Darius’ Kopf fühlte sich an, als drohe er jeden Moment zu platzen. Tausend Hämmer schienen von Innen gegen seine Schädeldecke zu schlagen und hegten nicht die geringste Absicht damit in nächster Zeit aufzuhören.
Die ganze Nacht hatte er noch in Balduins und Wermuts Gesellschaft in der Grünen Laterne verbracht und bis in die frühen Morgenstunden getrunken, während sich die Vögel um Salysa gekümmert hatten. Darius konnte sich nicht mehr erinnern was er alles an diesem Abend getrunken hatte und wenn er ehrlich zu sich war, so wollte er es auch gar nicht wissen.
Trotz zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf waren sie am Mittag dieses Tages wieder aufgebrochen, um die Stadt Erzherz so schnell wie nur möglich zu erreichen.
Erzherz war eines der großen Industriezentren des Königreiches mit seinen Bergwerken und Fabriken und lag hoch oben auf einem Hügel, dessen Adern aus Erz das Überleben der großen Stadt ermöglichten. Zum Unglück des Reiches hatten die Rebellen die Stadt vor einigen Jahren erobert und hielten sie nun verzweifelt gegen eine bereits drei Jahre andauernde Belagerung. Erzherz war auch für Pavelon, den legendären Führer der Rebellion, ein wichtiger Ort, denn die Stadt war einerseits strategisch wichtig und andererseits einer der letzten Zufluchtsorte für die Rebellion, die den Krieg so gut wie verloren hatte.
So schleppte sich Darius nun in Begleitung von Krâ und Agelstern durch das schier endlose Weideland aus dessen im Wind wogenden Wiesen nur hin und wieder eine Baumgruppe hervorstach. Wahrscheinlich war seine Kompanie schon längst in Erzherz angelangt und vielleicht hatten sie bereits die Stadt erobert und hatten das Recht zur Plünderung bekommen, immerhin wurde gemunkelt, dass die Rebellen in Erzherz kurz vor der Kapitulation standen.
Darius grunzte verächtlich bei dem Gedanken an die entgangene Plünderbeute und richtete seine geröteten Augen auf den weiten Horizont, der vor ihm lag. In der Ferne konnte man bereits die hohen Bergketten des Nordens ausmachen und das Land begann anzusteigen, womit auch der Marsch immer beschwerlicher wurde. Noch immer hatte er keine Möglichkeit gefunden die Kugel aus seinem Bein zu entfernen, wodurch sich die Wunde bereits stark entzündet hatte und jeder Schritt zur Qual wurde.
Auch die beiden Vögel waren keine Hilfe.
„Weißt du, wenn du anfängst zu kriechen könntest du deine Geschwindigkeit noch um einiges verringern“ keckerte Agelstern.
„Bisschen viel getrunken, hm?“ krächzte Krâ.
Aus zusammen gekniffenen Augen warf Darius einen Blick gen Himmel, der sich wie immer in den letzten Tagen düster und verhangen präsentierte und nur einige wenige zaghafte Sonnenstrahlen durchließ. Vor diesen Wolkenbänken kreisten Krâ und Agelstern mit ausgebreiteten Schwingen und blickten spöttisch auf ihn herunter.
„Seid froh, dass ich keine Munition mehr habe“ rief Darius gegen den aufkommenden Sturm an und fuchtelte mit seinem Vorderlader, den er nur noch als Gehstock benutzen konnte.
„So viel wie du gesoffen hast könntest du jetzt noch nicht wieder zielen…falls du es jemals konntest“ kam sofort die Antwort von hoch oben.
Darius stieß eine unhörbare Verwünschung aus und bewegte sich in einer Mischung aus Gehen und Humpeln weiter. Lange konnte er sein Bein auf diese Weise nicht mehr belasten, wahrscheinlich durfte er es auch jetzt schon nicht mehr, und würde noch Tage brauchen, bis er Erzherz endlich erreichen würde. Krâ und Agelstern, konnten sich von den starken Winden tragen lassen und taten dies auch ohne jegliche Rücksicht auf ihn, doch was Darius sich in diesem Moment wünschte war ein schnelleres Transportmittel, wie ein Pferd oder…
„Da vorne verläuft etwas mitten durch das Grasland, sieht aus wie riesige Holzbalken, die man einfach in die Landschaft geworfen hat“ rief Krâ.
Für einen kurzen Moment erlaubte sich Darius den Luxus aufkeimender Hoffnung.
…oder die Qualmwalze.
„Was du da siehst sind Schienen, wir halten weiter auf sie zu“ entschied er und war zum ersten Mal froh über die Anwesenheit der Vögel und ihrer scharfen Augen.
Die Qualmwalze war eine noch junge Erfindung der königlichen Wissenschaftler und Alchemisten und dazu ein stählernes Monstrum. Befeuert mit Holz und Kohle konnte es eine unglaubliche Geschwindigkeit entwickeln, die jedes Pferd übertraf und seine Passagiere schnell von einem Ort zum anderen transportieren konnte. Bisher wurde die Qualmwalze allerdings nur als Transportmittel für die Soldaten seiner Majestät und wenige gut betuchte Bürger und Adlige benutzt.
Seinen Namen hatte das Ungetüm seinem brachialen Auftreten und den endlosen stinkenden Rauchsäulen zu verdanken. Wo die Qualmwalze auch erschien sorgte sie durch ihre Gier nach Holz für Verwüstungen und abgeholzte Wälder.
Diese dezenten Nachteile der Walze überging Darius in diesem Moment aber geflissentlich. Er war ein verletzter Soldat und musste schneller an sein Ziel gelangen. Die Aussicht auf die Erfüllung dieses Wunsches ließ ihn seinen Schritt trotz der Schmerzen beschleunigen und auch Krâ und Agelstern hielten nun zielstrebig auf die Schienen zu, die sich wie eine gewaltige Narbe durch das weite Grasland zogen. Bald schon tauchte auch ein windschiefes einstöckiges Holzhaus mit Nebengebäuden aus dem Gräsermeer auf, von dem Darius vermutete, dass es als Haltestation und Proviantlager für die Qualmwalze diente.
Erleichtert fuhr sich Darius durch das lange fettige Haar. Auch er musste irgendwann einmal Glück haben.
„Nach Erzherz? Da haben Sie aber Glück mein Herr, die Walze müsste bald hier eintreffen“ der kleine Mann, der Schaffner der Station, sah Darius über den Rand seiner Brille hinweg an, während er die silberne Taschenuhr wieder in seiner Brusttasche verstaute. „Wenn ich mir allerdings diese Bemerkung erlauben darf: Sie sehen grauenhaft aus, ein Glück dass sie hierher gefunden haben. An ihrer Stelle würde ich auch mal diese beiden Vögel loswerden, die warten ja nur darauf, dass sie tot umkippen.“
Darius knurrte belustigt und ließ sich auf eine morsche Holzbank vor dem Stationshäuschen fallen, die daraufhin protestierend ächzte.
„Sie kennen hier in der Gegend nicht zufällig einen Arzt oder?“ fragte er und rieb sich unbewusst die schmerzende Wunde.
Der Schaffner sah sich suchend um und zog eine buschige Augenbraue in die Höhe.
„Sehen Sie hier weit und breit ein anderes Gebäude als diese Hütte? Tut mir leid mein Herr, aber Sie befinden sich hier weit ab von jedem Arzt“, einen Moment zögerte der kleine Mann und strich seine blaue Schaffneruniform glatt, „aber wollen Sie mir nicht verraten, wie Sie in diese Misere geraten sind?“
„Sie sind außer mir der einzige Mensch auf diesem Bahnsteig und trotzdem will ich es ihnen nicht erzählen. Und jetzt halten Sie die Fresse und lassen mich nachdenken! Müssen Sie nicht vielleicht eine ihrer Uhren richtig stellen?“ Darius betrachtete spöttisch die unzähligen Taschenuhren des Schaffners, die aus ebenso unzähligen Taschen hervorlugten und wie ein Orchester aus Zahnrädern tickten und klickten.
„Eine Unverschämtheit! Pünktlichkeit muss sein, da darf man sich nicht nur auf eine Uhr verlassen. Ich habe hier alle Uhrzeiten dieser Welt, wollen Sie etwa nicht wissen wie spät es am anderen Ende unseres Kontinents ist?“
„Nein.“
Der kleine Mann rümpfte die Nase und stolzierte meckernd in das Innere der baufälligen Hütte. Krachend fiel die Tür ins Schloss.
Krâ und Agelstern begannen auf seinen Schultern krächzend zu lachen.
„Fangt ihr beide nicht auch noch an mich mit eurem Geplapper zu nerven!“
„Also wirklich Darius, du hast den armen Mann verärgert, dabei wollte er doch nur nett mit dir reden“ tadelnd wackelte Krâ mit dem Kopf hin und her.
„Ja, und außerdem hatte er da ein paar hübsche Uhren. Natürlich interessiert mich nur, wie spät es woanders auf der Welt ist. Die eine goldene hat zum Beispiel eine nette Uhrzeit angezeigt…“ Agelstern versuchte mit glitzernden Augen durch die dreckigen Scheiben einen Blick in das Stationshäuschen zu werfen.
Bevor Darius auch nur ein einziges Wort erwidern konnte ertönte in der Ferne ein dumpfes Grollen, gefolgt von einem infernalischen Zischen. Als Darius erschrocken aufblickte bemerkte er, wie einige Kieselsteine zu seinen Füßen anfingen zu zittern und dann auf und ab zu springen.
Etwas Großes kam. Etwas sehr Großes.
Auch Krâ und Agelstern waren ehrfürchtig verstummt und blickten starr gen Horizont, an dem nun ein stählernes aber doch rasend schnelles Ungetüm auftauchte, das aus drei großen Schornsteinen tiefschwarzen Rauch ausstieß. Wie in Trance erhob sich Darius von der Bank und beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken, wie die Qualmwalze dröhnend heranpreschte, ihre Geschwindigkeit aber immer weiter zu drosseln schien.
Schließlich fuhr das Ungetüm zischend in den Bahnhof ein und kam zum Stillstand.
Darius’ Blick wanderte an der Qualmwalze hoch. Er war zwar schon lange Soldat, doch hatte er noch nie eine Walze zu Gesicht bekommen.
Sie überragte das Stationshäuschen um mehrere Meter und war komplett aus tiefschwarzem Stahl gebaut. Auch jetzt, da sie stand, ging von ihr eine unheimlich gewaltige Energie aus, so als pulsiere etwas in ihrem Inneren und dränge sie dazu gleich wieder loszubrechen.
Darius warf einen weiteren Blick an ihrer Seite entlang und entdeckte mindestens zwanzig ebenfalls massige und nachtschwarze Wagons, die von der Walze gezogen wurden. Aus ihnen drang Gesang und der Lärm von vielen Männerstimmen. Hin und wieder schaute jemand nach draußen, um zu sehen was vor sich ging.
Soldaten des Königs ging es Darius durch den Kopf. Endlich war er auf dem richtigen Weg.
„He, du da!“ ertönte plötzlich eine raue Stimme mehrere Meter über ihm.
Darius schaute nach oben und sah sich dem abschätzenden Blick eines Hünen gegenüber. Über den breiten Schultern des Mannes spannte sich eine Uniform, deren Weiß aber unter mehreren Schichten Kohlenstaub verschwunden war. Genauso schwarz wie seine Kleidung war das Gesicht des Mannes, das zur Hälfte von einem roten Mundschutz verborgen wurde. Die prankenartigen Hände steckten in dicken schwarzen mit Nieten besetzten Lederhandschuhen.
„Starr nicht so blöde in der Gegend rum, sondern spring auf! Siehst aus wie einer von uns“, kurz zögerte der Hüne und betrachtete Darius eingehender, „na ja jedenfalls haste ma’ so ausgesehen. In Erzherz können wa’ jeden Mann und jede Waffe gebrauchen, also rauf mit dir! Und beeil dich, ich will das Schätzchen hier nich’ endlos stehen lassen.“
Darius zögerte nicht, sondern rannte an der Walze vorbei und sprang auf den nächsten Wagon auf, während sich das Ungetüm bereits wieder zischend in Bewegung setzte. Krâ und Agelstern flatterten protestierend auf, folgten ihm aber ins Innere.
Obwohl die Tore des Wagons weit aufstanden drang nur wenig Licht in seine hinteren Ecken und so erkannte Darius lediglich einen ganzen Haufen Soldaten nur als Schemen, die sich gelangweilt auf dem ausgestreuten Stroh fläzten, ihre Waffen reinigten, tranken oder sich lachend unterhielten und zotige Witze rissen. Niemand schenkte ihm große Aufmerksamkeit und so kauerte sich Darius ebenfalls an die Wagonwand und betrachtete die Landschaft, die sich in verschwommene Schemen verwandelte je mehr Geschwindigkeit die Dampfwalze aufnahm.
Wie er so die Männer beim Trinken beobachtete, überkam auch ihn wieder eine Lust nach berauschenden Stoffen. Mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken stellte er fest, dass es aber keineswegs sein Wunsch nach Schnaps war, der sich meldete, sondern das unterschwellige Verlangen nach Balduins Opiaten. Sie hatten ihn grausame Dinge sehen lassen, wirkten aber gleichzeitig doch so beruhigend.
Krâ und Agelstern waren von seinen Schultern gehüpft und hatten es sich im dreckigen Stroh bequem gemacht, das sie mit dem alten Köter eines anderen Soldaten teilten. Beide schwiegen zu Darius’ Erleichterung, wahrscheinlich hielten sie es nicht für ratsam, dass noch jemand ihr Geheimnis erfuhr.
Darius wurde von raschelndem Stroh aus seinen Gedanken gerissen, als sich jemand neben ihm nieder ließ. Er war froh über diese unerwartete Ablenkung, denn in letzter Zeit war er für seinen Geschmack viel zu oft alleine mit seinen finsteren Gedanken.
„Siehst ja furchtbar aus“ meinte der Fremde, dessen Gesicht Darius nur zur Hälfte erkennen konnte. Was er allerdings sah ließ auf ein längliches mageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und tief in ihren Höhlen liegenden Augen schließen.
„Wenn du auf ’nem verdammten Schlachtfeld wieder zum Leben erwachst würdest du auch nicht besser aussehen“ erwiderte Darius knapp.
Der Fremde lachte.
„Auch nen Schluck?“ er reichte eine Feldflasche herüber, deren Inhalt verheißungsvoll gluckerte.
Darius nickte zur Antwort, nahm einen großen Schluck und schluckte den warmen Schnaps herunter.
„Sieht gar nich’ gut aus.“
„Was?“
„Na, dein Bein. Sieht aus als würd’s aus mehr Eiter als Fleisch bestehen.“
„Eine Schusswunde, die Kugel steckt noch drin“ Darius nahm noch einen Schluck aus der Feldflasche und gab sie dem anderen zurück.
„Scheiße, willst du dich selber umbringen? Ich hatte mal ne Schwester, die wurde von ’nem Fuchs gebissen. Das Biest war tollwütig oder so was, jedenfalls wollte meine Schwester das auch nich’ behandeln lassen, meinte, dass man das auch mit Kräutern behandeln könnte. Tja, am Ende musste mein Vater ihr ne Kugel durch den Kopf jagen, weil sie verrückt geworden ist“ der Fremde lachte, ahmte das Geräusch einer abgefeuerten Kugel nach und steckte die Feldflasche zurück an seinen Gürtel.
„Mein Name is’ übrigens Messer“ der Mann spuckte neben sich auf den Boden.
„Darius.“
„Hast verdammtes Glück Darius, dass du mit deinem Krüppelbein hier gelandet bist. Ich bin Feldscher.“
Darius schwieg einen Moment und betrachtete sein lädiertes Bein. Ob sich Messer als Glück herausstellte würde sich zeigen.
„Kannst du mein Bein behandeln?“
Im Halbschatten sah Messer ihn aus großen Augen an.
„Die Ruine?“, er begann zu lachen, „verdammt, die würd’ niemand wieder hinbekommen. Nein, ich kann dir das Bein abhacken, aber wenigstens wirst du dann nich’ dran verrecken.“
Darius fluchte leise und knallte seinen Hinterkopf gegen die Stahlwand.
„Kannst du nicht erst einmal nur die Kugel rausholen? Ich häng so sehr an meinem Bein.“
Messer zuckte mit den Schultern.
„Kann ich machen, wenn du unbedingt an der scheiß Wunde verrecken willst.“
„Irgendwo verrecke ich doch so oder so.“
Messer kicherte und schnalzte mit der Zunge.
„Verdammt richtig…he, Trenker, gib’ mal meine Tasche rüber!“
Der Angesprochene grunzte und warf Messer eine alte speckige Umhängetasche rüber, die laut klirrte, als sie auf dem Boden aufkam.
Messer schlug sie auf und begann sofort eifrig in ihr nach den benötigten Utensilien zu wühlen. Darius fluchte ein weiteres Mal, als er sah, welche Gerätschaften ihn von der Kugel in seinem Beim erlösen sollten. Der Feldscher legte eine Pinzette und mehrere rostige Skalpelle fein säuberlich vor sich auf den Boden und fischte zuletzt noch eine wesentlich klobigere Zange aus der Tasche.
„Falls die scheiß Kugel sich sträubt“ erklärte er grinsend und legte die Zange zu den anderen Werkzeugen. Dann reichte er Darius wieder die Schnapsflasche und drückte sie ihm fest in die Hand.
„Trink sie komplett leer, sauf meinetwegen den ganzen Schnaps. Du brauchst ihn gleich dringender als ich.“
Nur zu gern tat Darius wie ihm geheißen, doch als sein Kopf benebelt nach vorne sackte und Messer mit seiner Arbeit begann, hörte man seine Schreie trotzdem durch die halbe Walze.
Darius betastete den neuen Verband, der sich bereits wieder mit tiefrotem Blut gefärbt hatte.
Irgendwann war er vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen und erst vor wenigen Minuten wieder zu sich gekommen. Immerhin hatte er die Folter hinter sich gebracht.
„Hast geblutet wie ein Schwein“ sagte Messer und wischte sich seine dreck- und blutverschmierten Hände an einem ebenso schmutzigen Tuch ab.
Zur Antwort konnte Darius nur nicken, denn er fühlte sich auch so schwach, als hätte er literweise Blut verloren. Der durch den Schnaps hervorgerufene Rausch hatte sich längst verflüchtigt.
Hatte irgendeiner der anderen Soldaten dem Schauspiel Aufmerksamkeit geschenkt, so war ihr Interesse inzwischen schon wieder verflogen.
„Wie weit…ist es noch bis nach Erzherz?“ brachte Darius über seine Lippen.
„Vielleicht noch einen Tag, vielleicht auch etwas weniger. Kannst bald schon den Donner unserer Kanonen hören“, er lachte leise, „du hattest nicht wirklich vor den ganzen Weg noch zu Fuß zurück zu legen, oder?“
„Scheiße, nein. Eigentlich wollte ich auf halbem Weg meine Flügel ausspannen und zur Stadt rüberflattern.“
Messers Lachen wurde lauter.
„Die Kugel ist jedenfalls draußen, aber auf kurz oder lang wird dir das Bein trotzdem abgenommen werden müssen oder du gehst drauf.“
„Ich werd’s mir merken.“
Plötzlich geriet Tumult und Aufregung in die versammelten Soldaten, als die Walze ruckelnd und unter lautem Getöse anhielt und alle Insassen durchgeschüttelt wurden. Krâ und Agelstern krächzten überrascht auf und wurden durch den halben Raum geschleudert ehe sie mit einigen Flügelschlägen das Schlimmste vermeiden konnten. Der alte Hund fing an zu bellen.
Darius versuchte sich aufzurichten, doch gab sein schwaches Bein sofort wieder unter ihm nach.
„Was ist da los?“ wollte er von Messer wissen, der seinen Kopf bereits nach draußen gesteckt hatte.
„Anscheinend verlangt das eiserne Monstrum mal wieder nach seinem Futter und die Qogal gehen los, um Nahrung für die Bestie zu finden. Sieh selbst“ Messer half Darius auf die Beine und zog ihn zur Wagontür.
Als Darius dem Blick des Feldschers folgte sah auch er die Qogal, es waren mindestens dreißig, die mit Äxten und Sägen bewaffnet aus allen möglichen Öffnungen der Walze strömten und sich flink der nächsten Baumgruppe näherten.
Die Qogal besaßen menschliche Gestalt, vielleicht waren sie sogar menschlich, ihre Haut jedoch war gräulich, ihr Haarwuchs spärlich und ihr Körper größer und schlaksiger als der eines Menschen. Dennoch besaßen die Qogal erstaunliche Kraft, die sie zu brauchbaren Arbeitern für das Reich machte. In seiner Zeit als Soldat hatte Darius schon häufig mit ihnen zu tun gehabt und so war er an ihren Anblick gewohnt.
Trotzdem war dieses Volk die seltsamste Erscheinung, die er, und wohl jeder andere Mensch auch, jemals gesehen hatte. Das lag weniger an ihrem Erscheinungsbild als vielmehr an der Tatsache, dass die Qogals die einzigen Lebewesen waren, die aus dem Tod ins Leben traten. Schon lange arbeiteten sie fleißig und geflissentlich in den Diensten des Königreiches, doch hatte kein Forscher und kein Entdecker jemals mehr über sie herausgefunden. Wo genau sie aus der Welt der Toten in die der Lebenden übertraten und wie ihre Geburt aussah wusste niemand.
Aus der Sicht eines Qogal war die Situation sogar noch komplexer: Was die Menschen als „Leben“ betrachteten verdiente diesen Ausdruck eigentlich gar nicht. So wie die Qogal aus dem Tod traten, kamen die Menschen aus dem Leben, und so wie die Qogal diesem Leben zustrebten, wanderten die Menschen auf den Tod zu. Die Phase dazwischen, dieses „Leben“, war nur eine Straße, die man gehen musste und zu ertragen hatte. Dies erklärte auch die Fähigkeit der gräulichen Wesen jegliche Arbeit, die man ihnen auferlegte zu ertragen und auszuführen – ganz im Sinne des Reiches.
Jede Diskussion über dieses Thema zwischen Qogal und menschlichem Philosoph war aber bisher in einem handfesten Debakel geendet.
Inzwischen ertönte aus dem nahen Wäldchen das dumpfe Pochen und Rasseln von unzähligen Sägen und Äxten und bald darauf das erste Krachen eines fallenden Baumes. Unzählige Qogals machten sich einer Ameisenschar gleich über die gefällten Bäume her und zerlegten sie erstaunlich schnell in Einzelteile, die zurück zur Qualmwalze gebracht wurden. Darius betrachtete das Schauspiel, bis von dem kleinen Wäldchen nur noch Baumstümpfe und einige kümmerliche Bäumchen übrig geblieben waren, der Rest sollte dem stählernen Monstrum als Nahrung dienen.
Als die Öfen befeuert wurden erklang ein gieriges Fauchen und nach einiger Zeit setzte sich die Walze behäbig in Bewegung. Bald schon spieen die drei großen Schornsteine wieder tiefschwarzen Rauch in den mittäglichen Herbsthimmel und die Qogals verschwanden irgendwo im Inneren des Gefährts.
Darius war wieder an seinen Platz auf dem Boden zurückgekehrt, um sein Bein zu schonen und Messer gesellte sich nun an seine Seite. Auch Krâ und Agelstern sowie Messers Hund hatten sich wieder beruhigt.
„Gehören die Vögel zu dir?“ der Feldscher betrachtete Krähe und Elster interessiert, die versuchten möglichst normal zu wirken.
„Ja, leider. Sie sind mir irgendwann zugelaufen und geblieben, als ich sie gefüttert hab“ log Darius teilweise.
„Der alte Köter hier“, Messer wies auf den Hund, „den hab ich auch gefunden. War verletzt und ich hab ihm geholfen, seitdem läuft er mir überall hinterher. Aber das ne Krähe und ne Elster so anhänglich werden, davon hab ich noch nie gehört.“
Der Feldscher schüttelte kichernd den Kopf.
„Mir wär’s auch lieber, wenn die beiden einfach verschwänden, aber vielleicht kann man sie doch noch mal essen oder so“ Darius grinste und meinte ein empörtes Krächzen von Krâ zu vernehmen.
„Wenn wir in Erzherz ankommen solltest du die Viecher verstecken, falls du sie noch essen willst, sonst werden die dir ruckzuck weggenommen. Die Jungs da unten haben nichts mehr zu fressen. Da fragt man sich wer eigentlich wen belagert und aushungern will.“
„Wunderbar, klingt genau nach dem Leben das ich so liebe.“
„Wenn du Glück hast is’ bald alles schon vorbei. Sieht nich’ so aus, als würden die Rebellen in Erzherz es noch lange machen. Wenn die Stadt erstmal kapituliert ist der Krieg vorbei und wir können alle wieder nach Hause, nach so langer Zeit. Aber noch halten die Rebellen aus, sind ganz schön zäh die Hunde. Aber das ist ja auch kein Wunder, denn Pavelon selber führt sie an, der Führer der Rebellion. Schön und tapfer soll er sein, wie die Helden in den alten Sagen und Märchen.“
„Ja…vielleicht“ inzwischen dauerte die Rebellion, nein, der Bürgerkrieg, wie sich Darius selber berichtigte, schon zehn Jahre und am Anfang hatte er auch noch ein zu Hause gehabt, in das er hätte zurückkehren können.
Aber inzwischen sind sie alle tot ging es ihm durch den Kopf und automatisch fuhr seine Hand zu dem Lederbeutel um seinen Hals, der die Knöchelchen seines Sohnes beinhaltete. Auch Messers Blick fiel auf das Säckchen.
„Was’n das für ein Beutel?“
„Was?“ Darius schreckte aus seinen Gedanken auf, er hatte gar nicht bemerkt, dass seine Hand den Lederbeutel umschlossen hielt. „Oh das ist eine letzte Erinnerung an meinen Sohn, er ist schon sehr früh im Krieg gestorben, ganz zu Beginn. Er war acht“ die Worte waren gesprochen, ehe Darius sich entschieden hatte, ob er es überhaupt erzählen wollte.
„Scheiße…“ Messer nickte mitfühlend und klopfte ihm auf die Schulter. „Wäre schöner für dich, wenn dir die verdammten Rebellen ne Kugel zwischen die Augen jagen, was?“
„Solange sie dieses Mal vernünftig treffen und mir nicht nur wieder das halbe Bein wegschießen…“
Das Rattern und Fauchen der Qualmwalze und die Unterhaltungen der anderen Soldaten füllten die folgende Stille. Schließlich erhob sich Messer ächzend.
„Bald werden wir Erzherz erreichen und wer weiß, vielleicht hast du ja Glück und du gehst drauf. Aber kann ich eine Bitte an dich richten?“
„Was willst du?“
„Wenn du da draußen wirklich stirbst, krieg ich dann die beiden Vögel? In solchen Zeiten wär’s schade um so ein leckeres Essen.“
Darius erwachte aus seinem Schlaf, als die Walze langsamer wurde und die Soldaten um ihn herum in Hektik ausbrauchen. Die letzten Stunden der Fahrt hatte er genutzt, um den Schlaf nachzuholen, der ihm in der Nacht verwehrt geblieben war, doch nun fühlte er sich noch müder und kraftloser als zuvor.
Nur langsam kam er gähnend auf die Beine, während um ihn herum Männer ihre Rucksäcke schulterten, nach ihren Waffen griffen und ihre Tschakos aufsetzten. Der Lärm der Walze wurde durch den von Stimmen und klackernden Stiefeln ersetzt.
Schließlich kam das Gefährt zum stehen und Darius wurde gemeinsam mit Messer und Krâ und Agelstern aus dem Wagon gespült. Die Soldaten um ihn herum waren größtenteils bestens ausgerüstet und trugen rein weiße Uniformen, er dagegen trug mehr Blut und Dreck als Stoff am Leib und besaß lediglich einen schartigen Dolch und ein Gewehr mit dem man höchstens noch zuschlagen konnte. Zudem saßen eine Krähe auf seiner linken und eine Elster auf seiner rechten Schulter.
Unter den gebrüllten Anleitungen von Offizieren in ihren mit goldenen Troddeln besetzten Uniformen und den roten Umhängen schwärmten die Männer in Gruppen geordnet aus.
Darius bevorzugte es sich heimlich von Messer und den restlichen Neuankömmlingen zu trennen und das Lager auf eine Faust zu erkunden. Offiziere hatte er noch nie sonderlich gemocht.
So tauchte er ein in ein Meer aus Zelten und Unterständen, das sich endlos weit hinzog. Aus seiner Mitte erhob sich ein gewaltiger steiniger Hügel auf dessen Rücken die Stadt Erzherz thronte. Um den Hügel herum hatte sich eine zweite kleine Stadt gebildet. Schlammige Wege führten zwischen den Zelten hindurch von denen manche auch als Bordelle, Barbierstuben oder Tavernen genutzt wurden. Es gab sogar eine Schmiede in einer eigens errichteten Blockhütte aus der das Klirren von Stahl auf Stahl dröhnte. Auf den schlammigen, von tausenden Füßen aufgewühlten Pfaden drängelten sich Soldaten, Handwerker, Huren, Pferde und Qogal gleichermaßen und Darius musste sich mit Schultern und Ellenbogen einen Weg durch die sperrige Menge bahnen.
„Endlich sind wir wieder unbeobachtet, ich hatte schon Angst, dass ich nie wieder sprechen dürfte“ Agelstern klang wirklich erleichtert.
„Hast du gehört was dieser Messer gesagt hat? Essen will er uns! Der soll nur hoffen, dass er mir nicht im toten Zustand begegnet“ krächzte Krâ empört und plusterte sein Gefieder auf.
Darius seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht, wenn er nichts sagen würde…
„Wo gehen wir jetzt hin? Suchen wir deine tapferen Kameraden?“
„Ganz schön dreckig hier, ein netter Ort für Ratten. All der Unrat und Abfall…ich kann wirklich verstehen, dass du hierher kommen wolltest. Ehrlich.“
„Ich weiß nicht, was ihr machen werde, aber ich suche nun meine Kompanie“ brachte Darius zähneknirschend hervor und schlängelte sich zwischen einem berittenen Offizier und zwei Huren durch, die ihm obszöne Bemerkungen hinterher riefen.
„Ich glaube die beiden mochten dich, ob die wissen, dass du bettelarm bist?“ Krâ warf einen Blick zurück auf die beiden drallen Frauen. Agelstern gab Laute von sich, die wohl ein Kichern sein sollten.
Ein Krämer mit einem Handkarren wäre Darius fast hinten rein gelaufen, als dieser ruckartig stehen blieb. Die Flüche des anderen missachtend packte er Krâ und hielt die erschrocken krächzende Krähe auf Augenhöhe.
„Hör gut zu Krähe, es war die letzten paar stunden wunderbar ruhig ohne euer ständiges Geplapper und ich will, dass es ab jetzt so bleibt. Ihr geht nun wieder eurer Wege und ich die meinen. Ich kehre zu meiner Kompanie zurück und ihr zu Malvander, falls der euch überhaupt noch haben will. Hast du und dein diebischer Freund das verstanden?“
Krâ konnte nur überrascht nicken, doch von Agelstern kam ein kleinlautes „Verstanden.“
„Sehr gut“ Darius entließ Krâ aus seinem Griff und ließ die Krähe schleunigst auf einen nahen Zeltpfahl flattern. Agelstern folgte ihr.
Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen stapfte Darius weiter und wünschte sich keine Ohren zu besitzen.
„Siehst du das Krâ? Er lässt uns einfach sitzen.“
„Ja, und das, obwohl wir so viel für ihn getan haben. Oh weh, oh weh dies sind düstere Zeiten!“
„Der edle Recke wird uns noch bitterlich vermissen, jawohl.“
Als Darius um die nächste Ecke bog wurden die lamentierenden Stimmen der Vögel zu seiner Erleichterung vom allgemeinen Lagerlärm verschluckt. Er befand sich mitten in einem großen stinkenden Labyrinth, doch zum Glück wusste er genau, wo er hinwollte.
Vor seinen Augen in einiger Entfernung erhob sich eine stattliche Eiche über die Zeltstadt, deren Blätter längst vom Winterwind davon geweht worden waren. Sie markierte das Zentrum des Lagers, den Ort für Verkündigungen und Versammlungen. Zielstrebig hielt Darius auf diesen Ort zu und erreichte bald den großen Platz in dessen Mitte sich die Eiche erhob. Als der erfahrene Soldat den Baum nun vor sich sah verweilte sein Blick doch einen Moment länger auf ihm, als es normal gewesen wäre, und dies hatte einen Grund. Die Eiche mochte schon längst ihre Blätterpracht verloren haben, dafür hingen aber zuhauf frische und halb verweste Leichen an Seilen von den dicken Ästen des Baumes.
Die Aaseiche Darius hatte schon von ihr gehört. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Reich kannte sie. Die Belagerung von Erzherz dauerte nun schon drei Jahre an und in ihrem Verlauf waren viele Männer gestorben oder zu Fahnenflüchtigen und Verrätern geworden. Die Aaseiche war das grausame Schicksal, das alle jene zu befürchten hatten, die den König verrieten und gleichzeitig das Symbol für die Gräuel dieses nicht enden wollenden Krieges.
Und unser neuer König versteht ihre Bedeutung noch nicht einmal. Für ihn ist die Eiche einfach nur einer von vielen Bäumen…nur dass Tote an ihr hängen und verwesen dachte Darius.
König Rovoald hatte zu Beginn der Belagerung den Befehl dazu gegeben, um potentielle Deserteure vom Verrat abzuhalten. Leider hatte die Eiche dem König auch nicht mehr helfen können, denn genau solch ein Verräter hatte Rovoald vor einem halben Jahr erschossen. Die Krone war an seinen einzigen Sohn Adam übergegangen, einen Jungen von acht Jahren, der nicht verstand, was um ihn herum geschah.
Die Krone mag an ihn übergegangen sein, aber ansonsten hat er überhaupt nichts.
Jeder wusste es, doch keiner sprach es aus: Die Macht im Reich besaß seit dem Tod des Königs nicht etwa Adam, sondern sein selbst ernannter Vormund Herzog Ergald, Rovoalds Marschall – Grauwolf nannten sie ihn.
Der alte König hatte ihm vertraut und so tat es nun auch der Junge. Bei den Soldaten wurde der alte Wolf bewundert für seinen Mut und seine Entschlossenheit, aber gefürchtet für seine Grausamkeit und sein Auftreten. Es verging keine Woche in der Grauwolf nicht mehrere Männer hängen ließ.
Während er zu einem kleinen Podest unterhalb des Baumes herüber schritt beobachtete er, wie ein paar Jungen auf langen Leitern besonders verweste Leichen von den Seilen schnitten, um Platz für neue Unglückliche zu machen. Die restlichen Gehenkten baumelten wie ein besonders makabres Glockenspiel im Wind. Darius spuckte angewidert aus und wandte den Blick ab.
Als er den kleinen Holzpodest erreichte stand dort ein uniformierter Mann und verkündete die Anordnungen des Tages.
„…hat sich jeder Soldat heute Abend hier auf dem Platz bei der Eiche einzufinden. Seine Majestät König Adam wird das Wort an seine tapferen Streiter richten und ihnen seinen Segen für den morgigen Angriff erteilen. Seine Majestät wünscht Anwesenheit von jedermann!“
„Entschuldigung“, sprach Darius den Mann an, als dieser geendet hatte, „könnt ihr mir sagen, wo die neunte Kompanie liegt? Dritte Armee…“
Der andere Mann stieg von seinem Podest herab und sah ihn entgeistert an.
„Die neunte Kompanie? Verdammt bis jetzt wusste ich noch nicht mal, dass von denen noch einer übrig ist“, der Soldat lachte dreckig, „die Neunte hat die letzte Schlacht nicht überlebt, die wenigen Jungs, die durchgekommen sind haben sich irgend ne andere Truppe gesucht und genau das solltest du auch tun mein Freund.“
Der Mann wollte an ihm vorbei marschieren, doch Darius hielt ihn an der Schulter zurück.
„Eines noch: Habe ich das richtig verstanden, morgen findet ein Angriff statt?“
„Da hast du aber gut zugehört. Richtig, Grauwolf will Erzherz morgen fallen sehen. Ach und falls du doch noch jemanden aus deiner Kompanie sehen willst, an der Aaseiche findest du einen“ damit stapfte der Soldat davon, um seine Nachrichten auch in anderen Ecken des Lagers zu verkünden. Darius starrte ihm hinterher, sein Bein schmerzte höllisch.
Der Abend war kalt und düster über Erzherz und dem Lager hereingebrochen und Darius war bereits wieder betrunken.
Im Schein der aufgestellten Fackeln versammelten sich Soldaten und Offiziere auf dem großen Platz unter der Bluteiche und froren erbärmlich in ihren langen zerschlissenen Mänteln, während sie auf das Eintreffen des kleinen Königs und des Marschalls warteten. Darius hatte sich die Zeit bis zum Abend mit Trinken und Huren vertrieben und bahnte sich nun in einer Mischung aus Wanken und Humpeln einen Weg durch die Menge bis zu den ersten Reihen vor dem Podest, welches nun von den Purpurnen bewacht wurde, der Garde des Königs. Felsenfest, die Gesichter starr geradeaus gerichtet, standen sie da in ihren purpurnen Jacken und Mänteln und schwarzen Helmen mit goldenem Kamm und trennten die lärmende Soldatenmeute von dem kleinen Holzpodium. Der Schein der Fackeln wurde von ihren glänzenden Helmen reflektiert, ihre traditionellen Piken schimmerten bedrohlich – eine Mauer aus edlem Purpur gegen verdrecktes Weiß und Rot. Im Rücken der Purpurnen baumelten die Opfer der Aaseiche an ihren Ästen.
Darius nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, die er aus der Taverne hatte mitgehen lassen und trank den gepanschten Wein wie Wasser. Wieder war da dieser unterschwellige Wunsch nach Balduins scheinbar magischem Getränk und vor allem dem Opium. Wonach er sich aber noch viel mehr sehnte war eine wirklich nahrhafte Mahlzeit und eine warme Decke.
Und ein gottverdammtes anderes Bein.
Über dem Lager, auf dem Hügel, leuchteten hier und da, in Fenstern und auf der Straße, die Lichter von Erzherz durch die Breschen in der zerschossenen Stadtmauer wie ein eigener Sternenhimmel. Die haben es dort oben bestimmt warm und an Essen mangelt es ihnen auch nicht grollte Darius in sich hinein, obwohl er es besser wusste.
Trotzdem kamen ihm beim Anblick der Lichter und der Rauchsäulen aus den Kaminen Zweifel an seinem eigenen Verstand und, zu seiner ärgerlichen Überraschung, die Worte der beiden Vögel in den Sinn.
Ich muss wirklich verrückt sein, dass ich diesem Elend wie ein treudummer Köter hinterher laufe. Warum haue ich nicht einfach ab und gehe irgendwohin, wo es ruhiger ist?
Der Wind pfiff pfeifend durch die kahle Baumkrone der Aaseiche, doch sie war es nicht, die ihn ausgerechnet jetzt von einer Flucht abhielt. Den Schrecken vor dem Tod hatte er schon lange verloren.
Vielleicht ist es eine selbst auferlegte Buße…es könnte Reue sein das Beutelchen mit den Fingerknochen seines Sohnes drückte sich unter der Uniform kalt an seine Brust. Er hatte Frederick damals nicht helfen können, als die Soldaten kamen. Es musste Reue sein, die ihn weiter antrieb.
Ich hätte ihm damals helfen sollen und habe es nicht getan. Dies hier ist meine Art der Selbstbestrafung…ja.
Trotzdem blieb dieser beißende Zweifel an seinem Tun.
Der Schall einer Trompete ertönte und kündigte die Ankunft des Königs an, die Darius von weiteren Gedanken in dieser Richtung abhielt. Die Menge wurde ruhig und die Purpurnen standen noch strammer, falls dies überhaupt möglich war.
Mit kleinen Schritten betrat König Adam, ein hagerer Junge mit strohblondem kurzem Haar, den Podest, ihm folgten Marschall Ergald und zwei Soldaten der Purpurnen. Alle Augen hingen an dieser kleinen Gruppe. Der junge König war ebenfalls in eine Maßgeschneiderte Uniform seiner Garde gekleidet, doch wirkte sie in diesem Umfeld und bei seiner Erscheinung fehl am Platz. Adam beobachtete ängstlich die riesige Menge der schweigenden Soldaten, seiner schweigenden Soldaten, und es schien einen Moment so, als wolle der junge König etwas sagen. Dann aber trat er schüchtern einen Schritt zurück und machte so Platz für seinen Vormund Ergald.
Grauwolf verdiente den Spitznamen, den er von den Soldaten erhalten hatte, tatsächlich. Seine Uniform war grau, geziert nur durch einen einzigen goldenen sternförmigen Orden, und sein struppiges graues Haar ging in einen mächtigen Backenbart über, der sein kantiges Gesicht zierte. Der Marschall hätte tatsächlich ein Wolf sein können, nicht nur vom Aussehen.
Für einen unendlich langen Moment der Stille ließ Ergald seinen durchdringenden Blick über die abgekämpfte Menge schweifen, dann begann er zu sprechen und es klang wie ein Knurren.
„Hunde, Ratten und Offiziere heute ist ein schlechter Tag, ich weiß. Aber morgen…morgen wird ein guter Tag, denn seine Majestät der König hat entschieden, dass wir dem elenden Rebellenpack den Todesstoß versetzen, indem wir Herz und Hirn ihrer Bewegung vernichten“ Grauwolf deutete mit ausgestrecktem Arm gen Erzherz, seine Lichter und zusammen geschossenen Mauern.
„Ihr Anführer Pavelon, der Graf Hector und der Hetzer Freifeder befinden sich hinter diesen brüchigen Mauern. Mit ihnen hat dieser elende Krieg, der euch alle so viele Opfer abverlangt hat, angefangen und mit ihrem Tod wird er enden“ hier und da erklangen Jubelrufe und Grauwolf machte eine Pause, bevor er weiter sprach:
„Ihr alle kennt das Märchen vom großen Ritter Pavelon und seinen Heldentaten und man sagt, dass dieser Pavelon ein mindestens genauso großer Held ist. Die Rebellen behaupten das jedenfalls. Keiner von uns hat bisher ihn oder einen seiner Helfer gesehen, aber ich zweifle an diesem Wunderknaben. Ich zweifle an seiner mächtigen Statur, an seinem güldenen Haar und seinem legendären Mut.“
Wieder erklang Jubel, dieses Mal aus mehr Kehlen als zuvor. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Ergalds Lippen. Selbst das wirkte wölfisch.
„Morgen wird es einen harten Kampf geben, aber an dessen Ende wird ein wunderbarer Abend auf euch Geschmeiß warten. Wer mir Pavelons Mähne, Hectors Säbel und Freifeders verfluchten Federkiel bringt wird fürstlich entlohnt. Mehr hat seine Majestät nicht zu sagen. Geht ihm und mir nun aus den Augen, bereitet euch auf morgen vor und nehmt euch die Zeit euch damit abzufinden, dass euer jämmerliches Leben morgen beendet werden könnte“, wieder lächelte Grauwolf und zeigte zwei Reihen weißer Zähne, „und solltet ihr eure Sorgen doch lieber an diesem Abend beim Feiern vergessen, dann wisst ihr ja bei welchen Huren ihr euch Krankheiten holen könnt und welcher Alkohol euch erblinden lässt.“
Ohne einen weiteren Gruß drehte sich Grauwolf auf dem Absatz um und stolzierte vom Podium, gefolgt von Adam und den beiden Wächtern. Nachdem König und Marschall verschwunden waren löste sich die Menge unter lautem Getöse auf. Soldaten strömten in Massen zurück in die schlammigen Straßen der Zeltstadt, während die Purpurnen geordnet ihrem König folgten.
Auch Darius wankte aus der Menge, weg vom Podium und hin zur Aaseiche.
Direkt unter den weit auslandenden knorrigen Ästen blieb er stehen, sah hinauf zu den Toten und wäre dabei fast nach hinten gestolpert. Die Fackeln auf dem Platz warfen ihr schummriges Licht auf die Leichen. Der Soldat hatte gesagt, dass ein Kamerad aus der Neunten unter den Gehenkten war. Angestrengt und mit zusammen gekniffenen Augen suchte Darius in der Dunkelheit nach einem bekannten Gesicht, doch die meisten befanden sich bereits in einem zu fortgeschrittenen Verwesungsstadium oder waren ein Opfer der Krähen geworden. Er wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden, als ihm doch noch ein Gesicht auffiel und dieses Mal wäre Darius vor Schreck beinahe wirklich hinten rüber gefallen.
Die Krähen hatten dem Toten bereits die Augen ausgepickt und Maden tummelten sich ebenfalls in seinem Fleisch, doch trotzdem erkannte Darius noch den Mann, der dort knapp über seinem Kopf hing. Es war nicht irgendein Soldat, auch nicht irgendein Kamerad aus der Neunten, sondern Gastaf, sein vielleicht einziger Freund. Natürlich hatten in der Neunten Kompanie auch kameradschaftliche Beziehungen geherrscht, doch wirklich vertraut hatte Darius während seiner Zeit bei der Armee nur Gastaf.
Nein, nicht nur während meiner Zeit bei der Armee. Darius wusste nicht mehr, wann er Gastaf kennen gelernt hatte, aber es war schon lange her. Sie hatten zusammen rumgehurt, zusammen gesoffen und waren damals zusammen zur Armee gegangen, um zusammen diesen Krieg durchzustehen.
Jetzt hatte Grauwolf Gastaf aufknüpfen lassen und er musste diesen Weg alleine weiter gehen.
Dem Toten hatte man ein Holzschild mit der Aufschrift Verräter um den Hals gehängt. Unwillkürlich tastete Darius nach den beiden Holzschlüsseln in seiner Gürteltasche, die er Salysas Eltern abgenommen hatte.
Ob Gastaf tatsächlich zu den Rebellen gehört hatte? Oder hatte man das arme Schwein einfach nur bei der Flucht erwischt und dafür hängen lassen? Darius sah sich misstrauisch zu allen Seiten um, ob ihn jemand beobachtete, doch in der Nähe war niemand zu sehen, nur das Johlen und Lachen der Soldaten drang aus den Zelten herüber. Seufzend trat er noch einen Schritt näher und schüttelte den Kopf.
„Was hast du bloß angestellt Gastaf? Verdammt, wir haben abgemacht, dass wir nur gemeinsam draufgehen“ murmelte er und trank einen Schluck Wein. Der widerliche Geschmack ließ ihn das Gesicht verziehen.
„Auch ’nen Schluck?“ er hielt die Weinflasche in die Höhe, nur um sie gleich wieder lachend zurück zu nehmen. „Hab ich vergessen, du trinkst ja nicht mehr. Nun ja, dann trinke ich für dich mit.“
Darius setzte die Flasche an, um sie in einem Zug zu leeren, als eine Stimme über ihm ertönte.
„Sieh an Krâ, er hat neue Freunde gefunden.“
„Ja und die sind wohl schweigsamer als wir.“
Für einen grausamen Moment dachte Darius die Toten hätten zu ihm gesprochen, doch dann folgte ein Keckern und Krächzen, das er inzwischen nur allzu gut kannte. Langsam wandte er seinen Kopf nach oben.
„Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr verschwinden sollt?“ es mochte seltsam sein, doch er fühlte sich gestört in seiner Zweisamkeit mit dem toten Gastaf.
„Ja…ja so etwas in der Art hast du uns tatsächlich gesagt und eigentlich haben wir dich auch gar nicht gesucht“, in Agelsterns Schnabel hing eine kleine silberne Kette, „aber du bist ja zur Eiche gekommen, um mit den toten zu reden. Dein Gefasel stört uns beim Essen.“
Krâ konnte nur nicken, denn anscheinend verschlang er gerade einen Klumpen verwesenden Fleisches. Darius lehnte sich gegen den mächtigen Stamm der Eiche, dessen Rinde von Rillen wie Altersfalten durchzogen war, und schloss die Augen. Was hatte er nur getan, um diesen Fluch zu verdienen?
„Morgen wird es zur Schlacht kommen, werdet ihr da nicht schon genug zum fressen finden?“
„Wie du schon sagst: Es wird morgen zur Schlacht kommen, aber wir brauchen auch heute Nahrung. Du säufst ja auch nicht nur morgen mein Lieber.“
„Bitte versprich mir, dass sich unsere Wege morgen endgültig trennen und ihr wieder Malvander auf die Nerven geht. Obwohl ich die Schlacht mit meinem zerschossenen Bein wohl kaum überleben werde.“ Darius wunde war längst brandig geworden und er begann unter Fieberträumen zu leiden.
„Sehr gut, dann sehen wir uns ja im Jenseits wieder.“
„Ich wusste immer, dass ich im Jenseits für meine Taten bestraft werden würde, aber dass es so geschieht…“
Mit einem dumpfen Geräusch landete ein kleines Säckchen direkt vor Darius’ Füßen. Der Soldat hob es überrascht auf und öffnete die Kordel, die es verschloss. In dem Säckchen befanden sich kleine schwarze Kügelchen, die Darius bekannt vorkamen. Mit spitzen Fingern fischte er eine heraus.
„Vielleicht kann dieses Mittelchen dein Dasein ein wenig erleichtern. Opium. Tu es in deinen Schnaps und deine Welt wird rosiger. Ein kleines Abschiedsgeschenk von Krâ und mir, frag nicht, wo ich es her habe.“
Über sich hörte Darius das schmatzende und reißende Geräusch, als Krâ ein weiteres Stück Fleisch verschlang.
Morgen könnte ich ihre Mahlzeit sein…zum zweiten Mal.
Er verstaute das Beutelchen in einer seiner Gürteltaschen und humpelte davon. Vielleicht war es an der Zeit sich hinzulegen, denn der morgige Tag würde anstrengend genug werden.
„Danke“ murmelte er.
Grauwolf dachte nach.
Eigentlich hatte er früh zu Bett gehen wollen, doch hatte ihn davon ein später Besucher abgehalten. Nun saß der alte Marschall mit halb geöffneter Uniformjacke in seinem Diwan, die Beine auf dem Kartentisch.
„Sprechende Krähen sagst du?“
„Ja, in der Tat. Sie wissen selber Herzog, dass es von dieser Spezies Vögel nicht viele geben dürfte, tatsächlich berichten die Märchen nur von zweien“ antwortete der späte Gast, ein dreckiger Soldat, dessen Haar lang und ungewaschen und dessen Gesicht mager und von tief in den Höhlen liegenden Augen geziert war.
Grauwolf runzelte die Stirn. Der Mann hatte das Märchen von Malvander, der Krähe Krâ und der Elster Agelstern und dem Seelenzirkus erzählt. Ein Kindermärchen, aber der Marschall war nicht so dumm es als ein solches abzutun. Mit Märchen und seltsamen Geschehnissen hatte dieser ganze Krieg erst angefangen.
„Interessant. Bitte setz dich Tassilo.“
Der Soldat tat wie ihm geheißen und ließ sich mit seiner verschmutzten Uniform, auf der man das königliche Weiß nur noch erahnen konnte, auf dem teuren Stoff eines zweiten Diwans nieder.
„Und ein Soldat hat sich mit ihnen unterhalten? Unter der Aaseiche?“
„Er ist dort nach der Versammlung hingegangen. Erst hat er zu einem der Toten gesprochen, dann zu den beiden Vögeln. Er ist erst heute im Lager eingetroffen, sein Name ist Darius.“
Grauwolf nickte bedächtig und strich sich über den stattlichen Backenbart.
„Der Tote mit dem er geredet hat war ein Verräter nehme ich an?“
„Gehenkt für Spionage im Dienst des Feindes“ Tassilo kratzte sich das stoppelige Kinn.
„Dann könnte dieser Darius auch gefährlich für uns sein, anscheinend kannte er ja den Toten“ Ergald nahm eine Kristallkaraffe von einem nahen Tischchen und goss sich ein Glas Branntwein ein.
„Mit Verlaub Herzog“, Tassilo lächelte und entblößte dabei zwei Reihen verfaulter Zähne, „aber denken Sie wirklich, dass uns dieser rüpelhafte Kerl und zwei sprechende Tiere gefährlich werden könnten?“
Es war der ruhige, aber dennoch durchdringende Blick des Marschalls, der sein Lächeln sofort verschwinden ließ.
„Um diesen Darius mache ich mir weniger Gedanken, es ist eher der Einfluss der beiden Tiere auf diesen Kleingeist, den ich fürchte. Ich weiß, dass auch du dazu neigst es als albernes Märchen und Hirngespinst abzutun Tassilo, aber ich rate dir es nicht zu tun.“
„Seien Sie unbesorgt Herzog, ich sehe aus wie eine von den Ratten da draußen, aber ich bin bei weitem nicht so dumm. Es ist alles nur ein Spiel“ schmunzelte Tassilo, schlenderte herüber zu dem kleinen Tischchen und genehmigte sich ebenfalls einen Kelch voll Wein. Grauwolf registrierte dies mit Missfallen, unterließ aber eine Bemerkung. Stattdessen prostete er Tassilo zu und nippte an seinem Glas.
„Dann führe deine Arbeit fort, hier ist eine interessante Entwicklung im Gange. Ab jetzt bist du der Schatten, den dieser Darius und seine Federviecher werfen.“
Die ganze Nacht hatte er noch in Balduins und Wermuts Gesellschaft in der Grünen Laterne verbracht und bis in die frühen Morgenstunden getrunken, während sich die Vögel um Salysa gekümmert hatten. Darius konnte sich nicht mehr erinnern was er alles an diesem Abend getrunken hatte und wenn er ehrlich zu sich war, so wollte er es auch gar nicht wissen.
Trotz zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf waren sie am Mittag dieses Tages wieder aufgebrochen, um die Stadt Erzherz so schnell wie nur möglich zu erreichen.
Erzherz war eines der großen Industriezentren des Königreiches mit seinen Bergwerken und Fabriken und lag hoch oben auf einem Hügel, dessen Adern aus Erz das Überleben der großen Stadt ermöglichten. Zum Unglück des Reiches hatten die Rebellen die Stadt vor einigen Jahren erobert und hielten sie nun verzweifelt gegen eine bereits drei Jahre andauernde Belagerung. Erzherz war auch für Pavelon, den legendären Führer der Rebellion, ein wichtiger Ort, denn die Stadt war einerseits strategisch wichtig und andererseits einer der letzten Zufluchtsorte für die Rebellion, die den Krieg so gut wie verloren hatte.
So schleppte sich Darius nun in Begleitung von Krâ und Agelstern durch das schier endlose Weideland aus dessen im Wind wogenden Wiesen nur hin und wieder eine Baumgruppe hervorstach. Wahrscheinlich war seine Kompanie schon längst in Erzherz angelangt und vielleicht hatten sie bereits die Stadt erobert und hatten das Recht zur Plünderung bekommen, immerhin wurde gemunkelt, dass die Rebellen in Erzherz kurz vor der Kapitulation standen.
Darius grunzte verächtlich bei dem Gedanken an die entgangene Plünderbeute und richtete seine geröteten Augen auf den weiten Horizont, der vor ihm lag. In der Ferne konnte man bereits die hohen Bergketten des Nordens ausmachen und das Land begann anzusteigen, womit auch der Marsch immer beschwerlicher wurde. Noch immer hatte er keine Möglichkeit gefunden die Kugel aus seinem Bein zu entfernen, wodurch sich die Wunde bereits stark entzündet hatte und jeder Schritt zur Qual wurde.
Auch die beiden Vögel waren keine Hilfe.
„Weißt du, wenn du anfängst zu kriechen könntest du deine Geschwindigkeit noch um einiges verringern“ keckerte Agelstern.
„Bisschen viel getrunken, hm?“ krächzte Krâ.
Aus zusammen gekniffenen Augen warf Darius einen Blick gen Himmel, der sich wie immer in den letzten Tagen düster und verhangen präsentierte und nur einige wenige zaghafte Sonnenstrahlen durchließ. Vor diesen Wolkenbänken kreisten Krâ und Agelstern mit ausgebreiteten Schwingen und blickten spöttisch auf ihn herunter.
„Seid froh, dass ich keine Munition mehr habe“ rief Darius gegen den aufkommenden Sturm an und fuchtelte mit seinem Vorderlader, den er nur noch als Gehstock benutzen konnte.
„So viel wie du gesoffen hast könntest du jetzt noch nicht wieder zielen…falls du es jemals konntest“ kam sofort die Antwort von hoch oben.
Darius stieß eine unhörbare Verwünschung aus und bewegte sich in einer Mischung aus Gehen und Humpeln weiter. Lange konnte er sein Bein auf diese Weise nicht mehr belasten, wahrscheinlich durfte er es auch jetzt schon nicht mehr, und würde noch Tage brauchen, bis er Erzherz endlich erreichen würde. Krâ und Agelstern, konnten sich von den starken Winden tragen lassen und taten dies auch ohne jegliche Rücksicht auf ihn, doch was Darius sich in diesem Moment wünschte war ein schnelleres Transportmittel, wie ein Pferd oder…
„Da vorne verläuft etwas mitten durch das Grasland, sieht aus wie riesige Holzbalken, die man einfach in die Landschaft geworfen hat“ rief Krâ.
Für einen kurzen Moment erlaubte sich Darius den Luxus aufkeimender Hoffnung.
…oder die Qualmwalze.
„Was du da siehst sind Schienen, wir halten weiter auf sie zu“ entschied er und war zum ersten Mal froh über die Anwesenheit der Vögel und ihrer scharfen Augen.
Die Qualmwalze war eine noch junge Erfindung der königlichen Wissenschaftler und Alchemisten und dazu ein stählernes Monstrum. Befeuert mit Holz und Kohle konnte es eine unglaubliche Geschwindigkeit entwickeln, die jedes Pferd übertraf und seine Passagiere schnell von einem Ort zum anderen transportieren konnte. Bisher wurde die Qualmwalze allerdings nur als Transportmittel für die Soldaten seiner Majestät und wenige gut betuchte Bürger und Adlige benutzt.
Seinen Namen hatte das Ungetüm seinem brachialen Auftreten und den endlosen stinkenden Rauchsäulen zu verdanken. Wo die Qualmwalze auch erschien sorgte sie durch ihre Gier nach Holz für Verwüstungen und abgeholzte Wälder.
Diese dezenten Nachteile der Walze überging Darius in diesem Moment aber geflissentlich. Er war ein verletzter Soldat und musste schneller an sein Ziel gelangen. Die Aussicht auf die Erfüllung dieses Wunsches ließ ihn seinen Schritt trotz der Schmerzen beschleunigen und auch Krâ und Agelstern hielten nun zielstrebig auf die Schienen zu, die sich wie eine gewaltige Narbe durch das weite Grasland zogen. Bald schon tauchte auch ein windschiefes einstöckiges Holzhaus mit Nebengebäuden aus dem Gräsermeer auf, von dem Darius vermutete, dass es als Haltestation und Proviantlager für die Qualmwalze diente.
Erleichtert fuhr sich Darius durch das lange fettige Haar. Auch er musste irgendwann einmal Glück haben.
„Nach Erzherz? Da haben Sie aber Glück mein Herr, die Walze müsste bald hier eintreffen“ der kleine Mann, der Schaffner der Station, sah Darius über den Rand seiner Brille hinweg an, während er die silberne Taschenuhr wieder in seiner Brusttasche verstaute. „Wenn ich mir allerdings diese Bemerkung erlauben darf: Sie sehen grauenhaft aus, ein Glück dass sie hierher gefunden haben. An ihrer Stelle würde ich auch mal diese beiden Vögel loswerden, die warten ja nur darauf, dass sie tot umkippen.“
Darius knurrte belustigt und ließ sich auf eine morsche Holzbank vor dem Stationshäuschen fallen, die daraufhin protestierend ächzte.
„Sie kennen hier in der Gegend nicht zufällig einen Arzt oder?“ fragte er und rieb sich unbewusst die schmerzende Wunde.
Der Schaffner sah sich suchend um und zog eine buschige Augenbraue in die Höhe.
„Sehen Sie hier weit und breit ein anderes Gebäude als diese Hütte? Tut mir leid mein Herr, aber Sie befinden sich hier weit ab von jedem Arzt“, einen Moment zögerte der kleine Mann und strich seine blaue Schaffneruniform glatt, „aber wollen Sie mir nicht verraten, wie Sie in diese Misere geraten sind?“
„Sie sind außer mir der einzige Mensch auf diesem Bahnsteig und trotzdem will ich es ihnen nicht erzählen. Und jetzt halten Sie die Fresse und lassen mich nachdenken! Müssen Sie nicht vielleicht eine ihrer Uhren richtig stellen?“ Darius betrachtete spöttisch die unzähligen Taschenuhren des Schaffners, die aus ebenso unzähligen Taschen hervorlugten und wie ein Orchester aus Zahnrädern tickten und klickten.
„Eine Unverschämtheit! Pünktlichkeit muss sein, da darf man sich nicht nur auf eine Uhr verlassen. Ich habe hier alle Uhrzeiten dieser Welt, wollen Sie etwa nicht wissen wie spät es am anderen Ende unseres Kontinents ist?“
„Nein.“
Der kleine Mann rümpfte die Nase und stolzierte meckernd in das Innere der baufälligen Hütte. Krachend fiel die Tür ins Schloss.
Krâ und Agelstern begannen auf seinen Schultern krächzend zu lachen.
„Fangt ihr beide nicht auch noch an mich mit eurem Geplapper zu nerven!“
„Also wirklich Darius, du hast den armen Mann verärgert, dabei wollte er doch nur nett mit dir reden“ tadelnd wackelte Krâ mit dem Kopf hin und her.
„Ja, und außerdem hatte er da ein paar hübsche Uhren. Natürlich interessiert mich nur, wie spät es woanders auf der Welt ist. Die eine goldene hat zum Beispiel eine nette Uhrzeit angezeigt…“ Agelstern versuchte mit glitzernden Augen durch die dreckigen Scheiben einen Blick in das Stationshäuschen zu werfen.
Bevor Darius auch nur ein einziges Wort erwidern konnte ertönte in der Ferne ein dumpfes Grollen, gefolgt von einem infernalischen Zischen. Als Darius erschrocken aufblickte bemerkte er, wie einige Kieselsteine zu seinen Füßen anfingen zu zittern und dann auf und ab zu springen.
Etwas Großes kam. Etwas sehr Großes.
Auch Krâ und Agelstern waren ehrfürchtig verstummt und blickten starr gen Horizont, an dem nun ein stählernes aber doch rasend schnelles Ungetüm auftauchte, das aus drei großen Schornsteinen tiefschwarzen Rauch ausstieß. Wie in Trance erhob sich Darius von der Bank und beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken, wie die Qualmwalze dröhnend heranpreschte, ihre Geschwindigkeit aber immer weiter zu drosseln schien.
Schließlich fuhr das Ungetüm zischend in den Bahnhof ein und kam zum Stillstand.
Darius’ Blick wanderte an der Qualmwalze hoch. Er war zwar schon lange Soldat, doch hatte er noch nie eine Walze zu Gesicht bekommen.
Sie überragte das Stationshäuschen um mehrere Meter und war komplett aus tiefschwarzem Stahl gebaut. Auch jetzt, da sie stand, ging von ihr eine unheimlich gewaltige Energie aus, so als pulsiere etwas in ihrem Inneren und dränge sie dazu gleich wieder loszubrechen.
Darius warf einen weiteren Blick an ihrer Seite entlang und entdeckte mindestens zwanzig ebenfalls massige und nachtschwarze Wagons, die von der Walze gezogen wurden. Aus ihnen drang Gesang und der Lärm von vielen Männerstimmen. Hin und wieder schaute jemand nach draußen, um zu sehen was vor sich ging.
Soldaten des Königs ging es Darius durch den Kopf. Endlich war er auf dem richtigen Weg.
„He, du da!“ ertönte plötzlich eine raue Stimme mehrere Meter über ihm.
Darius schaute nach oben und sah sich dem abschätzenden Blick eines Hünen gegenüber. Über den breiten Schultern des Mannes spannte sich eine Uniform, deren Weiß aber unter mehreren Schichten Kohlenstaub verschwunden war. Genauso schwarz wie seine Kleidung war das Gesicht des Mannes, das zur Hälfte von einem roten Mundschutz verborgen wurde. Die prankenartigen Hände steckten in dicken schwarzen mit Nieten besetzten Lederhandschuhen.
„Starr nicht so blöde in der Gegend rum, sondern spring auf! Siehst aus wie einer von uns“, kurz zögerte der Hüne und betrachtete Darius eingehender, „na ja jedenfalls haste ma’ so ausgesehen. In Erzherz können wa’ jeden Mann und jede Waffe gebrauchen, also rauf mit dir! Und beeil dich, ich will das Schätzchen hier nich’ endlos stehen lassen.“
Darius zögerte nicht, sondern rannte an der Walze vorbei und sprang auf den nächsten Wagon auf, während sich das Ungetüm bereits wieder zischend in Bewegung setzte. Krâ und Agelstern flatterten protestierend auf, folgten ihm aber ins Innere.
Obwohl die Tore des Wagons weit aufstanden drang nur wenig Licht in seine hinteren Ecken und so erkannte Darius lediglich einen ganzen Haufen Soldaten nur als Schemen, die sich gelangweilt auf dem ausgestreuten Stroh fläzten, ihre Waffen reinigten, tranken oder sich lachend unterhielten und zotige Witze rissen. Niemand schenkte ihm große Aufmerksamkeit und so kauerte sich Darius ebenfalls an die Wagonwand und betrachtete die Landschaft, die sich in verschwommene Schemen verwandelte je mehr Geschwindigkeit die Dampfwalze aufnahm.
Wie er so die Männer beim Trinken beobachtete, überkam auch ihn wieder eine Lust nach berauschenden Stoffen. Mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken stellte er fest, dass es aber keineswegs sein Wunsch nach Schnaps war, der sich meldete, sondern das unterschwellige Verlangen nach Balduins Opiaten. Sie hatten ihn grausame Dinge sehen lassen, wirkten aber gleichzeitig doch so beruhigend.
Krâ und Agelstern waren von seinen Schultern gehüpft und hatten es sich im dreckigen Stroh bequem gemacht, das sie mit dem alten Köter eines anderen Soldaten teilten. Beide schwiegen zu Darius’ Erleichterung, wahrscheinlich hielten sie es nicht für ratsam, dass noch jemand ihr Geheimnis erfuhr.
Darius wurde von raschelndem Stroh aus seinen Gedanken gerissen, als sich jemand neben ihm nieder ließ. Er war froh über diese unerwartete Ablenkung, denn in letzter Zeit war er für seinen Geschmack viel zu oft alleine mit seinen finsteren Gedanken.
„Siehst ja furchtbar aus“ meinte der Fremde, dessen Gesicht Darius nur zur Hälfte erkennen konnte. Was er allerdings sah ließ auf ein längliches mageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und tief in ihren Höhlen liegenden Augen schließen.
„Wenn du auf ’nem verdammten Schlachtfeld wieder zum Leben erwachst würdest du auch nicht besser aussehen“ erwiderte Darius knapp.
Der Fremde lachte.
„Auch nen Schluck?“ er reichte eine Feldflasche herüber, deren Inhalt verheißungsvoll gluckerte.
Darius nickte zur Antwort, nahm einen großen Schluck und schluckte den warmen Schnaps herunter.
„Sieht gar nich’ gut aus.“
„Was?“
„Na, dein Bein. Sieht aus als würd’s aus mehr Eiter als Fleisch bestehen.“
„Eine Schusswunde, die Kugel steckt noch drin“ Darius nahm noch einen Schluck aus der Feldflasche und gab sie dem anderen zurück.
„Scheiße, willst du dich selber umbringen? Ich hatte mal ne Schwester, die wurde von ’nem Fuchs gebissen. Das Biest war tollwütig oder so was, jedenfalls wollte meine Schwester das auch nich’ behandeln lassen, meinte, dass man das auch mit Kräutern behandeln könnte. Tja, am Ende musste mein Vater ihr ne Kugel durch den Kopf jagen, weil sie verrückt geworden ist“ der Fremde lachte, ahmte das Geräusch einer abgefeuerten Kugel nach und steckte die Feldflasche zurück an seinen Gürtel.
„Mein Name is’ übrigens Messer“ der Mann spuckte neben sich auf den Boden.
„Darius.“
„Hast verdammtes Glück Darius, dass du mit deinem Krüppelbein hier gelandet bist. Ich bin Feldscher.“
Darius schwieg einen Moment und betrachtete sein lädiertes Bein. Ob sich Messer als Glück herausstellte würde sich zeigen.
„Kannst du mein Bein behandeln?“
Im Halbschatten sah Messer ihn aus großen Augen an.
„Die Ruine?“, er begann zu lachen, „verdammt, die würd’ niemand wieder hinbekommen. Nein, ich kann dir das Bein abhacken, aber wenigstens wirst du dann nich’ dran verrecken.“
Darius fluchte leise und knallte seinen Hinterkopf gegen die Stahlwand.
„Kannst du nicht erst einmal nur die Kugel rausholen? Ich häng so sehr an meinem Bein.“
Messer zuckte mit den Schultern.
„Kann ich machen, wenn du unbedingt an der scheiß Wunde verrecken willst.“
„Irgendwo verrecke ich doch so oder so.“
Messer kicherte und schnalzte mit der Zunge.
„Verdammt richtig…he, Trenker, gib’ mal meine Tasche rüber!“
Der Angesprochene grunzte und warf Messer eine alte speckige Umhängetasche rüber, die laut klirrte, als sie auf dem Boden aufkam.
Messer schlug sie auf und begann sofort eifrig in ihr nach den benötigten Utensilien zu wühlen. Darius fluchte ein weiteres Mal, als er sah, welche Gerätschaften ihn von der Kugel in seinem Beim erlösen sollten. Der Feldscher legte eine Pinzette und mehrere rostige Skalpelle fein säuberlich vor sich auf den Boden und fischte zuletzt noch eine wesentlich klobigere Zange aus der Tasche.
„Falls die scheiß Kugel sich sträubt“ erklärte er grinsend und legte die Zange zu den anderen Werkzeugen. Dann reichte er Darius wieder die Schnapsflasche und drückte sie ihm fest in die Hand.
„Trink sie komplett leer, sauf meinetwegen den ganzen Schnaps. Du brauchst ihn gleich dringender als ich.“
Nur zu gern tat Darius wie ihm geheißen, doch als sein Kopf benebelt nach vorne sackte und Messer mit seiner Arbeit begann, hörte man seine Schreie trotzdem durch die halbe Walze.
Darius betastete den neuen Verband, der sich bereits wieder mit tiefrotem Blut gefärbt hatte.
Irgendwann war er vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen und erst vor wenigen Minuten wieder zu sich gekommen. Immerhin hatte er die Folter hinter sich gebracht.
„Hast geblutet wie ein Schwein“ sagte Messer und wischte sich seine dreck- und blutverschmierten Hände an einem ebenso schmutzigen Tuch ab.
Zur Antwort konnte Darius nur nicken, denn er fühlte sich auch so schwach, als hätte er literweise Blut verloren. Der durch den Schnaps hervorgerufene Rausch hatte sich längst verflüchtigt.
Hatte irgendeiner der anderen Soldaten dem Schauspiel Aufmerksamkeit geschenkt, so war ihr Interesse inzwischen schon wieder verflogen.
„Wie weit…ist es noch bis nach Erzherz?“ brachte Darius über seine Lippen.
„Vielleicht noch einen Tag, vielleicht auch etwas weniger. Kannst bald schon den Donner unserer Kanonen hören“, er lachte leise, „du hattest nicht wirklich vor den ganzen Weg noch zu Fuß zurück zu legen, oder?“
„Scheiße, nein. Eigentlich wollte ich auf halbem Weg meine Flügel ausspannen und zur Stadt rüberflattern.“
Messers Lachen wurde lauter.
„Die Kugel ist jedenfalls draußen, aber auf kurz oder lang wird dir das Bein trotzdem abgenommen werden müssen oder du gehst drauf.“
„Ich werd’s mir merken.“
Plötzlich geriet Tumult und Aufregung in die versammelten Soldaten, als die Walze ruckelnd und unter lautem Getöse anhielt und alle Insassen durchgeschüttelt wurden. Krâ und Agelstern krächzten überrascht auf und wurden durch den halben Raum geschleudert ehe sie mit einigen Flügelschlägen das Schlimmste vermeiden konnten. Der alte Hund fing an zu bellen.
Darius versuchte sich aufzurichten, doch gab sein schwaches Bein sofort wieder unter ihm nach.
„Was ist da los?“ wollte er von Messer wissen, der seinen Kopf bereits nach draußen gesteckt hatte.
„Anscheinend verlangt das eiserne Monstrum mal wieder nach seinem Futter und die Qogal gehen los, um Nahrung für die Bestie zu finden. Sieh selbst“ Messer half Darius auf die Beine und zog ihn zur Wagontür.
Als Darius dem Blick des Feldschers folgte sah auch er die Qogal, es waren mindestens dreißig, die mit Äxten und Sägen bewaffnet aus allen möglichen Öffnungen der Walze strömten und sich flink der nächsten Baumgruppe näherten.
Die Qogal besaßen menschliche Gestalt, vielleicht waren sie sogar menschlich, ihre Haut jedoch war gräulich, ihr Haarwuchs spärlich und ihr Körper größer und schlaksiger als der eines Menschen. Dennoch besaßen die Qogal erstaunliche Kraft, die sie zu brauchbaren Arbeitern für das Reich machte. In seiner Zeit als Soldat hatte Darius schon häufig mit ihnen zu tun gehabt und so war er an ihren Anblick gewohnt.
Trotzdem war dieses Volk die seltsamste Erscheinung, die er, und wohl jeder andere Mensch auch, jemals gesehen hatte. Das lag weniger an ihrem Erscheinungsbild als vielmehr an der Tatsache, dass die Qogals die einzigen Lebewesen waren, die aus dem Tod ins Leben traten. Schon lange arbeiteten sie fleißig und geflissentlich in den Diensten des Königreiches, doch hatte kein Forscher und kein Entdecker jemals mehr über sie herausgefunden. Wo genau sie aus der Welt der Toten in die der Lebenden übertraten und wie ihre Geburt aussah wusste niemand.
Aus der Sicht eines Qogal war die Situation sogar noch komplexer: Was die Menschen als „Leben“ betrachteten verdiente diesen Ausdruck eigentlich gar nicht. So wie die Qogal aus dem Tod traten, kamen die Menschen aus dem Leben, und so wie die Qogal diesem Leben zustrebten, wanderten die Menschen auf den Tod zu. Die Phase dazwischen, dieses „Leben“, war nur eine Straße, die man gehen musste und zu ertragen hatte. Dies erklärte auch die Fähigkeit der gräulichen Wesen jegliche Arbeit, die man ihnen auferlegte zu ertragen und auszuführen – ganz im Sinne des Reiches.
Jede Diskussion über dieses Thema zwischen Qogal und menschlichem Philosoph war aber bisher in einem handfesten Debakel geendet.
Inzwischen ertönte aus dem nahen Wäldchen das dumpfe Pochen und Rasseln von unzähligen Sägen und Äxten und bald darauf das erste Krachen eines fallenden Baumes. Unzählige Qogals machten sich einer Ameisenschar gleich über die gefällten Bäume her und zerlegten sie erstaunlich schnell in Einzelteile, die zurück zur Qualmwalze gebracht wurden. Darius betrachtete das Schauspiel, bis von dem kleinen Wäldchen nur noch Baumstümpfe und einige kümmerliche Bäumchen übrig geblieben waren, der Rest sollte dem stählernen Monstrum als Nahrung dienen.
Als die Öfen befeuert wurden erklang ein gieriges Fauchen und nach einiger Zeit setzte sich die Walze behäbig in Bewegung. Bald schon spieen die drei großen Schornsteine wieder tiefschwarzen Rauch in den mittäglichen Herbsthimmel und die Qogals verschwanden irgendwo im Inneren des Gefährts.
Darius war wieder an seinen Platz auf dem Boden zurückgekehrt, um sein Bein zu schonen und Messer gesellte sich nun an seine Seite. Auch Krâ und Agelstern sowie Messers Hund hatten sich wieder beruhigt.
„Gehören die Vögel zu dir?“ der Feldscher betrachtete Krähe und Elster interessiert, die versuchten möglichst normal zu wirken.
„Ja, leider. Sie sind mir irgendwann zugelaufen und geblieben, als ich sie gefüttert hab“ log Darius teilweise.
„Der alte Köter hier“, Messer wies auf den Hund, „den hab ich auch gefunden. War verletzt und ich hab ihm geholfen, seitdem läuft er mir überall hinterher. Aber das ne Krähe und ne Elster so anhänglich werden, davon hab ich noch nie gehört.“
Der Feldscher schüttelte kichernd den Kopf.
„Mir wär’s auch lieber, wenn die beiden einfach verschwänden, aber vielleicht kann man sie doch noch mal essen oder so“ Darius grinste und meinte ein empörtes Krächzen von Krâ zu vernehmen.
„Wenn wir in Erzherz ankommen solltest du die Viecher verstecken, falls du sie noch essen willst, sonst werden die dir ruckzuck weggenommen. Die Jungs da unten haben nichts mehr zu fressen. Da fragt man sich wer eigentlich wen belagert und aushungern will.“
„Wunderbar, klingt genau nach dem Leben das ich so liebe.“
„Wenn du Glück hast is’ bald alles schon vorbei. Sieht nich’ so aus, als würden die Rebellen in Erzherz es noch lange machen. Wenn die Stadt erstmal kapituliert ist der Krieg vorbei und wir können alle wieder nach Hause, nach so langer Zeit. Aber noch halten die Rebellen aus, sind ganz schön zäh die Hunde. Aber das ist ja auch kein Wunder, denn Pavelon selber führt sie an, der Führer der Rebellion. Schön und tapfer soll er sein, wie die Helden in den alten Sagen und Märchen.“
„Ja…vielleicht“ inzwischen dauerte die Rebellion, nein, der Bürgerkrieg, wie sich Darius selber berichtigte, schon zehn Jahre und am Anfang hatte er auch noch ein zu Hause gehabt, in das er hätte zurückkehren können.
Aber inzwischen sind sie alle tot ging es ihm durch den Kopf und automatisch fuhr seine Hand zu dem Lederbeutel um seinen Hals, der die Knöchelchen seines Sohnes beinhaltete. Auch Messers Blick fiel auf das Säckchen.
„Was’n das für ein Beutel?“
„Was?“ Darius schreckte aus seinen Gedanken auf, er hatte gar nicht bemerkt, dass seine Hand den Lederbeutel umschlossen hielt. „Oh das ist eine letzte Erinnerung an meinen Sohn, er ist schon sehr früh im Krieg gestorben, ganz zu Beginn. Er war acht“ die Worte waren gesprochen, ehe Darius sich entschieden hatte, ob er es überhaupt erzählen wollte.
„Scheiße…“ Messer nickte mitfühlend und klopfte ihm auf die Schulter. „Wäre schöner für dich, wenn dir die verdammten Rebellen ne Kugel zwischen die Augen jagen, was?“
„Solange sie dieses Mal vernünftig treffen und mir nicht nur wieder das halbe Bein wegschießen…“
Das Rattern und Fauchen der Qualmwalze und die Unterhaltungen der anderen Soldaten füllten die folgende Stille. Schließlich erhob sich Messer ächzend.
„Bald werden wir Erzherz erreichen und wer weiß, vielleicht hast du ja Glück und du gehst drauf. Aber kann ich eine Bitte an dich richten?“
„Was willst du?“
„Wenn du da draußen wirklich stirbst, krieg ich dann die beiden Vögel? In solchen Zeiten wär’s schade um so ein leckeres Essen.“
Darius erwachte aus seinem Schlaf, als die Walze langsamer wurde und die Soldaten um ihn herum in Hektik ausbrauchen. Die letzten Stunden der Fahrt hatte er genutzt, um den Schlaf nachzuholen, der ihm in der Nacht verwehrt geblieben war, doch nun fühlte er sich noch müder und kraftloser als zuvor.
Nur langsam kam er gähnend auf die Beine, während um ihn herum Männer ihre Rucksäcke schulterten, nach ihren Waffen griffen und ihre Tschakos aufsetzten. Der Lärm der Walze wurde durch den von Stimmen und klackernden Stiefeln ersetzt.
Schließlich kam das Gefährt zum stehen und Darius wurde gemeinsam mit Messer und Krâ und Agelstern aus dem Wagon gespült. Die Soldaten um ihn herum waren größtenteils bestens ausgerüstet und trugen rein weiße Uniformen, er dagegen trug mehr Blut und Dreck als Stoff am Leib und besaß lediglich einen schartigen Dolch und ein Gewehr mit dem man höchstens noch zuschlagen konnte. Zudem saßen eine Krähe auf seiner linken und eine Elster auf seiner rechten Schulter.
Unter den gebrüllten Anleitungen von Offizieren in ihren mit goldenen Troddeln besetzten Uniformen und den roten Umhängen schwärmten die Männer in Gruppen geordnet aus.
Darius bevorzugte es sich heimlich von Messer und den restlichen Neuankömmlingen zu trennen und das Lager auf eine Faust zu erkunden. Offiziere hatte er noch nie sonderlich gemocht.
So tauchte er ein in ein Meer aus Zelten und Unterständen, das sich endlos weit hinzog. Aus seiner Mitte erhob sich ein gewaltiger steiniger Hügel auf dessen Rücken die Stadt Erzherz thronte. Um den Hügel herum hatte sich eine zweite kleine Stadt gebildet. Schlammige Wege führten zwischen den Zelten hindurch von denen manche auch als Bordelle, Barbierstuben oder Tavernen genutzt wurden. Es gab sogar eine Schmiede in einer eigens errichteten Blockhütte aus der das Klirren von Stahl auf Stahl dröhnte. Auf den schlammigen, von tausenden Füßen aufgewühlten Pfaden drängelten sich Soldaten, Handwerker, Huren, Pferde und Qogal gleichermaßen und Darius musste sich mit Schultern und Ellenbogen einen Weg durch die sperrige Menge bahnen.
„Endlich sind wir wieder unbeobachtet, ich hatte schon Angst, dass ich nie wieder sprechen dürfte“ Agelstern klang wirklich erleichtert.
„Hast du gehört was dieser Messer gesagt hat? Essen will er uns! Der soll nur hoffen, dass er mir nicht im toten Zustand begegnet“ krächzte Krâ empört und plusterte sein Gefieder auf.
Darius seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht, wenn er nichts sagen würde…
„Wo gehen wir jetzt hin? Suchen wir deine tapferen Kameraden?“
„Ganz schön dreckig hier, ein netter Ort für Ratten. All der Unrat und Abfall…ich kann wirklich verstehen, dass du hierher kommen wolltest. Ehrlich.“
„Ich weiß nicht, was ihr machen werde, aber ich suche nun meine Kompanie“ brachte Darius zähneknirschend hervor und schlängelte sich zwischen einem berittenen Offizier und zwei Huren durch, die ihm obszöne Bemerkungen hinterher riefen.
„Ich glaube die beiden mochten dich, ob die wissen, dass du bettelarm bist?“ Krâ warf einen Blick zurück auf die beiden drallen Frauen. Agelstern gab Laute von sich, die wohl ein Kichern sein sollten.
Ein Krämer mit einem Handkarren wäre Darius fast hinten rein gelaufen, als dieser ruckartig stehen blieb. Die Flüche des anderen missachtend packte er Krâ und hielt die erschrocken krächzende Krähe auf Augenhöhe.
„Hör gut zu Krähe, es war die letzten paar stunden wunderbar ruhig ohne euer ständiges Geplapper und ich will, dass es ab jetzt so bleibt. Ihr geht nun wieder eurer Wege und ich die meinen. Ich kehre zu meiner Kompanie zurück und ihr zu Malvander, falls der euch überhaupt noch haben will. Hast du und dein diebischer Freund das verstanden?“
Krâ konnte nur überrascht nicken, doch von Agelstern kam ein kleinlautes „Verstanden.“
„Sehr gut“ Darius entließ Krâ aus seinem Griff und ließ die Krähe schleunigst auf einen nahen Zeltpfahl flattern. Agelstern folgte ihr.
Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen stapfte Darius weiter und wünschte sich keine Ohren zu besitzen.
„Siehst du das Krâ? Er lässt uns einfach sitzen.“
„Ja, und das, obwohl wir so viel für ihn getan haben. Oh weh, oh weh dies sind düstere Zeiten!“
„Der edle Recke wird uns noch bitterlich vermissen, jawohl.“
Als Darius um die nächste Ecke bog wurden die lamentierenden Stimmen der Vögel zu seiner Erleichterung vom allgemeinen Lagerlärm verschluckt. Er befand sich mitten in einem großen stinkenden Labyrinth, doch zum Glück wusste er genau, wo er hinwollte.
Vor seinen Augen in einiger Entfernung erhob sich eine stattliche Eiche über die Zeltstadt, deren Blätter längst vom Winterwind davon geweht worden waren. Sie markierte das Zentrum des Lagers, den Ort für Verkündigungen und Versammlungen. Zielstrebig hielt Darius auf diesen Ort zu und erreichte bald den großen Platz in dessen Mitte sich die Eiche erhob. Als der erfahrene Soldat den Baum nun vor sich sah verweilte sein Blick doch einen Moment länger auf ihm, als es normal gewesen wäre, und dies hatte einen Grund. Die Eiche mochte schon längst ihre Blätterpracht verloren haben, dafür hingen aber zuhauf frische und halb verweste Leichen an Seilen von den dicken Ästen des Baumes.
Die Aaseiche Darius hatte schon von ihr gehört. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Reich kannte sie. Die Belagerung von Erzherz dauerte nun schon drei Jahre an und in ihrem Verlauf waren viele Männer gestorben oder zu Fahnenflüchtigen und Verrätern geworden. Die Aaseiche war das grausame Schicksal, das alle jene zu befürchten hatten, die den König verrieten und gleichzeitig das Symbol für die Gräuel dieses nicht enden wollenden Krieges.
Und unser neuer König versteht ihre Bedeutung noch nicht einmal. Für ihn ist die Eiche einfach nur einer von vielen Bäumen…nur dass Tote an ihr hängen und verwesen dachte Darius.
König Rovoald hatte zu Beginn der Belagerung den Befehl dazu gegeben, um potentielle Deserteure vom Verrat abzuhalten. Leider hatte die Eiche dem König auch nicht mehr helfen können, denn genau solch ein Verräter hatte Rovoald vor einem halben Jahr erschossen. Die Krone war an seinen einzigen Sohn Adam übergegangen, einen Jungen von acht Jahren, der nicht verstand, was um ihn herum geschah.
Die Krone mag an ihn übergegangen sein, aber ansonsten hat er überhaupt nichts.
Jeder wusste es, doch keiner sprach es aus: Die Macht im Reich besaß seit dem Tod des Königs nicht etwa Adam, sondern sein selbst ernannter Vormund Herzog Ergald, Rovoalds Marschall – Grauwolf nannten sie ihn.
Der alte König hatte ihm vertraut und so tat es nun auch der Junge. Bei den Soldaten wurde der alte Wolf bewundert für seinen Mut und seine Entschlossenheit, aber gefürchtet für seine Grausamkeit und sein Auftreten. Es verging keine Woche in der Grauwolf nicht mehrere Männer hängen ließ.
Während er zu einem kleinen Podest unterhalb des Baumes herüber schritt beobachtete er, wie ein paar Jungen auf langen Leitern besonders verweste Leichen von den Seilen schnitten, um Platz für neue Unglückliche zu machen. Die restlichen Gehenkten baumelten wie ein besonders makabres Glockenspiel im Wind. Darius spuckte angewidert aus und wandte den Blick ab.
Als er den kleinen Holzpodest erreichte stand dort ein uniformierter Mann und verkündete die Anordnungen des Tages.
„…hat sich jeder Soldat heute Abend hier auf dem Platz bei der Eiche einzufinden. Seine Majestät König Adam wird das Wort an seine tapferen Streiter richten und ihnen seinen Segen für den morgigen Angriff erteilen. Seine Majestät wünscht Anwesenheit von jedermann!“
„Entschuldigung“, sprach Darius den Mann an, als dieser geendet hatte, „könnt ihr mir sagen, wo die neunte Kompanie liegt? Dritte Armee…“
Der andere Mann stieg von seinem Podest herab und sah ihn entgeistert an.
„Die neunte Kompanie? Verdammt bis jetzt wusste ich noch nicht mal, dass von denen noch einer übrig ist“, der Soldat lachte dreckig, „die Neunte hat die letzte Schlacht nicht überlebt, die wenigen Jungs, die durchgekommen sind haben sich irgend ne andere Truppe gesucht und genau das solltest du auch tun mein Freund.“
Der Mann wollte an ihm vorbei marschieren, doch Darius hielt ihn an der Schulter zurück.
„Eines noch: Habe ich das richtig verstanden, morgen findet ein Angriff statt?“
„Da hast du aber gut zugehört. Richtig, Grauwolf will Erzherz morgen fallen sehen. Ach und falls du doch noch jemanden aus deiner Kompanie sehen willst, an der Aaseiche findest du einen“ damit stapfte der Soldat davon, um seine Nachrichten auch in anderen Ecken des Lagers zu verkünden. Darius starrte ihm hinterher, sein Bein schmerzte höllisch.
Der Abend war kalt und düster über Erzherz und dem Lager hereingebrochen und Darius war bereits wieder betrunken.
Im Schein der aufgestellten Fackeln versammelten sich Soldaten und Offiziere auf dem großen Platz unter der Bluteiche und froren erbärmlich in ihren langen zerschlissenen Mänteln, während sie auf das Eintreffen des kleinen Königs und des Marschalls warteten. Darius hatte sich die Zeit bis zum Abend mit Trinken und Huren vertrieben und bahnte sich nun in einer Mischung aus Wanken und Humpeln einen Weg durch die Menge bis zu den ersten Reihen vor dem Podest, welches nun von den Purpurnen bewacht wurde, der Garde des Königs. Felsenfest, die Gesichter starr geradeaus gerichtet, standen sie da in ihren purpurnen Jacken und Mänteln und schwarzen Helmen mit goldenem Kamm und trennten die lärmende Soldatenmeute von dem kleinen Holzpodium. Der Schein der Fackeln wurde von ihren glänzenden Helmen reflektiert, ihre traditionellen Piken schimmerten bedrohlich – eine Mauer aus edlem Purpur gegen verdrecktes Weiß und Rot. Im Rücken der Purpurnen baumelten die Opfer der Aaseiche an ihren Ästen.
Darius nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, die er aus der Taverne hatte mitgehen lassen und trank den gepanschten Wein wie Wasser. Wieder war da dieser unterschwellige Wunsch nach Balduins scheinbar magischem Getränk und vor allem dem Opium. Wonach er sich aber noch viel mehr sehnte war eine wirklich nahrhafte Mahlzeit und eine warme Decke.
Und ein gottverdammtes anderes Bein.
Über dem Lager, auf dem Hügel, leuchteten hier und da, in Fenstern und auf der Straße, die Lichter von Erzherz durch die Breschen in der zerschossenen Stadtmauer wie ein eigener Sternenhimmel. Die haben es dort oben bestimmt warm und an Essen mangelt es ihnen auch nicht grollte Darius in sich hinein, obwohl er es besser wusste.
Trotzdem kamen ihm beim Anblick der Lichter und der Rauchsäulen aus den Kaminen Zweifel an seinem eigenen Verstand und, zu seiner ärgerlichen Überraschung, die Worte der beiden Vögel in den Sinn.
Ich muss wirklich verrückt sein, dass ich diesem Elend wie ein treudummer Köter hinterher laufe. Warum haue ich nicht einfach ab und gehe irgendwohin, wo es ruhiger ist?
Der Wind pfiff pfeifend durch die kahle Baumkrone der Aaseiche, doch sie war es nicht, die ihn ausgerechnet jetzt von einer Flucht abhielt. Den Schrecken vor dem Tod hatte er schon lange verloren.
Vielleicht ist es eine selbst auferlegte Buße…es könnte Reue sein das Beutelchen mit den Fingerknochen seines Sohnes drückte sich unter der Uniform kalt an seine Brust. Er hatte Frederick damals nicht helfen können, als die Soldaten kamen. Es musste Reue sein, die ihn weiter antrieb.
Ich hätte ihm damals helfen sollen und habe es nicht getan. Dies hier ist meine Art der Selbstbestrafung…ja.
Trotzdem blieb dieser beißende Zweifel an seinem Tun.
Der Schall einer Trompete ertönte und kündigte die Ankunft des Königs an, die Darius von weiteren Gedanken in dieser Richtung abhielt. Die Menge wurde ruhig und die Purpurnen standen noch strammer, falls dies überhaupt möglich war.
Mit kleinen Schritten betrat König Adam, ein hagerer Junge mit strohblondem kurzem Haar, den Podest, ihm folgten Marschall Ergald und zwei Soldaten der Purpurnen. Alle Augen hingen an dieser kleinen Gruppe. Der junge König war ebenfalls in eine Maßgeschneiderte Uniform seiner Garde gekleidet, doch wirkte sie in diesem Umfeld und bei seiner Erscheinung fehl am Platz. Adam beobachtete ängstlich die riesige Menge der schweigenden Soldaten, seiner schweigenden Soldaten, und es schien einen Moment so, als wolle der junge König etwas sagen. Dann aber trat er schüchtern einen Schritt zurück und machte so Platz für seinen Vormund Ergald.
Grauwolf verdiente den Spitznamen, den er von den Soldaten erhalten hatte, tatsächlich. Seine Uniform war grau, geziert nur durch einen einzigen goldenen sternförmigen Orden, und sein struppiges graues Haar ging in einen mächtigen Backenbart über, der sein kantiges Gesicht zierte. Der Marschall hätte tatsächlich ein Wolf sein können, nicht nur vom Aussehen.
Für einen unendlich langen Moment der Stille ließ Ergald seinen durchdringenden Blick über die abgekämpfte Menge schweifen, dann begann er zu sprechen und es klang wie ein Knurren.
„Hunde, Ratten und Offiziere heute ist ein schlechter Tag, ich weiß. Aber morgen…morgen wird ein guter Tag, denn seine Majestät der König hat entschieden, dass wir dem elenden Rebellenpack den Todesstoß versetzen, indem wir Herz und Hirn ihrer Bewegung vernichten“ Grauwolf deutete mit ausgestrecktem Arm gen Erzherz, seine Lichter und zusammen geschossenen Mauern.
„Ihr Anführer Pavelon, der Graf Hector und der Hetzer Freifeder befinden sich hinter diesen brüchigen Mauern. Mit ihnen hat dieser elende Krieg, der euch alle so viele Opfer abverlangt hat, angefangen und mit ihrem Tod wird er enden“ hier und da erklangen Jubelrufe und Grauwolf machte eine Pause, bevor er weiter sprach:
„Ihr alle kennt das Märchen vom großen Ritter Pavelon und seinen Heldentaten und man sagt, dass dieser Pavelon ein mindestens genauso großer Held ist. Die Rebellen behaupten das jedenfalls. Keiner von uns hat bisher ihn oder einen seiner Helfer gesehen, aber ich zweifle an diesem Wunderknaben. Ich zweifle an seiner mächtigen Statur, an seinem güldenen Haar und seinem legendären Mut.“
Wieder erklang Jubel, dieses Mal aus mehr Kehlen als zuvor. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Ergalds Lippen. Selbst das wirkte wölfisch.
„Morgen wird es einen harten Kampf geben, aber an dessen Ende wird ein wunderbarer Abend auf euch Geschmeiß warten. Wer mir Pavelons Mähne, Hectors Säbel und Freifeders verfluchten Federkiel bringt wird fürstlich entlohnt. Mehr hat seine Majestät nicht zu sagen. Geht ihm und mir nun aus den Augen, bereitet euch auf morgen vor und nehmt euch die Zeit euch damit abzufinden, dass euer jämmerliches Leben morgen beendet werden könnte“, wieder lächelte Grauwolf und zeigte zwei Reihen weißer Zähne, „und solltet ihr eure Sorgen doch lieber an diesem Abend beim Feiern vergessen, dann wisst ihr ja bei welchen Huren ihr euch Krankheiten holen könnt und welcher Alkohol euch erblinden lässt.“
Ohne einen weiteren Gruß drehte sich Grauwolf auf dem Absatz um und stolzierte vom Podium, gefolgt von Adam und den beiden Wächtern. Nachdem König und Marschall verschwunden waren löste sich die Menge unter lautem Getöse auf. Soldaten strömten in Massen zurück in die schlammigen Straßen der Zeltstadt, während die Purpurnen geordnet ihrem König folgten.
Auch Darius wankte aus der Menge, weg vom Podium und hin zur Aaseiche.
Direkt unter den weit auslandenden knorrigen Ästen blieb er stehen, sah hinauf zu den Toten und wäre dabei fast nach hinten gestolpert. Die Fackeln auf dem Platz warfen ihr schummriges Licht auf die Leichen. Der Soldat hatte gesagt, dass ein Kamerad aus der Neunten unter den Gehenkten war. Angestrengt und mit zusammen gekniffenen Augen suchte Darius in der Dunkelheit nach einem bekannten Gesicht, doch die meisten befanden sich bereits in einem zu fortgeschrittenen Verwesungsstadium oder waren ein Opfer der Krähen geworden. Er wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden, als ihm doch noch ein Gesicht auffiel und dieses Mal wäre Darius vor Schreck beinahe wirklich hinten rüber gefallen.
Die Krähen hatten dem Toten bereits die Augen ausgepickt und Maden tummelten sich ebenfalls in seinem Fleisch, doch trotzdem erkannte Darius noch den Mann, der dort knapp über seinem Kopf hing. Es war nicht irgendein Soldat, auch nicht irgendein Kamerad aus der Neunten, sondern Gastaf, sein vielleicht einziger Freund. Natürlich hatten in der Neunten Kompanie auch kameradschaftliche Beziehungen geherrscht, doch wirklich vertraut hatte Darius während seiner Zeit bei der Armee nur Gastaf.
Nein, nicht nur während meiner Zeit bei der Armee. Darius wusste nicht mehr, wann er Gastaf kennen gelernt hatte, aber es war schon lange her. Sie hatten zusammen rumgehurt, zusammen gesoffen und waren damals zusammen zur Armee gegangen, um zusammen diesen Krieg durchzustehen.
Jetzt hatte Grauwolf Gastaf aufknüpfen lassen und er musste diesen Weg alleine weiter gehen.
Dem Toten hatte man ein Holzschild mit der Aufschrift Verräter um den Hals gehängt. Unwillkürlich tastete Darius nach den beiden Holzschlüsseln in seiner Gürteltasche, die er Salysas Eltern abgenommen hatte.
Ob Gastaf tatsächlich zu den Rebellen gehört hatte? Oder hatte man das arme Schwein einfach nur bei der Flucht erwischt und dafür hängen lassen? Darius sah sich misstrauisch zu allen Seiten um, ob ihn jemand beobachtete, doch in der Nähe war niemand zu sehen, nur das Johlen und Lachen der Soldaten drang aus den Zelten herüber. Seufzend trat er noch einen Schritt näher und schüttelte den Kopf.
„Was hast du bloß angestellt Gastaf? Verdammt, wir haben abgemacht, dass wir nur gemeinsam draufgehen“ murmelte er und trank einen Schluck Wein. Der widerliche Geschmack ließ ihn das Gesicht verziehen.
„Auch ’nen Schluck?“ er hielt die Weinflasche in die Höhe, nur um sie gleich wieder lachend zurück zu nehmen. „Hab ich vergessen, du trinkst ja nicht mehr. Nun ja, dann trinke ich für dich mit.“
Darius setzte die Flasche an, um sie in einem Zug zu leeren, als eine Stimme über ihm ertönte.
„Sieh an Krâ, er hat neue Freunde gefunden.“
„Ja und die sind wohl schweigsamer als wir.“
Für einen grausamen Moment dachte Darius die Toten hätten zu ihm gesprochen, doch dann folgte ein Keckern und Krächzen, das er inzwischen nur allzu gut kannte. Langsam wandte er seinen Kopf nach oben.
„Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr verschwinden sollt?“ es mochte seltsam sein, doch er fühlte sich gestört in seiner Zweisamkeit mit dem toten Gastaf.
„Ja…ja so etwas in der Art hast du uns tatsächlich gesagt und eigentlich haben wir dich auch gar nicht gesucht“, in Agelsterns Schnabel hing eine kleine silberne Kette, „aber du bist ja zur Eiche gekommen, um mit den toten zu reden. Dein Gefasel stört uns beim Essen.“
Krâ konnte nur nicken, denn anscheinend verschlang er gerade einen Klumpen verwesenden Fleisches. Darius lehnte sich gegen den mächtigen Stamm der Eiche, dessen Rinde von Rillen wie Altersfalten durchzogen war, und schloss die Augen. Was hatte er nur getan, um diesen Fluch zu verdienen?
„Morgen wird es zur Schlacht kommen, werdet ihr da nicht schon genug zum fressen finden?“
„Wie du schon sagst: Es wird morgen zur Schlacht kommen, aber wir brauchen auch heute Nahrung. Du säufst ja auch nicht nur morgen mein Lieber.“
„Bitte versprich mir, dass sich unsere Wege morgen endgültig trennen und ihr wieder Malvander auf die Nerven geht. Obwohl ich die Schlacht mit meinem zerschossenen Bein wohl kaum überleben werde.“ Darius wunde war längst brandig geworden und er begann unter Fieberträumen zu leiden.
„Sehr gut, dann sehen wir uns ja im Jenseits wieder.“
„Ich wusste immer, dass ich im Jenseits für meine Taten bestraft werden würde, aber dass es so geschieht…“
Mit einem dumpfen Geräusch landete ein kleines Säckchen direkt vor Darius’ Füßen. Der Soldat hob es überrascht auf und öffnete die Kordel, die es verschloss. In dem Säckchen befanden sich kleine schwarze Kügelchen, die Darius bekannt vorkamen. Mit spitzen Fingern fischte er eine heraus.
„Vielleicht kann dieses Mittelchen dein Dasein ein wenig erleichtern. Opium. Tu es in deinen Schnaps und deine Welt wird rosiger. Ein kleines Abschiedsgeschenk von Krâ und mir, frag nicht, wo ich es her habe.“
Über sich hörte Darius das schmatzende und reißende Geräusch, als Krâ ein weiteres Stück Fleisch verschlang.
Morgen könnte ich ihre Mahlzeit sein…zum zweiten Mal.
Er verstaute das Beutelchen in einer seiner Gürteltaschen und humpelte davon. Vielleicht war es an der Zeit sich hinzulegen, denn der morgige Tag würde anstrengend genug werden.
„Danke“ murmelte er.
Grauwolf dachte nach.
Eigentlich hatte er früh zu Bett gehen wollen, doch hatte ihn davon ein später Besucher abgehalten. Nun saß der alte Marschall mit halb geöffneter Uniformjacke in seinem Diwan, die Beine auf dem Kartentisch.
„Sprechende Krähen sagst du?“
„Ja, in der Tat. Sie wissen selber Herzog, dass es von dieser Spezies Vögel nicht viele geben dürfte, tatsächlich berichten die Märchen nur von zweien“ antwortete der späte Gast, ein dreckiger Soldat, dessen Haar lang und ungewaschen und dessen Gesicht mager und von tief in den Höhlen liegenden Augen geziert war.
Grauwolf runzelte die Stirn. Der Mann hatte das Märchen von Malvander, der Krähe Krâ und der Elster Agelstern und dem Seelenzirkus erzählt. Ein Kindermärchen, aber der Marschall war nicht so dumm es als ein solches abzutun. Mit Märchen und seltsamen Geschehnissen hatte dieser ganze Krieg erst angefangen.
„Interessant. Bitte setz dich Tassilo.“
Der Soldat tat wie ihm geheißen und ließ sich mit seiner verschmutzten Uniform, auf der man das königliche Weiß nur noch erahnen konnte, auf dem teuren Stoff eines zweiten Diwans nieder.
„Und ein Soldat hat sich mit ihnen unterhalten? Unter der Aaseiche?“
„Er ist dort nach der Versammlung hingegangen. Erst hat er zu einem der Toten gesprochen, dann zu den beiden Vögeln. Er ist erst heute im Lager eingetroffen, sein Name ist Darius.“
Grauwolf nickte bedächtig und strich sich über den stattlichen Backenbart.
„Der Tote mit dem er geredet hat war ein Verräter nehme ich an?“
„Gehenkt für Spionage im Dienst des Feindes“ Tassilo kratzte sich das stoppelige Kinn.
„Dann könnte dieser Darius auch gefährlich für uns sein, anscheinend kannte er ja den Toten“ Ergald nahm eine Kristallkaraffe von einem nahen Tischchen und goss sich ein Glas Branntwein ein.
„Mit Verlaub Herzog“, Tassilo lächelte und entblößte dabei zwei Reihen verfaulter Zähne, „aber denken Sie wirklich, dass uns dieser rüpelhafte Kerl und zwei sprechende Tiere gefährlich werden könnten?“
Es war der ruhige, aber dennoch durchdringende Blick des Marschalls, der sein Lächeln sofort verschwinden ließ.
„Um diesen Darius mache ich mir weniger Gedanken, es ist eher der Einfluss der beiden Tiere auf diesen Kleingeist, den ich fürchte. Ich weiß, dass auch du dazu neigst es als albernes Märchen und Hirngespinst abzutun Tassilo, aber ich rate dir es nicht zu tun.“
„Seien Sie unbesorgt Herzog, ich sehe aus wie eine von den Ratten da draußen, aber ich bin bei weitem nicht so dumm. Es ist alles nur ein Spiel“ schmunzelte Tassilo, schlenderte herüber zu dem kleinen Tischchen und genehmigte sich ebenfalls einen Kelch voll Wein. Grauwolf registrierte dies mit Missfallen, unterließ aber eine Bemerkung. Stattdessen prostete er Tassilo zu und nippte an seinem Glas.
„Dann führe deine Arbeit fort, hier ist eine interessante Entwicklung im Gange. Ab jetzt bist du der Schatten, den dieser Darius und seine Federviecher werfen.“