Diaspora

AS Spin

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Man kann von der Nacht halten, was man will. Für mich ist sie die schönste Zeit des Tages. Nur nachts fühle ich mich relativ sicher. Natürlich muss ich trotzdem auf der Hut sein. Man kann niemals ganz abschalten, man kann niemals ganz ausschließen, dass man beobachtet wird. Die meisten stellen sich nachts ab, obwohl das für sie überhaupt keinen Sinn macht, aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Und natürlich muss ich leise sein, ungewöhnliche akustische Aktivitäten werden durchaus auch im Stand-by-Modus registriert.

Trotzdem tut es gut, nach Hause zu kommen, sich zu schütteln, sich durch die angetatschten Haare zu fahren, die sich kaum von der Kopfhaut lösen wollen, und sich mit geöffnetem Hosenknopf in die Küche zu hocken und ein gekühltes Dosenbier in sich hineinzuschütten. Es schmeckt nach nichts, wie immer, aber das ist mir egal. In der Hektik geht auch ziemlich viel daneben, es rinnt mir den Unterkiefer hinunter und tropft auf den Boden. Aber egal. Einfach tief durchatmen, die ständige Anspannung des Tages hinter sich lassen, sich wieder ein bisschen wie ein Mensch zu fühlen und zu essen, endlich etwas zu essen. Sardinen aus der Büchse mit altem Knäckebrot, bröckeligen Knäckebrot, das sich auf dem Boden mit der Bierlache vermischt, aber immerhin.

Ist die Nacht die entspannte Zeit des Tages, so ist der Morgen die anstrengende. Ja, ich weiß, das war zwar schon immer so, hat sich aber unter diesen neuen Verhältnissen enorm gesteigert. Bevor ich das Haus verlassen kann, gilt es ein penibles Programm auszuführen. Zuerst wird die Kleidung akkurat gebügelt, danach reibe ich meinen gesamten Körper mit Pferdesalbe ein, das gibt der Haut so einen samtigen Teint. Dann erfolgt die tägliche Ganzkörperrasur. Die schwerste Aufgabe ist es, das Haupthaar zu bändigen. Jedes Anzeichen von unkontrolliertem Wuchs, jedes abstehende Haar kann verräterisch sein. Der Haarwachs, den ich benutze, hat die Konsistenz von Maschinenöl, hält aber zuverlässig einen Arbeitstag lang durch.

Wie jeden Abend sehne ich mich nach einer Dusche, aber daran ist natürlich nicht zu denken. Normalerweise rubbele ich mich mit einem Waschlappen ab, aber an diesem Abend muss auch das noch warten. Der Kühlschrank ist leer. Dieses Bier war mein letztes. Ich muss noch einmal los. Morgen Abend würde mir ohne Stärkung die Kraft dazu fehlen.

Wie auf Knopfdruck schüttele ich die Müdigkeit aus meinen Gliedern, richte mein Haupthaar, streiche meine Jacke glatt und trete aus der Wohnung. Die akkuraten Bewegungen der Anderen zu imitieren ist mir schon längst in Fleisch und Blut übergegangen, die Kunst ist, diesen mechanischen Schritt durchzuhalten und jede unnötige Gestik zu vermeiden.

Es ist kurz nach 22 Uhr. Um diese Zeit sind die Straßen wie leergefegt. Fast jeder hockt zu Hause im Dunklen und spart Strom. Fast jeder. Auch an diesem Abend habe ich zwei kurze Begegnungen, die aber wie immer glimpflich verlaufen. Ich kann es mir auch nicht erklären, warum ich noch nicht aufgeflogen bin. Bin ich wirklich so gut, oder sind die anderen so unaufmerksam? Ganz wichtig ist es auf jeden Fall selbstbewusst aufzutreten und nicht an den Häuserwänden entlang geduckt von einer dunklen Ecke zur nächsten zu huschen. Damit macht man sich nur verdächtig. Nein, frohen Mutes in der Mitte des Bürgersteiges seinen Weg gehen, als wäre es das Normalste von der Welt.

Ohne weitere Vorkommnisse erreiche ich den Supermarkt und klettere durch das stets geöffnete Fenster ins Innere. Er macht einen zunehmend desolaten Eindruck. Irgendjemand scheint hier tagsüber immer noch zu arbeiten, obwohl die Regale schon seit langem nicht mehr aufgefüllt worden sind. Warum auch. Die verschimmelten Waren werden beseitigt, aber auch die haltbaren Produkte werden weniger. Das kann nur eins bedeuten: Es muss auch noch andere Menschen geben, die sich hier bedienen. Es herrscht völlige Stille. Nur das leise Summen der Kühlanlage ist zu hören. Ich stecke rasch das Nötigste in meinen Sack, einige Dosen Bier, Sardinen und Knäckebrot. Heute habe ich keine Lust mich hier lange aufzuhalten.

Ich will gerade wieder aus dem Fenster steigen, als ein völlig unerwartetes Geräusch die Stille zerfetzt. Es dauerte einige Zeit, bis ich langsam begreife, um was es sich handelt: Die Klospülung! Ein Mensch!

Zitternd vor Aufregung verberge ich mich hinter einem Regal und beobachte die Türen der vier Personaltoiletten. Mein Herz schlägt bis zum Hals, als sich eine Tür leise und langsam öffnet. Eine Gestalt schiebt sich vorsichtig in den Verkaufsraum. Sie schaut sich unsicher um. Sie kommt aus der Toilette für Diverse, ist aber eindeutig eine Frau. Lange blonde Haare, enganliegende Lederkleidung, ein breites Gesäß, ein starker Kontrast zur engen Taille, und ausgeprägte Brüste. Ich stelle meinen Blick schärfer und blicke in ein müde wirkendes verschwitztes Gesicht. Relativ große Augen mit ausgeprägten Augenringen. Ein Mensch, eindeutig. Ohne zu zögern verlasse ich meine Deckung und trete ihr entgegen. Sie zuckt zusammen, strafft sich und versucht eine gerade Haltung anzunehmen. Sofort wirken ihre Bewegungen mechanischer. Aber sie kann mich nicht täuschen, ihre Augen verraten sie. Sie schafft es nicht schnell genug einen ruhigen gelangweilten Gesichtsausdruck anzunehmen. Ich spüre die Panik in ihrem Blick.

Ich hebe meine Handflächen. "Gib dir keine Mühe", sage ich, "und du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ein Mensch, wie du."

Jetzt schaut sie mich verwirrt an, sie fixiert mich, sie kneift ihre Augen zusammen und schiebt den Kopf etwas nach vorne. Dann scheint sie sich zu entspannen. Sie wirkt erleichtert und atmet tief durch. Sie setzt sich auf eine leere Bierkiste und zieht eine Dose Cola aus ihren Beutel. Zischend öffnet sie sie und trinkt sie gierig leer.

"Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt", sagt sie rülpsend.

"Das wollte ich nicht. Kommst du öfter hierher? Ich habe dich noch nie hier gesehen."

"Na ja, der Supermarkt zu dem ich sonst immer gehe, ist ziemlich leergefischt."

"Das heißt, es gibt noch mehr von uns? Wie viele?"

"Das weiß ich nicht und wenn ich es wüsste, wüsste ich nicht, ob ich es dir sagen würde."

"Wieso nicht?" Ich bin irritiert. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, endlich mal einen anderen Menschen zu treffen, endlich mal wieder mit einem anderen Menschen zu reden."

Sie seufzt. "Ja, ja, kann ich mir vorstellen. So, ich muss dann mal wieder los. Alles Gute." Tatsächlich steht sie auf, packt ihr Bündel und schickt sich an, den Gang zum offenen Fenster einzuschlagen.

Aufgeregt stelle ich mich ihr in den Weg. "Warte mal, bleib doch noch ein bisschen, wo willst du denn hin? Sehen wir uns wieder?"

Sie seufzt wieder. "Was soll das bringen?"

"Wie, was soll das bringen?" Ich kann es nicht glauben. "Wir Menschen müssen doch zusammenhalten! Jetzt, wo wir uns endlich gefunden haben, können wir doch nicht so einfach auseinander gehen!"

Sie schaut mich lange mit einem traurigen Blick an. Ich kann sogar eine Träne in ihrem Augenwinkel erkennen. Ich kann nicht weinen, obwohl mir oft danach zu Mute ist. Spontan nehme ich sie in den Arm und drücke sie an mich. Sie drückt ihren Kopf an meine Schulter. Auch sie umarmt mich - aber nur kurz. Sie löst sich und lässt sich wieder auf die Bierkiste fallen.

"Ich sehne mich nach anderen Menschen", sagt sie, "mehr als du dir wahrscheinlich jemals vorstellen kannst. Das Problem ist nur - du bist kein Mensch."

Ich erstarre. Ich trete einen Schritt zurück. Ich starre sie mit offenem Mund an.

"Was redest du da? Natürlich bin ich ein Mensch, was denn sonst?"

Sie legt ihren Kopf schräg und schaut mich an.

"Du bist gut", sagt sie, "sehr gut sogar. Dein Modell ist fast perfekt. Aber ich habe schon einige von deiner Sorte gesehen. Dieses Gespräch habe ich schon öfter geführt. Und es tut mir jedes Mal leid, euch die Wahrheit zu sagen."

Ich schiebe meinen Ärmel nach oben und strecke ihr meinen nackten Arm hin.

"Hier fühl mal, das ist echtes Fleisch, ich bin aus Fleisch und Blut. Ich bin keine Maschine! Ich reib mich jeden Tag mit Pferdesalbe ein, damit meine Haut metallisch glänzt!"

Sie nickt. Sie schaut auf den Boden. Sie sagt nichts.

"Ich habe doch gesehen, wie sie die Menschen weggebracht haben", schreie ich fast, "ich war doch dabei, ich habe doch alles mitgekriegt. Wie sie sich langsam überall breit gemacht haben, immer mehr Aufgaben übernommen haben. Und irgendwann hat eine Gruppe, ich glaube es waren die Reinigungsautomaten, beschlossen, die Menschen zu beseitigen. Von wegen, die machen zu viel Dreck, zu viel Unordnung, stiften zu viel Chaos. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie meine Oma weggebracht haben. Ich ..."

"Das war nicht deine Oma", unterbricht sie mich.

"Was?"

"Wo arbeitest du? Wahrscheinlich in einem Altenheim, oder?"

"Ja, aber..."

"Es gibt dort doch schon längst keine Alten mehr. Gehst du da immer noch hin?"

"Na ja, das ist mein Job."

"Und was machst du dann da?"

"Ich gehe durch die Flure. Meistens sitze ich in dem Aufenthaltsraum. Wie früher."

"Und du sitzt dann da?"

"Ja."

"Allein?"

"Ja."

"Und kommt dir das nicht komisch vor?"

Ich werde nachdenklich. "Schon. Aber ich muss ja die Fassade aufrechterhalten, oder?"

"Ja, das musst du wohl. Dein Modell wurde entwickelt, um die Leute im Altenheim zu unterhalten, um mit ihnen Gespräche zu führen. Am besten wäre dazu natürlich ein Mensch geeignet. Wenn man so einen nicht hat, ist die zweitbeste Lösung ein Automat, der davon überzeugt ist, dass er ein Mensch ist. Das macht die Gespräche viel authentischer." Sie öffnet sich noch eine Dose. Diesmal ist es nicht Cola, sondern Bier. "Weißt du, wie ich lebe? Ich schlafe am Tage, ich verstecke mich in einer Kellerwohnung. Meinst du, ich könnte tagsüber einfach so auf der Straße herumspazieren? Die hätten mich nach fünf Minuten geschnappt. Nur nachts kann ich raus. Es ist immer noch gefährlich, aber es geht." Sie stöhnt laut auf. "Und ich habe es satt!"

"Das stimmt alles nicht", sage ich trotzig, "ich bin ein Mensch, ich habe Gefühle."

Wir schweigen. Sie trinkt ihr Bier.

"Ich bin ein Mensch", wiederhole ich nach einiger Zeit.

Sie hat sich zurückgelehnt, ihr Kopf ruht an der Wand, ihre Augen sind halb geschlossen.

"Umarmst du mich noch mal", fragt sie.

Ich tue es. Sie umschlingt meine Hüften.

"Ja, vielleicht habe ich mich geirrt, vielleicht bist du ein Mensch", flüstert sie. Sie öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke und zieht ihr Hemd nach unten. Ihre Brüste quellen hervor. "Fasst du mich da mal an?"

Ich berühre ihre Brüste, ich streichle sie sanft. Sie stöhnt leise. Ich frage mich, ob es ihr gutgeht.

"Bist du dieses erweiterte Modell?", murmelt sie, während sie mir in die Hose greift und ihre Hand zwischen meinen Beinen suchend umhertasten lässt. Was hofft sie dort zu finden?

"Schade. Na egal", murmelt sie, schiebt meine Hand von ihrer Brust und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Lange sitzen wir einfach nur so da. Irgendwann fallen die ersten zaghaften Sonnenstrahlen durch die Fenster und erleuchten die stillen Gänge. Ich hätte mich gerne noch unterhalten, aber sie scheint müde zu sein. Ich glaube, sie ist etwas verwirrt, aber ich mag sie trotzdem.

Immerhin hat sie zugegeben, dass sie sich geirrt hat.
 



 
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