Vagant
Mitglied
Dezemberblues
Es gibt Tage an denen ich es schaffe an gar nichts zu denken. Nicht an Susanne, nicht an die Krankheit, nicht an das Hoffen und nicht an das Sterben. An gar nichts. Aber solche Tage sind selten, und die Abstände zwischen ihnen verdammt lang. Der Tag heute gehört zu den anderen Tagen. Heiligabend, mittags. Ich stehe am Fenster meiner kleinen Weinhandlung und versuche einen Blick nach draußen zu bekommen. Aber meine Augen finden keine Ruhe. Immer wieder fokussieren sie sich auf eine Fliege. Die Fliege hat mein Schaufenster zu ihrem Theater gemacht. Sie landet, streicht sie sich einmal über die Flügel, hebt wieder ab. In weniger als einer Sekunde landet sie an einer anderen Stelle. Sie tänzelt einige Trippelschritte nach vorn, zur Seite, richtet sich erneut die Flügel und alles beginnt von vorn. Dann findet mein Blick Halt in einer Pfütze. Ich sehe festes Schuhwerk, Beine, Taschen, Schirme. Ein Mann trägt einen Weihnachtsbaum. Ist Zeit zu schließen, denke ich mir, heut' kommt eh keiner mehr. Ich gehe nach hinten, überprüfe die Tür; ist zu. Ich drehe die Heizung ein bisschen runter und lösche die Lichter, falte noch einige Kartons zusammen, lege sie zu den anderen Papieren für den Müll und gehe wieder nach vorn. Mein Blick streift entlang der Regalfronten und bleibt bei den italienischen Roten hängen. Ich greife nach einen 'Lagrein Riserva', lass' ihn in die Manteltasche sinken und nehme noch zwei Gläser in die Linke. Dann gibt's nichts mehr zu tun. Ich greif nach Mantel und Mütze und trete ins Freie. Draußen nieselt es. Der nasskalte Dezember liegt bleiern auf dem Pflaster und kriecht mir unter den Mantel. Der Blick entlang der Fußgängerzone an solchen Tagen ist trostlos. Alles liegt blaugrau vor mir. Bürgersteig, Bänke, Papierkörbe; alles blaugrau. Und darüber; ein Himmel wie in Zinn gegossen. Tausend Herden dicker Elefanten, die mit dem Wind von West nach Ost ziehen. Ach, lass das Wetter in Ruhe, denke ich mir. Kennst dich eh nicht mit aus. Nachdem ich das Gitter vor die Tür geschoben habe schließe ich ab. Ich schlage den Kragen hoch, atme tief durch und schwenke nach rechts Richtung 'TABAC-KLIMMT'. Ilja steht im Eingang. Er will gerade schließen. Als er mich sieht hält er die Tür nochmal auf und tritt zur Seite.
„Komm rein. Hast Glück, bin eigentlich schon weg.“
„Dachte, vielleicht noch auf'n Roten“, sage ich, und ziehe die Flasche aus der Tasche.
„Warum nicht.“
Ich kenne Ilja seit ich vor fünfzehn Jahren die Weinhandlung übernommen habe. Er half damals noch seinem Vater im Geschäft. Zigaretten, Zeitungen, Lotto. Aber Ilja hatte größere Pläne. Als er den Laden übernommen hat, schmiss er die Zeitungen und das Lottogeschäft raus und machte von da an 'in Zigarren'. Lotto kann jeder, sagt er immer, aber die richtigen Zigarren besorgen, dafür braucht's 'n Näschen. Wir sind in den letzten Jahren Freunde geworden, besuchen uns gegenseitig im Laden und spielen an den langen Sommerabenden Boule im Schlosspark. Er nimmt mir die Flasche aus der Hand, schaut kurz auf Etikett und dann in meine Augen.
„Hast dich gar nicht mehr beim Boule sehen lassen“, sagt er. „Seit Susannes Tod kommst du kaum noch raus. Musst mehr unter die Leute.“
„Ich hatt 'nen Arsch voll Arbeit. Weißt ja, wie's ist. Ich musste oft zu den Winzern. 'kaufe ja direkt an der Mosel, und da musste dann schon mal vor Ort sein.“
Wir stehen immer noch im Nieselregen. Die klatschnasse Dezemberluft kriecht durch den dünnen Stoff meiner Hose. Meine rechte Hand umklammert fest den Mantelkragen. Ich friere.
„Du könntest mal 'n Schritt zu Seite gehen. Is' arschkalt hier draußen.“
Ilja tritt zur Seite und ich stehe nun endlich im Laden. Drinnen ist es warm. In den Regalen hängt der Geruch alten Rauches. Alles scheint in Halfzware Shage gebeizt. Aus dem Hintergrund klingt Musik; Tom Waits haucht sich gemächlich durch den Dezembernachmittag. Eins-a Werbestimme, denke ich.
„Hätt'st ja auch mal rüber kommen können“, sage ich. „Ist nur'n Katzensprung. Aber seit der Beerdigung hab' ich nichts mehr von dir gehört. Da war's Juni.“
Er blickt mir in die Augen und legt seine Hand auf meine Schulter. Seine Worte klingen, als wollen sie nicht aus ihm heraus.
„Wusste auch nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das braucht vielleicht 'n bisschen Zeit, dachte ich. Dann kam der Herbst, die viele Arbeit, und … “, er hält inne, scheint nach den Worten zu suchen, „... na ja, du weißt ja, wie's ist.“
Seine Hand ruht noch auf meiner Schulter. Er gibt mir einen schnellen Klaps, zieht die Hand weg, und beginnt nun die Lichter im vorderen Teil des Ladens zu löschen.
„Muss noch schnell hinten abschließen. Kannst dich ja mal um den Wein kümmern.“
„Haste irgendwo 'n Korkenzieher?“, frage ich.
„Im linken Schubfach. Da müsste einer sein.“
Ilja geht Richtung Lager und ich beginne hinter dem Tresen nach dem Korkenzieher zu suchen. Die linke Schublade macht eine unaufgeräumten Eindruck. Ich wühle mich durch ein paar Dinge. Feuerzeuge, 'n bisschen Kleingeld, Zigarrenschneider. Den Korkenzieher finde ich ganz hinten. Unter dem Korkenzieher bemerke ich einen Stapel Fotos. Nicht viele; vielleicht fünf oder sechs. Auf dem obersten erkenne ich Ilja, mit Jacke und Handschuh auf der Piazza San Marco stehend. Im Hintergrund den Dogenpalast mit dem Campanile. Sein Haar ist vom Wind zerzaust, die Ohren und Nase gerötet und er schlingt die Arme um den Körper um irgendwelchen Winden etwas entgegen zu setzten. Aber das Lächeln in seinem Gesicht sieht aus wie ein gestanzt. Sieht nach Winter aus, denke ich mir, und mir fallen aus dem Stegreif 'ne Menge anderer Monate ein, in denen ein Besuch Venedigs überhaupt Sinn macht. Aber Ilja scheint glücklich zu sein. Ich nehme den kleinen Stapel heraus und schaue mir das zweite Foto an. Wieder Ilja. Wieder steht er auf der Piazza, diesmal die Basilika im Hintergrund. Ich blättere zum nächsten Foto und schaue nun in ein vertrautes Gesicht. Ich schaue in das Gesicht von Susanne. Sie steht an der Stelle an der gerade noch Ilja stand. Das blau geblümte Tuch, welches sie während der zweiten Chemo trug, fest um den Kopf geschlungen. Um ihren Augen spritzen die kleinen Fältchen auseinander, und die schmale Oberlippe lässt den Blick auf ihre Zähne zu. Sie lacht. Sie lacht so, wie ich es all die Monate nicht bei ihr gesehen hatte. Ich versuche mich zu erinnern. Alles was mir einfällt ist, dass sie im vergangenen Winter noch einmal ihre Schwester besuchen wollte. Nur ein paar Tage, hat sie gesagt, vielleicht ein verlängertes Wochenende, und ich könne mich in der Zeit mal wieder ein bisschen ums Geschäft kümmern. Mehr fällt mir nicht ein.
Plötzlich stehe ich drei Schritte nördlich der Wahrheit - meiner Wahrheit. Ich versuche mich genauer zu erinnern. Ich versuche zu verstehen. Es gelingt mir nicht. Irgendwo in meinem Kopf macht sich Schmerz breit. Wandert kreuz und quer, verschwindet kurz und fängt dann wieder von vorne an. Ich suche Halt am Tresen, lege die Hände fest aufs Holz und versuche das fragile zu stützen. Dann lege ich die Fotos zurück und fummle am Stanniol der Flasche, finde keinen Anfang - doch jetzt – reiß das Papier ab; setze den Korkenzieher an, drehe nach rechts, nach jeder halben Umdrehung neu nach fassend, ziehe, höre das kehligen Ploppen des Korkens und gehe zum kleinen Rauchertisch. Das alle passiert mechanisch, wie trainiert. Ich fülle zwei Gläser und bin erleichtert mich setzen zu können. Tom Waits haucht sich durch die 'Virginia Ave'. Um den Tisch weht die pflaumige Wolke des 'Lagreins'.
„'denk mal“, sagt Ilja, als er wieder im Laden erscheint, „diese Imperials-Classico passen“, und hält mir zwei hellbraune Zigarren unter die Nase.
„Was muss ich über den Roten wissen?“, fragt er.
Ich habe nun keine Lust über Wein und Zigarren zu reden.
„Ein Lagrein-Riserva, aus der Nähe von Bozen. Achtzehn Monate in neuen Barriques ausgebaut, zwei Jahre Flaschenreifung“, sage ich.
„Barrickwas?“
„Barriques, sprich Eichenfässer. Um die 230 Liter. Die geben dem Wein die Aromen, mildern die Tannine. Ist 'ne heikle Angelegenheit einen Wein auf diese Art auszubauen. Kann nicht jeder, aber die können's.“
„Ooukaay“, und so breitschlägt wie er diese okay dehnt sitzt er mir nun gegenüber.
Er entpuppt die Zigarren, leckt an, heißt mit einem Kaminholz vor und entzündet sie. Ich versuche dem Ritual zu folgen und wir sitzen beide in einer Wolke aus Rauch, lehnen uns zurück und schweigen. Die cremige Milde der Zigarre vermischt sich mit der Pralle der Tannine auf meiner Zunge, und die Sinnlichkeit der Substanzen erweckt nun meinen Verstand und verschafft meinen Beinen endlich Raum sich wieder zu entspannen.
Nun will ich es wissen. Ich sehe ihn an, stoße eine lange Rauchfahne aus und frage: „Wie lange warst du mit Susanne zusammen?“,
„Wie meinsten das?“
„So wie ich's gesagt habe.“
„Scheiße. Hast du die Fotos gefunden? … du hast die Fotos gefunden.“
„War nicht g'rad schwer.“
„Hattest schon immer 'n Händchen fürs richtige Timing.“
„Seit wann? Oder willst du mir sagen, dass es nicht das ist, wo nach's aus sieht?“
„Wo nach sieht denn aus?“, fragt er, und seine Finger fummeln nervös am Zigarrenschneider.
Ich trinke eine Schluck. Irgendwo muss doch etwas sein, woran ich meinen Blick heften kann, denke ich. Wir schweigen einige Momente, aber kennen uns doch lang genug, dass es eigentlich kein peinliches Schweigen zwischen uns gibt. Und auch diese Schweigen war mehr Notwendigkeit als Peinlichkeit.
„Hattest du was mit Susanne?“, frage ich.
„Das kann man nicht so leicht beantworten.“
„Ist doch 'nie einfache Frage. Wart ihr als Paar in Venedig?“
„Du und Susanne, ihr wart 'n Paar. Schon vergessen?“
„Schon vergessen? Hast du sie nicht mehr alle? Wir waren fünfzehn Jahre verheiratet. Davon mehr als dreizehn ohne den Krebs. Ich weiß nicht, was ich daran vergessen haben sollte.“
Ilja beugt sich nach vorn, schenkt uns Wein nach, atmet tief aus und sagt leise: „'s war nicht lange, vielleicht zehn oder zwölf Wochen, und 's ging auch nicht von mir aus. Ich hab da nichts forciert. Musste mir glauben. Kam halt so. Ich glaub, Susanne hatte so eine Art Torschlusspanik.“
„Torschlusspanik? Sie hatte Angst vorm Sterben“, sage ich. „Der Tod ist 'n Arschloch, hat sie immer gesagt. Und geweint hat sie, und wütend war sie.“
„Ich weiß.“
„'n Scheiß weißt du“, zische ich. „Aber kannst es mir so erklären, dass Ichsucht verstehen kann.“
„Wie denn? Wie soll man so was erklären?“
„'könntest ja versuchen.“
„Ich weiß, dass du dich über die ganze Zeit, die Zeit der Krankheit, bemüht hast ...“
„Bemüht?“, platzt es aus mir heraus.
„Lass mich, gib mir 'nie Minute.“ Ilja ist anzusehen, dass er nach den Worten sucht.
„An manchen Tagen, in denen du dich tief in deine Arbeit verbummelt hast, war Susanne bei mir im Laden. Mal zum rauchen, mal einfach so zum quatschen, und manchmal saß sie nur so hier und hat das Treiben beobachtet.“
„Davon hat sie mir nie was erzählt.“
„Warum auch.“
„Warum nicht?“
„Weil's da nichts zu erzählen gab.“
„Sieht auf den Fotos aber anders aus.“
„Anfangs haben wir uns nur so unterhalten. Über dieses und jenes. Mal über sie, mal über den Krebs, mal über dich.“
Ich trinke einen Schluck, ziehe an der Zigarre und mein Blick streift unruhig durch die Regale. Willst du das jetzt so genau wissen, frage ich mich. Nein, denn ich kenne die Antworten. Heute kenne ich die Antworten. Aber damals? Pläne? Träume? Die Suche nach Glück? Fragen die wir in unserem letzten Jahr mühsam umschifft haben. Zu denen uns am Ende wohl die Kraft fehlte.
„Smalltalk halt“, spricht Ilja weiter. „Aber du kennst mich ja, und du kennst deine Frau. Smalltalk war nie ihr Business. Wir kamen dann schnell an den Punkt, an dem man tiefer schürft. Sie saß dann hier, trank 'ne Latte, drehte sich 'n paar Kippen und sprach über all das, was ihr so in den Sinn kam. Bei dir, sagte sie, hatte sie so das Gefühl, dass du versuchst sie aus allem raus zu halten, sie aus der Schusslinie nimmst.“
Ich höre zu, aber es fällt mir schwer ihm zu folgen. Da ich nichts sage redet er weiter.
„Hast du dich jemals gefragt, ob's ihr so recht war? Sie war keine, die einfach so den Arsch eingezogen hat. Sie wollte immer alles. Alles zugleich und immer mittendrin. Alles riechen, alles schmecken, alles fühlen. Ich denke, das war ihr am Ende einfach zu wenig. Hast dann ja auch nicht mehr mit ihr geschlafen. Auch das wollte sie so nicht akzeptieren.“
„Ficken. Ging's dir nur ums ficken?“
„Du enttäuscht mich.“
„Scheiß auf Enttäuschung“, zische ich. „Du bist 'n selbstgerechtes Arschloch.“
Wir sitzen im Rauch der 'Imperial-Classico', trinken Wein und schauen uns schweigend an. Tom Waits hankwilliamst sich durch 'Ponchos Lament', und draußen in der Stadt bereite man sich auf die Festtage vor. Was willste noch hier, schießt es mir durch den Kopf. Hau ab, hau bloß schnell ab!
Ilja zieht an seiner Zigarre und schaut dem aufsteigenden Rauch hinterher und sagt: „Vielleicht fragst du dich nun, ob du Susanne glücklich gemacht hast, ob's das Leben war, welches ihr leben wolltet, oder ob man's nicht hätte anders machen sollen. Und wenn's so ist, kann ich nur sagen, dass es nicht an dir gelegen hat. Denke, du hast da alles richtig gemacht.“
„Richtig? Wie soll man wissen, was an solch einem Punkt richtig ist?“
„... mh.“
„Wenn ich's hätte richtig machen wollen, hätte ich den Laden schließen müssen.“
„Unsinn.“
„Doch, hätt' ich müssen.“
„Und wem wäre damit geholfen?“
„Ich hätt' mehr Zeit für Susanne gehabt.“
„Meinst du, dass hätte einem von euch beiden etwas genützt? Susanne war froh darüber, dass es für dich auch noch 'ne Normalität nebenbei gegeben hat.“
„Hätten's uns wirtschaftlich auch nicht leisten können, die Bude zu schließen. Am Ende war ich dankbar für jede kleine Reise die ich machen musste. Dass ich mal raus kam, mal weg von all dem Kummer.“
„Ich hab mich ja oft gefragt, wie du mit all dem zurecht kommst“, sagt Ilja.
„Du hättest mich fragen können. Jederzeit.“
„Die Fragen hat mir Susanne beantwortet. Ich hab' in den paar Wochen mehr über euch erfahren, als du mir in all den Jahren erzählt hast.“
Er macht eine Pause, trinkt ein Schluck Wein und zieht an der Zigarre. Wir sitzen, ruhig und ohne etwas zu sagen, in unseren Stühlen und schauen dem Rauch nach. Ich möchte nun einfach aufstehen und gehen, finde aber nicht die Kraft dazu.
„Und auch wenn die Aussichten scheiße waren“, fährt er fort, „für Susanne war eben nicht schon alles aus und vorbei. Denke, sie wollte's alles noch mal spüren. Venedig, den Winter, vielleicht auch 'n bisschen Sex, alles halt.“
Ilja klopft die Asche von seiner Zigarre, trinkt sein Glas aus, und ich schenke uns den Rest der Flasche ein. Schweigend sitzen wir uns gegenüber und schauen in die rubinrote Neige in unseren Gläsern.
„Früher waren wir oft in Italien“, sage ich mehr zu mir selbst. „Sie fühlte sich dort immer sehr wohl. War wohl so'n Spleen von ihr. Die ganze Kultur, das Essen, das Unaufgeräumte. Aber warum ausgerechnet Venedig, diese Drecksnest? Hätt' ja mal was sagen können..., ja, warum hat sie nie was gesagt?“
„Sie wusste, dass du schon genug an der Backe hast und wollte dir nicht auch noch damit zur Last fallen.“
„Last? Nee, falsche Wort. 's hat nichts mit den Dingen zu tun, die einem lästig werden. Eher 'ne Ladung. Etwas was du auf buckelst und die Strecke trägst die's halt braucht. Nach der ersten Chemo hatten wir die Hoffnung, den Scheiß endlich durch zu haben. Dann kam der zweite Befund. Die Ärzte haben ihr keine Hoffnung mehr machen können. Ich glaub', an dem Punkt hatten wir wohl aufgegeben.“
„Jeder hätte da aufgegeben“, sagt Ilja und legt seine Zigarre in den Aschenbecher, nimmt sein Glas und hält es gegen das Licht.
„Mensch, die ganzen Jahre die ihr hattet“, sagt er, „du warst doch so'n Riesen Glückspilz.“
Ich spüre, dass ich nun hier raus muss. Ich lege die Zigarre ab. Die Neige Wein lass' ich stehen und gehe zur Tür. Ich dreh mich noch einmal zu Ilja. Er starrt durch sein Glas, als suche er dort etwas. Als ich die Tür hinter mir schließe, höre ich noch ein „trotzdem, Frohes Fest“ aus dem Laden. Aber es dringt nicht mehr bis zu mir. Ich stehe nun wieder im Dezemberniesel, schlage den Mantelkragen hoch und gehe. Die frühe Dämmerung frisst sich westwärts durch die Stadt. Die Boutiquen haben ihre Festtagesbeleuchtung gedimmt und am Markt beginnen die Händler ihre Buden zu vernageln. Bahnsteigstimmung. Ich schwenke hinter dem Markt nach links in die Steinheimer. Die Gassen um mich herum liegen nun still im Dunkel, und der Asphalt wird nur hier und da vom Schein der Weihnachtsbäume erhellt. Ich bin nun mit meinen Gedanken allein, und höre mich leise sagen: „ja verdammt, was warst du doch für'n Riesen Glückspilz.“
Es gibt Tage an denen ich es schaffe an gar nichts zu denken. Nicht an Susanne, nicht an die Krankheit, nicht an das Hoffen und nicht an das Sterben. An gar nichts. Aber solche Tage sind selten, und die Abstände zwischen ihnen verdammt lang. Der Tag heute gehört zu den anderen Tagen. Heiligabend, mittags. Ich stehe am Fenster meiner kleinen Weinhandlung und versuche einen Blick nach draußen zu bekommen. Aber meine Augen finden keine Ruhe. Immer wieder fokussieren sie sich auf eine Fliege. Die Fliege hat mein Schaufenster zu ihrem Theater gemacht. Sie landet, streicht sie sich einmal über die Flügel, hebt wieder ab. In weniger als einer Sekunde landet sie an einer anderen Stelle. Sie tänzelt einige Trippelschritte nach vorn, zur Seite, richtet sich erneut die Flügel und alles beginnt von vorn. Dann findet mein Blick Halt in einer Pfütze. Ich sehe festes Schuhwerk, Beine, Taschen, Schirme. Ein Mann trägt einen Weihnachtsbaum. Ist Zeit zu schließen, denke ich mir, heut' kommt eh keiner mehr. Ich gehe nach hinten, überprüfe die Tür; ist zu. Ich drehe die Heizung ein bisschen runter und lösche die Lichter, falte noch einige Kartons zusammen, lege sie zu den anderen Papieren für den Müll und gehe wieder nach vorn. Mein Blick streift entlang der Regalfronten und bleibt bei den italienischen Roten hängen. Ich greife nach einen 'Lagrein Riserva', lass' ihn in die Manteltasche sinken und nehme noch zwei Gläser in die Linke. Dann gibt's nichts mehr zu tun. Ich greif nach Mantel und Mütze und trete ins Freie. Draußen nieselt es. Der nasskalte Dezember liegt bleiern auf dem Pflaster und kriecht mir unter den Mantel. Der Blick entlang der Fußgängerzone an solchen Tagen ist trostlos. Alles liegt blaugrau vor mir. Bürgersteig, Bänke, Papierkörbe; alles blaugrau. Und darüber; ein Himmel wie in Zinn gegossen. Tausend Herden dicker Elefanten, die mit dem Wind von West nach Ost ziehen. Ach, lass das Wetter in Ruhe, denke ich mir. Kennst dich eh nicht mit aus. Nachdem ich das Gitter vor die Tür geschoben habe schließe ich ab. Ich schlage den Kragen hoch, atme tief durch und schwenke nach rechts Richtung 'TABAC-KLIMMT'. Ilja steht im Eingang. Er will gerade schließen. Als er mich sieht hält er die Tür nochmal auf und tritt zur Seite.
„Komm rein. Hast Glück, bin eigentlich schon weg.“
„Dachte, vielleicht noch auf'n Roten“, sage ich, und ziehe die Flasche aus der Tasche.
„Warum nicht.“
Ich kenne Ilja seit ich vor fünfzehn Jahren die Weinhandlung übernommen habe. Er half damals noch seinem Vater im Geschäft. Zigaretten, Zeitungen, Lotto. Aber Ilja hatte größere Pläne. Als er den Laden übernommen hat, schmiss er die Zeitungen und das Lottogeschäft raus und machte von da an 'in Zigarren'. Lotto kann jeder, sagt er immer, aber die richtigen Zigarren besorgen, dafür braucht's 'n Näschen. Wir sind in den letzten Jahren Freunde geworden, besuchen uns gegenseitig im Laden und spielen an den langen Sommerabenden Boule im Schlosspark. Er nimmt mir die Flasche aus der Hand, schaut kurz auf Etikett und dann in meine Augen.
„Hast dich gar nicht mehr beim Boule sehen lassen“, sagt er. „Seit Susannes Tod kommst du kaum noch raus. Musst mehr unter die Leute.“
„Ich hatt 'nen Arsch voll Arbeit. Weißt ja, wie's ist. Ich musste oft zu den Winzern. 'kaufe ja direkt an der Mosel, und da musste dann schon mal vor Ort sein.“
Wir stehen immer noch im Nieselregen. Die klatschnasse Dezemberluft kriecht durch den dünnen Stoff meiner Hose. Meine rechte Hand umklammert fest den Mantelkragen. Ich friere.
„Du könntest mal 'n Schritt zu Seite gehen. Is' arschkalt hier draußen.“
Ilja tritt zur Seite und ich stehe nun endlich im Laden. Drinnen ist es warm. In den Regalen hängt der Geruch alten Rauches. Alles scheint in Halfzware Shage gebeizt. Aus dem Hintergrund klingt Musik; Tom Waits haucht sich gemächlich durch den Dezembernachmittag. Eins-a Werbestimme, denke ich.
„Hätt'st ja auch mal rüber kommen können“, sage ich. „Ist nur'n Katzensprung. Aber seit der Beerdigung hab' ich nichts mehr von dir gehört. Da war's Juni.“
Er blickt mir in die Augen und legt seine Hand auf meine Schulter. Seine Worte klingen, als wollen sie nicht aus ihm heraus.
„Wusste auch nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das braucht vielleicht 'n bisschen Zeit, dachte ich. Dann kam der Herbst, die viele Arbeit, und … “, er hält inne, scheint nach den Worten zu suchen, „... na ja, du weißt ja, wie's ist.“
Seine Hand ruht noch auf meiner Schulter. Er gibt mir einen schnellen Klaps, zieht die Hand weg, und beginnt nun die Lichter im vorderen Teil des Ladens zu löschen.
„Muss noch schnell hinten abschließen. Kannst dich ja mal um den Wein kümmern.“
„Haste irgendwo 'n Korkenzieher?“, frage ich.
„Im linken Schubfach. Da müsste einer sein.“
Ilja geht Richtung Lager und ich beginne hinter dem Tresen nach dem Korkenzieher zu suchen. Die linke Schublade macht eine unaufgeräumten Eindruck. Ich wühle mich durch ein paar Dinge. Feuerzeuge, 'n bisschen Kleingeld, Zigarrenschneider. Den Korkenzieher finde ich ganz hinten. Unter dem Korkenzieher bemerke ich einen Stapel Fotos. Nicht viele; vielleicht fünf oder sechs. Auf dem obersten erkenne ich Ilja, mit Jacke und Handschuh auf der Piazza San Marco stehend. Im Hintergrund den Dogenpalast mit dem Campanile. Sein Haar ist vom Wind zerzaust, die Ohren und Nase gerötet und er schlingt die Arme um den Körper um irgendwelchen Winden etwas entgegen zu setzten. Aber das Lächeln in seinem Gesicht sieht aus wie ein gestanzt. Sieht nach Winter aus, denke ich mir, und mir fallen aus dem Stegreif 'ne Menge anderer Monate ein, in denen ein Besuch Venedigs überhaupt Sinn macht. Aber Ilja scheint glücklich zu sein. Ich nehme den kleinen Stapel heraus und schaue mir das zweite Foto an. Wieder Ilja. Wieder steht er auf der Piazza, diesmal die Basilika im Hintergrund. Ich blättere zum nächsten Foto und schaue nun in ein vertrautes Gesicht. Ich schaue in das Gesicht von Susanne. Sie steht an der Stelle an der gerade noch Ilja stand. Das blau geblümte Tuch, welches sie während der zweiten Chemo trug, fest um den Kopf geschlungen. Um ihren Augen spritzen die kleinen Fältchen auseinander, und die schmale Oberlippe lässt den Blick auf ihre Zähne zu. Sie lacht. Sie lacht so, wie ich es all die Monate nicht bei ihr gesehen hatte. Ich versuche mich zu erinnern. Alles was mir einfällt ist, dass sie im vergangenen Winter noch einmal ihre Schwester besuchen wollte. Nur ein paar Tage, hat sie gesagt, vielleicht ein verlängertes Wochenende, und ich könne mich in der Zeit mal wieder ein bisschen ums Geschäft kümmern. Mehr fällt mir nicht ein.
Plötzlich stehe ich drei Schritte nördlich der Wahrheit - meiner Wahrheit. Ich versuche mich genauer zu erinnern. Ich versuche zu verstehen. Es gelingt mir nicht. Irgendwo in meinem Kopf macht sich Schmerz breit. Wandert kreuz und quer, verschwindet kurz und fängt dann wieder von vorne an. Ich suche Halt am Tresen, lege die Hände fest aufs Holz und versuche das fragile zu stützen. Dann lege ich die Fotos zurück und fummle am Stanniol der Flasche, finde keinen Anfang - doch jetzt – reiß das Papier ab; setze den Korkenzieher an, drehe nach rechts, nach jeder halben Umdrehung neu nach fassend, ziehe, höre das kehligen Ploppen des Korkens und gehe zum kleinen Rauchertisch. Das alle passiert mechanisch, wie trainiert. Ich fülle zwei Gläser und bin erleichtert mich setzen zu können. Tom Waits haucht sich durch die 'Virginia Ave'. Um den Tisch weht die pflaumige Wolke des 'Lagreins'.
„'denk mal“, sagt Ilja, als er wieder im Laden erscheint, „diese Imperials-Classico passen“, und hält mir zwei hellbraune Zigarren unter die Nase.
„Was muss ich über den Roten wissen?“, fragt er.
Ich habe nun keine Lust über Wein und Zigarren zu reden.
„Ein Lagrein-Riserva, aus der Nähe von Bozen. Achtzehn Monate in neuen Barriques ausgebaut, zwei Jahre Flaschenreifung“, sage ich.
„Barrickwas?“
„Barriques, sprich Eichenfässer. Um die 230 Liter. Die geben dem Wein die Aromen, mildern die Tannine. Ist 'ne heikle Angelegenheit einen Wein auf diese Art auszubauen. Kann nicht jeder, aber die können's.“
„Ooukaay“, und so breitschlägt wie er diese okay dehnt sitzt er mir nun gegenüber.
Er entpuppt die Zigarren, leckt an, heißt mit einem Kaminholz vor und entzündet sie. Ich versuche dem Ritual zu folgen und wir sitzen beide in einer Wolke aus Rauch, lehnen uns zurück und schweigen. Die cremige Milde der Zigarre vermischt sich mit der Pralle der Tannine auf meiner Zunge, und die Sinnlichkeit der Substanzen erweckt nun meinen Verstand und verschafft meinen Beinen endlich Raum sich wieder zu entspannen.
Nun will ich es wissen. Ich sehe ihn an, stoße eine lange Rauchfahne aus und frage: „Wie lange warst du mit Susanne zusammen?“,
„Wie meinsten das?“
„So wie ich's gesagt habe.“
„Scheiße. Hast du die Fotos gefunden? … du hast die Fotos gefunden.“
„War nicht g'rad schwer.“
„Hattest schon immer 'n Händchen fürs richtige Timing.“
„Seit wann? Oder willst du mir sagen, dass es nicht das ist, wo nach's aus sieht?“
„Wo nach sieht denn aus?“, fragt er, und seine Finger fummeln nervös am Zigarrenschneider.
Ich trinke eine Schluck. Irgendwo muss doch etwas sein, woran ich meinen Blick heften kann, denke ich. Wir schweigen einige Momente, aber kennen uns doch lang genug, dass es eigentlich kein peinliches Schweigen zwischen uns gibt. Und auch diese Schweigen war mehr Notwendigkeit als Peinlichkeit.
„Hattest du was mit Susanne?“, frage ich.
„Das kann man nicht so leicht beantworten.“
„Ist doch 'nie einfache Frage. Wart ihr als Paar in Venedig?“
„Du und Susanne, ihr wart 'n Paar. Schon vergessen?“
„Schon vergessen? Hast du sie nicht mehr alle? Wir waren fünfzehn Jahre verheiratet. Davon mehr als dreizehn ohne den Krebs. Ich weiß nicht, was ich daran vergessen haben sollte.“
Ilja beugt sich nach vorn, schenkt uns Wein nach, atmet tief aus und sagt leise: „'s war nicht lange, vielleicht zehn oder zwölf Wochen, und 's ging auch nicht von mir aus. Ich hab da nichts forciert. Musste mir glauben. Kam halt so. Ich glaub, Susanne hatte so eine Art Torschlusspanik.“
„Torschlusspanik? Sie hatte Angst vorm Sterben“, sage ich. „Der Tod ist 'n Arschloch, hat sie immer gesagt. Und geweint hat sie, und wütend war sie.“
„Ich weiß.“
„'n Scheiß weißt du“, zische ich. „Aber kannst es mir so erklären, dass Ichsucht verstehen kann.“
„Wie denn? Wie soll man so was erklären?“
„'könntest ja versuchen.“
„Ich weiß, dass du dich über die ganze Zeit, die Zeit der Krankheit, bemüht hast ...“
„Bemüht?“, platzt es aus mir heraus.
„Lass mich, gib mir 'nie Minute.“ Ilja ist anzusehen, dass er nach den Worten sucht.
„An manchen Tagen, in denen du dich tief in deine Arbeit verbummelt hast, war Susanne bei mir im Laden. Mal zum rauchen, mal einfach so zum quatschen, und manchmal saß sie nur so hier und hat das Treiben beobachtet.“
„Davon hat sie mir nie was erzählt.“
„Warum auch.“
„Warum nicht?“
„Weil's da nichts zu erzählen gab.“
„Sieht auf den Fotos aber anders aus.“
„Anfangs haben wir uns nur so unterhalten. Über dieses und jenes. Mal über sie, mal über den Krebs, mal über dich.“
Ich trinke einen Schluck, ziehe an der Zigarre und mein Blick streift unruhig durch die Regale. Willst du das jetzt so genau wissen, frage ich mich. Nein, denn ich kenne die Antworten. Heute kenne ich die Antworten. Aber damals? Pläne? Träume? Die Suche nach Glück? Fragen die wir in unserem letzten Jahr mühsam umschifft haben. Zu denen uns am Ende wohl die Kraft fehlte.
„Smalltalk halt“, spricht Ilja weiter. „Aber du kennst mich ja, und du kennst deine Frau. Smalltalk war nie ihr Business. Wir kamen dann schnell an den Punkt, an dem man tiefer schürft. Sie saß dann hier, trank 'ne Latte, drehte sich 'n paar Kippen und sprach über all das, was ihr so in den Sinn kam. Bei dir, sagte sie, hatte sie so das Gefühl, dass du versuchst sie aus allem raus zu halten, sie aus der Schusslinie nimmst.“
Ich höre zu, aber es fällt mir schwer ihm zu folgen. Da ich nichts sage redet er weiter.
„Hast du dich jemals gefragt, ob's ihr so recht war? Sie war keine, die einfach so den Arsch eingezogen hat. Sie wollte immer alles. Alles zugleich und immer mittendrin. Alles riechen, alles schmecken, alles fühlen. Ich denke, das war ihr am Ende einfach zu wenig. Hast dann ja auch nicht mehr mit ihr geschlafen. Auch das wollte sie so nicht akzeptieren.“
„Ficken. Ging's dir nur ums ficken?“
„Du enttäuscht mich.“
„Scheiß auf Enttäuschung“, zische ich. „Du bist 'n selbstgerechtes Arschloch.“
Wir sitzen im Rauch der 'Imperial-Classico', trinken Wein und schauen uns schweigend an. Tom Waits hankwilliamst sich durch 'Ponchos Lament', und draußen in der Stadt bereite man sich auf die Festtage vor. Was willste noch hier, schießt es mir durch den Kopf. Hau ab, hau bloß schnell ab!
Ilja zieht an seiner Zigarre und schaut dem aufsteigenden Rauch hinterher und sagt: „Vielleicht fragst du dich nun, ob du Susanne glücklich gemacht hast, ob's das Leben war, welches ihr leben wolltet, oder ob man's nicht hätte anders machen sollen. Und wenn's so ist, kann ich nur sagen, dass es nicht an dir gelegen hat. Denke, du hast da alles richtig gemacht.“
„Richtig? Wie soll man wissen, was an solch einem Punkt richtig ist?“
„... mh.“
„Wenn ich's hätte richtig machen wollen, hätte ich den Laden schließen müssen.“
„Unsinn.“
„Doch, hätt' ich müssen.“
„Und wem wäre damit geholfen?“
„Ich hätt' mehr Zeit für Susanne gehabt.“
„Meinst du, dass hätte einem von euch beiden etwas genützt? Susanne war froh darüber, dass es für dich auch noch 'ne Normalität nebenbei gegeben hat.“
„Hätten's uns wirtschaftlich auch nicht leisten können, die Bude zu schließen. Am Ende war ich dankbar für jede kleine Reise die ich machen musste. Dass ich mal raus kam, mal weg von all dem Kummer.“
„Ich hab mich ja oft gefragt, wie du mit all dem zurecht kommst“, sagt Ilja.
„Du hättest mich fragen können. Jederzeit.“
„Die Fragen hat mir Susanne beantwortet. Ich hab' in den paar Wochen mehr über euch erfahren, als du mir in all den Jahren erzählt hast.“
Er macht eine Pause, trinkt ein Schluck Wein und zieht an der Zigarre. Wir sitzen, ruhig und ohne etwas zu sagen, in unseren Stühlen und schauen dem Rauch nach. Ich möchte nun einfach aufstehen und gehen, finde aber nicht die Kraft dazu.
„Und auch wenn die Aussichten scheiße waren“, fährt er fort, „für Susanne war eben nicht schon alles aus und vorbei. Denke, sie wollte's alles noch mal spüren. Venedig, den Winter, vielleicht auch 'n bisschen Sex, alles halt.“
Ilja klopft die Asche von seiner Zigarre, trinkt sein Glas aus, und ich schenke uns den Rest der Flasche ein. Schweigend sitzen wir uns gegenüber und schauen in die rubinrote Neige in unseren Gläsern.
„Früher waren wir oft in Italien“, sage ich mehr zu mir selbst. „Sie fühlte sich dort immer sehr wohl. War wohl so'n Spleen von ihr. Die ganze Kultur, das Essen, das Unaufgeräumte. Aber warum ausgerechnet Venedig, diese Drecksnest? Hätt' ja mal was sagen können..., ja, warum hat sie nie was gesagt?“
„Sie wusste, dass du schon genug an der Backe hast und wollte dir nicht auch noch damit zur Last fallen.“
„Last? Nee, falsche Wort. 's hat nichts mit den Dingen zu tun, die einem lästig werden. Eher 'ne Ladung. Etwas was du auf buckelst und die Strecke trägst die's halt braucht. Nach der ersten Chemo hatten wir die Hoffnung, den Scheiß endlich durch zu haben. Dann kam der zweite Befund. Die Ärzte haben ihr keine Hoffnung mehr machen können. Ich glaub', an dem Punkt hatten wir wohl aufgegeben.“
„Jeder hätte da aufgegeben“, sagt Ilja und legt seine Zigarre in den Aschenbecher, nimmt sein Glas und hält es gegen das Licht.
„Mensch, die ganzen Jahre die ihr hattet“, sagt er, „du warst doch so'n Riesen Glückspilz.“
Ich spüre, dass ich nun hier raus muss. Ich lege die Zigarre ab. Die Neige Wein lass' ich stehen und gehe zur Tür. Ich dreh mich noch einmal zu Ilja. Er starrt durch sein Glas, als suche er dort etwas. Als ich die Tür hinter mir schließe, höre ich noch ein „trotzdem, Frohes Fest“ aus dem Laden. Aber es dringt nicht mehr bis zu mir. Ich stehe nun wieder im Dezemberniesel, schlage den Mantelkragen hoch und gehe. Die frühe Dämmerung frisst sich westwärts durch die Stadt. Die Boutiquen haben ihre Festtagesbeleuchtung gedimmt und am Markt beginnen die Händler ihre Buden zu vernageln. Bahnsteigstimmung. Ich schwenke hinter dem Markt nach links in die Steinheimer. Die Gassen um mich herum liegen nun still im Dunkel, und der Asphalt wird nur hier und da vom Schein der Weihnachtsbäume erhellt. Ich bin nun mit meinen Gedanken allein, und höre mich leise sagen: „ja verdammt, was warst du doch für'n Riesen Glückspilz.“