Die achte Todsünde und das elfte Gebot

Der hölzerne Bootssteg am Randes des Krakower Sees erlaubt einen freien Blick durch den Schilfgürtel bis an das gegenüberliegende, von Laubbäumen gesäumte Seeufer. Hier sitzt der Glasbläsermeister und Dr. der Theologie und Philosophie, Benedikt Templin, in seinen seltenen arbeitsfreien Zeiten, um sich von seiner körperlich anstrengenden Arbeit zu erholen. Benedikt Templin betreibt am Rande einer kleinen Stadt eine der seltenen Reparaturwerkstätten für historische Glasmalerei im Lande, die sich auf die Restauration alter Kirchenfenster spezialisiert haben. In seinen Ruhepausen am See folgt sein Blick gerne den Booten des örtlichen Rudervereins, die mit gleichmäßigen Zügen über die glatte Wasseroberfläche gleiten. Für die Ruderer ist diese Betätigung, bei aller Bewegungsästhetik, ein anstrengender Vorgang. Benedikt hingegen lässt die Szene aus einer entspannten Beobachtung auf sich einwirken. Diese Momente der Kontemplation tun ihm gut, er nutzt sie als Kontrast zu seiner anstrengenden Berufstätigkeit. Es gelingt ihm immer wieder, sich gedanklich in die Perspektive der Wassersportler zu versetzen. Dies ist für ihn zu einer Allegorie für das Leben geworden: Ruderer im Boot, fließend dahingleitend, ohne das Vorausliegende sehen zu können, dabei stets das Zurückliegende im Blick zu haben. Und es gibt einiges, das lange zurück liegt und in ihm nachklingt. Dass er sich gerade hier an der mecklenburgischen Seenplatte niedergelassen hat, gut sechshundert Kilometer von seinem Heimatort entfernt, ist Zufall. Es gab ein Ereignis in seinem Leben, das ihn veranlasst hatte, sich möglichst weit entfernt von seinem angestammten Lebensmittelpunkt anzusiedeln.

Benedikt Templin war in jungen Jahren ein begabter Schüler mit einem auffallend großen Interesse an Geschichte und alten Sprachen. In einem bildungsnahen Elternhaus aufgewachsen, wurde sein Wunsch, ein altsprachliches Gymnasium zu besuchen, wohlwollend unterstützt. Mit Begeisterung erlangte er das Große Latinum, das Graecum und, für ihn besonders wichtig, das altsprachliche Hebraicum. Benedikt hatte bereits in jungen Jahren das Verlangen, Thora und Tanach im Ur-Text lesen zu können. Etliche der daraus später übersetzten oder abgeleiteten Texte für die Bücher des Alten Testaments geringschätzte er als eine Art 'Stille Post'. Gestützt auf seine sprachlichen Vorkenntnisse begann er ein Studium der Theologie und der Philosophie. In beiden Studienfächern schloss er mit 'summa cum laude' ab - ihm standen verschiedene Wege im Bereich der Geisteswissenschaften offen. Doch er strebte das Amt eines Priesters und Seelsorgers an und suchte seine Erfüllung im Katholizismus. Schon in den Anfängen der Ausbildung erkannte der Regens des Priesterseminars, dass er mit Dr. Benedikt Templin einen brillanten Anwärter aufgenommen hatte. Dessen gefestigter Glaube, sowie seine theologische Wissenstiefe zeigten, hier wächst einer heran, der zu Höherem berufen sein könnte. Brillant waren auch seine Interpretationen alttestamentarischer Glaubensbezüge. Benedikt konnte aufgrund seiner altsprachlichen Fähigkeiten mit genauen Auslegungen aufwarten, wirkte dadurch in etlichen Detailfragen kompetenter als manch einer seiner Dozenten. Dies führte häufig zu Diskussionen. Sein spezielles Interessengebiet, Sünden und Gebote, hatte er durch das Studium des Urtexts tiefgründig verstehen können, er kam dabei zu erheblichen Abweichungen zu den herkömmlichen Lesarten innerhalb des kirchlichen Glaubens.

In der Zeit, als die erste große Welle des Bekanntwerdens sexueller Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche die Öffentlichkeit schockierte, arbeitete Benedikt an einem Essay zu Geboten und Sünden, das in einem politischen Magazin veröffentlicht werden sollte. Der angehende Priester, kurz vor der Prüfung zur Zulassung zur Priesterweihe, war über den Umgang der Kirche mit diesen Vorgängen entsetzt. Er schrieb den Text seines Aufsatzes um und titelte mit der Frage nach einer Achten Todsünde und dem Fehlen eines Elften Gebots. Die Kirchenoberen erkanntem, worauf er mit seinen sarkastischen Ausführungen aufmerksam machen wollte: sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen und anderen Unschuldigen, sowie Vertuschung. Der gläubige Christ Templin verharrte auf seinen Wertungen der Anschuldigungen, die maßgeblich das für ihn zuständige Bistum Köln betrafen. Die Prälaten des Gremiums, vor das Benedikt gerufen war, blieben auf ihrer starren Linie. Es wurde beschönigt und geleugnet; Aufrichtigkeit war bei ihnen nicht zu erkennen. Erschreckend, wie Einsicht oder Reue als Hohlbegriffe, wie reine Versatzstücke in einem Theaterfundus, verwendet wurden. Für Benedikt gab es nur eine Möglichkeit, die des sofortigen Austritts aus dem Priesterseminar; die Tiefe seines christlichen Glaubens änderte sich nicht, nur von der von ihm vorher so geschätzten Institution Kirche sagte er sich los.

Diese Situation vor dem kirchlichen Ausschuss war diejenige, die Benedikt viele Jahre danach in tiefenentspannter Betrachtung der Ruderer auf dem Krakower See häufig erneut durchlebte. Sie war der entscheidende Kipppunkt in seiner Vita gewesen. In dem Leben danach vermied er konsequent jeden direkten Kontakt zur katholischen Kirche als Organisation. Aber auch Benedikt blieb nicht ohne Sünde. Es war der Zorn, der ihn im Anschluss an die Anhörung vor dem Ausschuss dazu gebracht hatte, nachts im betrunkenen Zustand einen Stein in eines der Fenster des Doms zu werfen. Er zerstörte dabei eine Glasmalerei innerhalb des großen Kirchenfensters, die ein dort gestaltetes Motiv aus dem Johannes-Evangelium 8,7. zeigte. Benedikt wurde nie als Täter bekannt, er outete sich auch nicht als solcher. Mit der Last dieses schweren Frevels verließ er seine Heimatregion. Benedikt Templin brauchte lange Zeit, sein schlechtes Gewissen ruhigzustellen; sich ganz davon zu befreien, gelang ihm nicht. Vermutlich war der Impuls, das Handwerk eines Glasbläsers und Glasers für Kirchenfenster zu erlernen, eine Folge des von ihm angerichteten Schadens. Nach der Ausbildung verfeinerte er seine handwerklichen Fähigkeiten in angesehenen Fachbetrieben im In- und Ausland. So wurde er zu einem der führenden Restauratoren für Kirchenfenster in Deutschland.

Jahre später spendete er seiner früheren Kirchengemeinde anonym eine originalgetreue Replik des von ihm zerstörtem Glasbildes. Jedoch der Korrelation von Schuld und Sühne konnte er sein Leben lang nicht entkommen, dies musste er aushalten. Das von Benedikt seinerzeit vor der Glaubenskommission sarkastisch von ihm so betitelte elfte Gebot: “Du sollst dich nicht erwischen lassen”, hatte die Kirchenmänner seinerzeit, ganz wie er es beabsichtigt hatte, verstanden, und mit voller Wucht getroffen. Der ehemalige Priesteramtskandidat hat inzwischen weitgehend seinen inneren Frieden gefunden, wobei er nie stolz darauf gewesen war, gegen dieses 'Elfte Gebot' nicht verstoßen zu haben.
 

Anders Tell

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Eine wunderbare Geschichte. Nur die theologischen Aspekte verwirren mich. Missbrauch Schutzbefohlener müsste doch nach den Geboten sündig sein. Auch in den 7 Todsünden wird diese Fehlverhalten erfasst. Die lustige Pointe mit der 8. Todsünde klärt soweit alles auf, aber der Bezug zur theologischen Diskurs scheint mir nicht schlüssig.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Horst M. Radmacher,

mir geht es oft so bei Deinen Geschichten, dass ich sie sehr gerne lese, auch wegen der so gut geschriebenen Naturbeschreibungen, aber wenn es dann zum Hauptstrang kommt, geht es irgendwie nicht glatt durch meinen Kopf.
Nehmen wir das Gewissen des Protagonisten. Da changiert der Text zwischen argen Gewissensbissen und einem weitgehenden inneren Frieden, ohne dass eine Handlung damit verknüpft wurde; da wäre weniger mehr. Vor allem, weil es nach einem Bemühen aussieht, den Protagonisten gut dastehen zu lassen. Auch lenkt das Hin und Her des Gewissens von dem unglaublichen Kirchenskandal ab. Es will mir auch nicht gefallen, dass sich Benedikt in seiner inneren Schuld vergräbt, sogar das zerstörte Kirchenfenster ersetzt, das ja nun nicht an Gott geht, sondern an die Kirche! -, und darüber der Missbrauchsskandal in der Geschichte verdrängt wird.
An dieser Geschichte berührt das 11. Gebot mein 'sittliches Empfinden'; es erscheint mir keine gute Pointe, denn dieser Hinweis auf das 'sich nicht erwischen zu lassen' hat für mich eine zu große Nähe zu einer Art Einverständnis. Das ist natürlich nicht explizit, aber für mich schwingt es mit, dass die Täter das ungeschriebene Gebot missachtet haben, sich nicht erwischen zu lassen; das geht bei allen möglichen Vergehen, aber nicht bei Kindesmissbrauch.

Mir hat dagegen gut gefallen, dass in der Person Benedikts sich gezeigt hat, dass man im Zweifelsfalle für seine Haltung auch Nachteile für sich selbst in Kauf nehmen muss. Wenn man sich selbst und sein Gewissen ernst nimmt, kann man einen Weg nicht weitergehen, der korrumpiert. Dadurch, dass es dann nur noch um sein Gewissen wegen seiner 'Sünde' ging, verlor dieser Aspekt aber leider an Gewicht.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Anders Tell,

gefällt mir, dein Kommentar, Anders. Schön zu erfahren, dass dir die Geschichte als solche zusagt. Die Verbindung von Kirchenmoral und allgemeinen moralischen Ansprüchen bleibt hier tatsächlich etwas 'undeutlich'; ein darüberhinausgehendes Befassen mit den Todsünden hatte ich an dieser Stelle nicht vorgesehen. Danke für deinen Kommentar.

Herzliche Grüße.

Horst
 
>petrasmiles:

Liebe Petra,

Ja, die Thematik der Geschichte beschreibt eine ernstzunehmende Problematik und sollte nicht zu sehr auf den beschriebenen Konflikt des Protagonisten fokussiert sein; dieser kommt hier tatsächlich etwas 'leichtfüßig' davon. In der Position als Verfassers des Textes sympathisiere ich allerdings mit der Figur. Ich behandle ein schwieriges Thema, das nicht zwingend in einer schlicht gestrickten Pointe enden müsste. Und: Ich hatte nicht beabsichtigt, 'sittliches Empfinden' zu beschädigen. Danke für die wohlwollende Aufmerksamkeit an meinen Geschichten; deine Beiträge sind mir dabei als konstruktive Anregungen stets willkommen.

Herzliche Grüße.

Horst
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Horst,

nun, ich schrieb bewusst 'berührt', da ist nichts 'beschädigt'.
Es liest ja nicht jeder gleich, und Anders war davon offensichtlich weniger berührt.
Schön, dass Du meine individuellen Rückmeldungen willkommen heißt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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