Diagnostischer Scharfblick

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Das ist eine kleine Anekdote, der Überlieferung wert.

Meine Mutter erinnert sich: Als ich Schulkind war, brachte mich deine Oma mal zum Augenarzt. Sie putzte mich vorher gehörig heraus und zog mir mein schönstes Stück an, den neuen Sonntagsmantel. Ich durfte ihn nicht ablegen, sie führte mich voller Stolz so ins Sprechzimmer und zupfte dann noch ausführlich an ihm herum. Und der Arzt sagte als Erstes: „Wem fehlt denn was, dem Kind oder dem Mantel?“ Ich kann dir sagen, Oma war vielleicht wütend …

… auf den Augenarzt Karl Schneider (geb. 1869), der lange in Neunkirchen / Saar praktizierte. Schlagfertiger Witz fehlte auch in seiner ärztlichen Korrespondenz nicht. Das „Heil Hitler“ parierte er einmal so: „Ich bin zwar kein Nervenarzt und kann deshalb euren Hitler nicht ‚heilen‘. Ich bin Augenarzt und steche den Star.“

Der Pazifist Karl Schneider starb 1940 im KZ Dachau. Gedenken wir seiner.
 
Um Gottes willen, Onivido, nur keine aktuellen Assoziationen. Die fürchtet unsereiner wie der Teufel das Weihwasser. Die Anekdote ist nicht erfunden, sondern mir tatsächlich einmal von meiner Mutter berichtet worden. Sie kam mir, warum nur, neulich in den Sinn und dann habe ich recherchiert und das andere Schneider-Zitat bei Wikipedia gefunden. Es zeugt vom gleichen kritischen Geist. Mir lag daran, dass der Ausspruch gegenüber meiner Großmutter einfach mal festgehalten wird. - Danke für die sehr günstige Bewertung.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Ich finde dieses Gedenken um so wichtiger, als er keine wohlfeile Haltung pflegte als es nichts kostete ... die Lehre aus Deiner Anekdote ist doch, dass die Meinungsfreiheit ein zu hohes Gut ist, das auch schon mal mit dem Leben bezahlt werden musste, als dass man sich leichtfertig darüber hinweg setzen und kritische Stimmen mundtot machen sollte. Sag mir wo die Blumen sind ...
 
Petra, ich vermute, dass sich in diesen Äußerungen neben politisch-sozialem Bewusstsein auch die persönliche Eigenart des Arztes äußerte, etwas leicht Galliges, Satirisches. Eben das hat mich auf die Person neugierig gemacht. Auch das Alter mag eine Rolle gespielt haben, er war ja schon 70 zum Zeitpunkt des Wikipedia-Zitats. Damals 1934 lebte er noch außerhalb des Zugriffs der Diktatur (Saargebiet erst 1935 nach Volksabstimmung wieder beim Reich) und hoffte wohl, dass das so bliebe. Er war in der ganzen Zwischenkriegszeit politisch aktiv, zuerst in der USPD, zog sich dann aus der Parteipolitik zurück, da ihm die Vereinigung mit der KPD nicht passte; war dann sehr aktiv in der Friedensbewegung der Weimarer Zeit. - Ich kann das Datum der von meiner Mutter berichteten Anekdote nicht mehr ermitteln, sie war 1924 geboren. Die Konsultation könnte zwischen 1932 und 1936 gewesen sein.

Freundliche Grüße
Arno
 



 
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