die Ordner behalten. Ist nur mit Bleistift ausgefüllt, sie können also alles ausradieren und selber rätseln.“

Klaus schaute noch eine ganze Weile aufs Meer hinaus. Mittlerweile war es dunkel und die Sterne und der Mond setzten helle Punkte ins Dunkle. Winzig anmutende Schiffe fuhren irgendwann unter der Brücke hindurch Richtung Horizont. Destination unknown.
Er nahm den Rucksack, ging nach Hause, während er immer wieder kurz stehen blieb und zurück schaute. Angekommen bereitete er einen Tee zu, legte ein paar Schokoladenkekse auf die Untertasse und setzte sich mit den Ordnern aufs Sofa. Seine Füße angelten ein paar Kissen, legten sich darauf ab und Klaus fing an zu rätseln. Es gab nichts auszuradieren.
 
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Hallo 8deer,

eine ungewöhnliche, sehr interessante Geschichte. Mir ist zwar nicht ganz klar, welche Funktion Klaus hat. Ist er ein Reporter, ein Interviewer? Ein Geheimagent? Jemand, der die Sprachkompetenz überprüfen will?

Durch die Dialoge wirkt die Geschichte sehr lebendig.

Das Einzige, was mich kolossal stört, ist das Wort „frug." Es muss „fragte" heißen.

Ich sehe es in Ihren Augen! Sie machen das hier öfters, oder?“, frug der Mann.


Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
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8deer

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Moin!

Sehr interessant, man lernt nie aus. Mir kam 'frug' immer unbedenklich vor und jetzt ist es eine Modeform aus dem 19. Jahrhundert. Diese Schlingel damals!

Grüße aus Hamburg

8deer
 



 
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