Die Wintersonne wirft ihre ersten wärmenden Strahlen auf die Filiale der Bundesagentur für Arbeit an der Hauptstrasse. Es ist ein Januarmorgen im Jahr 2004, als eine Frau von Anfang Dreißig den lichtdurchfluteten Eingangsbereich betritt. Sie blickt sich um und geht dann zielstrebig auf den Glaskasten zu, vor dem ein Mann auf einer Leiter gerade das Schild „Information“ gegen eines mit der Aufschrift "Service-Point" auswechselt. Die etwa fünfzigjährige Dame hinter der Öffnung der Glasscheibe beißt gerade beherzt in ein Käsebrötchen.
„Entschuldigen sie bitte, mein Name ist Iris Kleeberg. Ich bin gerade hierher gezogen, zurzeit arbeitslos und wollte fragen, wo ich mich hier melden muß?"
Zur Antwort unverständliche Worte - begleitet von sich auf die Schreibtischunterlage verteilenden Brötchenkrümeln. Es dauert einen Moment, bis die Dame am Front-Desk der Fragestellerin erklärt, daß ihr zuständiger Sachbearbeiter, der jetzt Case Manager heißt, im ersten Stock sitzt und zufällig auch gerade einen Slot frei hat. Ansonsten würden nur noch feste Termine gemacht, um die unschönen Warteschlangen von sitzenden, vor sich hinrauchenden und in Zeitschriften wie "Die Berufswahl" blätternden Arbeitslosen zu vermeiden.
Im Zimmer 107 sitzt Dietmar Bode, Case Manager für die Buchstaben "I" bis "M", an seinem Schreibtisch und schält gerade einen grünen Apfel, als Iris Kleeberg eintritt. Er blickt kurz hoch und hält dabei mit der Schälbewegung inne, um möglichen Verletzungen vorzubeugen.
„Haben Sie das rote Licht nicht gesehen?“ fragt er.
„Es war grün.“
Ein kurzer, prüfender Blick von Herrn Bode seine Schreibtischplatte. Scheiße, wieder vergessen, denkt er, seufzt hörbar und betätigt einen Schalter.
„Jetzt ist rot.“
In der Absicht, sich es mit ihrem zukünftigen Case Manager nicht schon beim ersten Mal zu verderben, schluckt Iris Kleeberg die in ihr aufkeimende Wut hinunter und verläßt das Büro - um draußen in dem Sessel mit der Aufschrift "Nur für Kunden" Platz zu nehmen.
Wenige Minuten später springt die Ampel auf Grün.
Auf seinem Monitor hat Dietmar Bode bereits die online vom Service-Point überspielten Stammdaten.
„Diplom-Sozialpädagogin - stimmt´s?“
Iris Kleeberg bejaht.
„Ganz schlecht. Neu hier gemeldet. Also Veränderungsmitteilung. Und seit wann arbeitslos?“
„November 2002.“
Langsam löst sich Bodes Blick vom Monitor. Er dreht seinen Kopf und schaut zum ersten Mal der vor ihm stehenden Kundin von schräg unten ins Gesicht. Ein kleines Apfelstückchen ist in einer Zahnlücke zu erkennen.
„Also langzeitarbeitlos! Arbeitslosengeld II. Ist neu jetzt.“
Iris Kleeberg nickt. Die Zeitung hat sie auch gelesen.
Sorgenwolken ziehen über Dietmar Bodes Gesicht. "Tja, dann wollen wir mal schauen, was wir da haben. Sozialpädagogin." Seine Finger gleiten über die Tastatur, ein neuer Bildschirm baut sich zögernd auf.
„Dacht´ ich mir. Momentan nix zu machen. Aber ich könnte mal bei der PSA nachsehen. Vielleicht haben die ja was.“
„PSA?“
„Personal Service Agentur.“ Bode wendet keinen Blick von seinem Monitor ab. „Die gibt´s doch schon seit letztem Jahr. Die Zeitarbeitsvermittlung. Wenn die jetzt was haben, müssen sie´s nehmen.“
Wieder baut sich ein neuer Bildschirm auf. Bode zieht die Augenbrauen hoch.
„Donnerwetter. Die haben was. Hier – eine Stelle bei „artverwandte Jobs“. Erzieherin. Das hätte ich jetzt nicht gedacht.“ Zufriedenheit vertreibt die Wolken auf seinem Gesicht.
„Erzieherin ist aber nicht unbedingt meine Qualifikation. Ich bin Sozialpädagogin.“ Iris Kleebergs Stimme bekommt einen trotzigen Klang.
„Das Leben ist kein Wunschkonzert, Frau Kleeberg. Schon gar nicht für Langzeitarbeitslose. Also, soll ich jetzt weitergucken oder nicht?“
„Was ist das denn überhaupt für eine Stelle?“
Dietmar Bode bewegt den Mauszeiger auf den Button für „Nähere Informationen“ und drückt die linke Taste. Wieder dauert es einen Moment, bis sich der Bildschirm aufbaut.
„Hier, warten sie mal:... Für unser nettes Team suchen wir noch Verstärkung. Du solltest dich in den verschiedensten Erziehungstechniken auskennen. Gute Verdienstmöglichkeiten. Räumlichkeiten und Accessoires werden gestellt. Keine Angst, wir beißen nicht...“
Für einen Moment weicht die Farbe aus Iris Kleebergs Gesicht.
„Das ist doch..., die wollen...“
Bode liest weiter: „Club Carpe Noctem. Hm, so was hatte ich bis jetzt auch noch nicht.” Sein Respekt vor den Veränderungen der neuen Zeit ist deutlich spürbar.
„So eine Unverschämtheit! Wie können Sie mir denn so eine Stelle anbieten?“ Iris Kleebergs Stimme überschlägt sich. Ihr Gesicht läuft jetzt rot an.
Dietmar Bode zuckt mit den Schultern: „Ich weiß gar nicht, warum sie sich so aufregen. Sie haben wohl noch nichts von der Zumutbarkeitsregel gehört?“
„Ja natürlich, aber deswegen kann mich das Arbeitsamt ja wohl nicht in so einen, so einen, ...also so einen, ...einen Laden schicken.“
„Erstens heißt das jetzt Bundesagentur für Arbeit. Und zweitens müssen sie ja nicht. Keiner zwingt sie. Wir sind ja hier schließlich nicht in Thailand. Aber wissen sie, was Zumutbarkeitsregel eigentlich heißt? Daß der Allgemeinheit nicht zugemutet werden kann, Besitzstandswahrerinnen wie sie mit ihrem Anspruchsdenken noch weiter zu unterstützen.“
Iris Kleeberg will etwas sagen, bringt aber kein Wort mehr über ihre Lippen. Sie dreht sich auf dem Absatz um, reißt die Tür auf und wirft sie mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Dietmar Bode lehnt sich entspannt zurück. Das Hauptproblem der Arbeitslosigkeit, das weiß er längst, sind die Arbeitslosen selbst. Aber jetzt, das spürt er, während er das Apfelstückchen mit seiner Zunge aus der Zahnlücke befreit, geht ein Ruck durchs Land. Und mit der Zumutbarkeitsregel – das war längst überfällig.
© by Stefan Schrahe, Dezember 2003
„Entschuldigen sie bitte, mein Name ist Iris Kleeberg. Ich bin gerade hierher gezogen, zurzeit arbeitslos und wollte fragen, wo ich mich hier melden muß?"
Zur Antwort unverständliche Worte - begleitet von sich auf die Schreibtischunterlage verteilenden Brötchenkrümeln. Es dauert einen Moment, bis die Dame am Front-Desk der Fragestellerin erklärt, daß ihr zuständiger Sachbearbeiter, der jetzt Case Manager heißt, im ersten Stock sitzt und zufällig auch gerade einen Slot frei hat. Ansonsten würden nur noch feste Termine gemacht, um die unschönen Warteschlangen von sitzenden, vor sich hinrauchenden und in Zeitschriften wie "Die Berufswahl" blätternden Arbeitslosen zu vermeiden.
Im Zimmer 107 sitzt Dietmar Bode, Case Manager für die Buchstaben "I" bis "M", an seinem Schreibtisch und schält gerade einen grünen Apfel, als Iris Kleeberg eintritt. Er blickt kurz hoch und hält dabei mit der Schälbewegung inne, um möglichen Verletzungen vorzubeugen.
„Haben Sie das rote Licht nicht gesehen?“ fragt er.
„Es war grün.“
Ein kurzer, prüfender Blick von Herrn Bode seine Schreibtischplatte. Scheiße, wieder vergessen, denkt er, seufzt hörbar und betätigt einen Schalter.
„Jetzt ist rot.“
In der Absicht, sich es mit ihrem zukünftigen Case Manager nicht schon beim ersten Mal zu verderben, schluckt Iris Kleeberg die in ihr aufkeimende Wut hinunter und verläßt das Büro - um draußen in dem Sessel mit der Aufschrift "Nur für Kunden" Platz zu nehmen.
Wenige Minuten später springt die Ampel auf Grün.
Auf seinem Monitor hat Dietmar Bode bereits die online vom Service-Point überspielten Stammdaten.
„Diplom-Sozialpädagogin - stimmt´s?“
Iris Kleeberg bejaht.
„Ganz schlecht. Neu hier gemeldet. Also Veränderungsmitteilung. Und seit wann arbeitslos?“
„November 2002.“
Langsam löst sich Bodes Blick vom Monitor. Er dreht seinen Kopf und schaut zum ersten Mal der vor ihm stehenden Kundin von schräg unten ins Gesicht. Ein kleines Apfelstückchen ist in einer Zahnlücke zu erkennen.
„Also langzeitarbeitlos! Arbeitslosengeld II. Ist neu jetzt.“
Iris Kleeberg nickt. Die Zeitung hat sie auch gelesen.
Sorgenwolken ziehen über Dietmar Bodes Gesicht. "Tja, dann wollen wir mal schauen, was wir da haben. Sozialpädagogin." Seine Finger gleiten über die Tastatur, ein neuer Bildschirm baut sich zögernd auf.
„Dacht´ ich mir. Momentan nix zu machen. Aber ich könnte mal bei der PSA nachsehen. Vielleicht haben die ja was.“
„PSA?“
„Personal Service Agentur.“ Bode wendet keinen Blick von seinem Monitor ab. „Die gibt´s doch schon seit letztem Jahr. Die Zeitarbeitsvermittlung. Wenn die jetzt was haben, müssen sie´s nehmen.“
Wieder baut sich ein neuer Bildschirm auf. Bode zieht die Augenbrauen hoch.
„Donnerwetter. Die haben was. Hier – eine Stelle bei „artverwandte Jobs“. Erzieherin. Das hätte ich jetzt nicht gedacht.“ Zufriedenheit vertreibt die Wolken auf seinem Gesicht.
„Erzieherin ist aber nicht unbedingt meine Qualifikation. Ich bin Sozialpädagogin.“ Iris Kleebergs Stimme bekommt einen trotzigen Klang.
„Das Leben ist kein Wunschkonzert, Frau Kleeberg. Schon gar nicht für Langzeitarbeitslose. Also, soll ich jetzt weitergucken oder nicht?“
„Was ist das denn überhaupt für eine Stelle?“
Dietmar Bode bewegt den Mauszeiger auf den Button für „Nähere Informationen“ und drückt die linke Taste. Wieder dauert es einen Moment, bis sich der Bildschirm aufbaut.
„Hier, warten sie mal:... Für unser nettes Team suchen wir noch Verstärkung. Du solltest dich in den verschiedensten Erziehungstechniken auskennen. Gute Verdienstmöglichkeiten. Räumlichkeiten und Accessoires werden gestellt. Keine Angst, wir beißen nicht...“
Für einen Moment weicht die Farbe aus Iris Kleebergs Gesicht.
„Das ist doch..., die wollen...“
Bode liest weiter: „Club Carpe Noctem. Hm, so was hatte ich bis jetzt auch noch nicht.” Sein Respekt vor den Veränderungen der neuen Zeit ist deutlich spürbar.
„So eine Unverschämtheit! Wie können Sie mir denn so eine Stelle anbieten?“ Iris Kleebergs Stimme überschlägt sich. Ihr Gesicht läuft jetzt rot an.
Dietmar Bode zuckt mit den Schultern: „Ich weiß gar nicht, warum sie sich so aufregen. Sie haben wohl noch nichts von der Zumutbarkeitsregel gehört?“
„Ja natürlich, aber deswegen kann mich das Arbeitsamt ja wohl nicht in so einen, so einen, ...also so einen, ...einen Laden schicken.“
„Erstens heißt das jetzt Bundesagentur für Arbeit. Und zweitens müssen sie ja nicht. Keiner zwingt sie. Wir sind ja hier schließlich nicht in Thailand. Aber wissen sie, was Zumutbarkeitsregel eigentlich heißt? Daß der Allgemeinheit nicht zugemutet werden kann, Besitzstandswahrerinnen wie sie mit ihrem Anspruchsdenken noch weiter zu unterstützen.“
Iris Kleeberg will etwas sagen, bringt aber kein Wort mehr über ihre Lippen. Sie dreht sich auf dem Absatz um, reißt die Tür auf und wirft sie mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Dietmar Bode lehnt sich entspannt zurück. Das Hauptproblem der Arbeitslosigkeit, das weiß er längst, sind die Arbeitslosen selbst. Aber jetzt, das spürt er, während er das Apfelstückchen mit seiner Zunge aus der Zahnlücke befreit, geht ein Ruck durchs Land. Und mit der Zumutbarkeitsregel – das war längst überfällig.
© by Stefan Schrahe, Dezember 2003