GerRey
Mitglied
Früher warf mir das Kirchenblatt immer der alte Toni, dem es egal war, was und wer jemand war, solange er sich mit den Leuten unterhalten konnte und mit diesen - egal wie alt sie waren - per Du war, in den Postkasten. Seit seinem Schlaganfall, den er über achtzigjährig erlitten hatte, machte das der Andi. Zumindest sah ich den Andi einmal durchs Küchenfenster, das auf die Straße geht, weil er bei mir geläutet hatte, und als ich rauskam, war er weg - nur das Pfarrblatt lag im Postkasten. Seitdem nehme ich an, dass es nun der Andi bringt. Er war mit dem Rad rasch davongefahren, bevor ich es raus geschafft hatte und ihn fragen konnte, welches Begehr er nach all den Jahren, in denen wir im Leben aneinander vorbei gegangen waren, haben konnte. Ich sah ihn noch, als er - in die Pedale tretend, als gäbe es etwas zu gewinnen - vorne ums Gasseneck nahezu schrammte. Vielleicht wollte er sich als neuer Austräger des Pfarrblatts vorstellen, mutmaßte ich etwas verwundert über die Situation, und kam dann erst ein paar Augenblicke später, als er den Klingelknopf schon gedrückt hatte, darauf, wer in diesem Haus wohnte? Das würde zu ihm passen. Mehr als die verordnete christliche Nächstenliebe war von ihm nicht zu erwarten. Tiefe Wasser scheute er. Und dass ich nicht schon längst aus der Kirche ausgetreten war, überraschte auch mich noch manchmal.
Andi ist um ein Jahr älter als ich und wir spielten als Kinder manchmal zusammen, nachdem wir uns beim Ministrieren besser kennen gelernt hatten. Aber schon in der Jugend waren wir uns aus dem Weg gegangen - er war Ministrant geblieben und später ein aufstrebendes, respektables Gemeindemitglied geworden, während ich mich mehr für Mädchen in Miniröcken interessierte und mich musikalisch und im Outfit eher nach den Rolling Stones richtete. Auch sein älterer Bruder - der Much, ebenfalls im Kirchenrat und örtlicher Wahlhelfer bei bundesweiten Wahlen - titulierte meine Freunde und mich in den 70ern bereits, als "das letzte Überbleibsel von Woodstock", was wir natürlich als Titel gerne stehen ließen, obschon ich - aus heutiger Sicht (damals war der Große Teich noch ein großer Teich, was oftmals verklärend auf die europäische und insbesondere österreichische Popkultur wirkte) - eben aus jener Verklärung heraus mehr für das Gegen-Festival von Altamont gewesen wäre, auf dem die Rolling Stones ein Freikonzert zum Abschluss ihrer Amerika-Tournee "Let It Bleed" gaben und die Hells Angels, eingeworfen von der dort auch auftretenden Hippie-Rockgruppe Greatful Dead, nachdem man aus einem Park in San Francisco - von nichts auf nichts - auf die Speedwaybahn von Altamont ausweichen hatte müssen, den Ordnerdienst machten, wobei einer der Ordner, der später, nachdem er frei ausgegangen war, ebenfalls auf merkwürdige Weise ums Leben kam, sofern man dies von einem in einem See ertrunkenen Rocker behaupten konnte, den schwarzen Festivalbesucher Meredith Hunter, der im Drogenrausch eine Pistole gegen Mick Jagger gerichtet hatte. mit mehreren Messerstichen erstach.
Auch heute fand ich das Pfarrblatt im Postkasten. Es hatte sich über die Jahre stark verändert. Früher bezog es sich lediglich auf die Geschehnisse in unserer Pfarre. Heute waren in dem Blatt drei Pfarren zusammengefasst. Und ich las darin schon immer gerne - zwar nicht regelmäßig - die Anzeigen, die sich auf die Geburten, Hochzeiten, Geburtstage der Ältesten und die Verstorbenen im Ort bezogen. Also suchte ich auch nun diese Seite in dem für unsere Pfarre bestimmten Platz in dem Kirchenblatt auf. Da war eine Elisabeth E. im Alter von 107 Jahren verstorben. Der Nachname machte mich sofort stutzig, nachdem ich ihn gelesen hatte. So hieß doch auch die Wetti mit dem Nachnamen? Sie half uns Ministranten in die Messgewänder - das war mehr als 50 Jahre her! Ich erinnerte eine schmale, grauhaarige Frau, mit einem deutlich erkennbaren Oberlippenbart. Sie und die P.-Mitzi, die die Glorie der alten Orgel "rockte" und mit dem Brustton ihrer musikalischen Begabung und der Inbrunst ihrer geweihten Bestimmung die Kirchenlieder anstimmte, waren die großen Stützen unseres Pfarrers (allerdings gab es da auch noch eine flotte Blondine - Ehegattin eines stillen Greißlers, der das männliche Pendant zu Wetti hätte sein können - die ihren Mann angeblich betrog, sodass er sich später deswegen das Leben nahm, dem Pfarrer den Haushalt machte und sich von ihm ums Bett jagen ließ, damit er ordentlich in den Tag kam und nicht laufend zu den Käuflichen in die Pratersauna fahren musste, wie man abseits des Kirchhofs, der sonntags nach der Zehn-Uhr-Messe vor der Sakristei Gala hielt, um dem Pfarrer für den Gottesdienst zu danken, hinter vorgehaltener Hand munkelte, ohne es jemals ans Licht der Beichte gelangen zu lassen).
Wetti stand u.a. für Elisabeth, erfuhr ich aus den Weiten des Internets. Im 107. Lebensjahr war sie gestorben, wusste das Pfarrblatt 12 aus dem Jahr 2021. Auch das Alter passte. Ich hatte sie für längst tot gehalten. Nie mehr als in der Kirche beim An- und Auskleiden hatte ich sie gesehen. Was ich hörte, war sie die Tochter eines Bauern, half am Hof, der an die männliche Linie ihrer Brüder gegangen und vererbt worden war, wobei sie auf Lebzeiten das Wohnrecht auf dem Bauernhof besaß, solange er im Besitz der Familie sein würde, die ihn heute noch bewirtschaftet. Das und die Kirche - anderes hatte sie zeitlebens nicht gemacht. War sie vielleicht auch in einem Altersheim wie anfänglich die alleinstehende P.-Mitzi? Das konnte ich nicht ganz glauben (allerdings sollte man bei so etwas auch stets den modernen Menschen auf der Rechnung haben, der das Leid abzuschütteln versucht oder es zumindest in eigens dafür vorgesehene Bereiche verbannt). Denn auch die P.-Mitzi wollte nicht im Heim bleiben. Also kam sie zurück nach Hause, wo sie der alte Toni pflegte, wie er schon seine an Krebs leidende Frau, die ihm fünf Kinder schenkte, bis zum Tod gepflegt hatte. Die P.-Mitzi verstarb über neunzigjährig 2015 - in dem Jahr, in dem auch meine Mutter an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Kurz davor kam ich eines Morgens von der Nachtschicht nach Hause, und als ich über den Zebrastreifen an der Kreuzung ging, an der das Haus der P.-Mitzi stand, kam mir der alte Toni aufgeregt entgegen und bat mich, ihm zu helfen, die P.-Mitzi zu suchen, die verschwunden war, nachdem er morgens nach ihr sehen wollte.
"Wer weiß, wo die alte Jungfer hingelaufen ist", sagte er in seiner Aufregung. "Die Weiber werden deppert, wenn sie das ganze Leben keinen Mann gehabt haben:"
Wir durchsuchten - immer darauf gefasst, eine Tote zu finden - das Haus, den Garten, die Schuppen - sie war nirgends. Als wir schon glaubten, sie sei in ihrer Altersverwirrung auf den Teich oder die Felder gelaufen, bekam der Toni einen Anruf vom Spital, aus dem hervorging, dass man die P.-Mitzi in der Nacht eingeliefert hatte. Von dort kehrte sie nicht mehr zurück.
Auch die Wetti war eine alte Jungfer, die wahrscheinlich nie einen Mann gehabt hatte. 107 Jahre war sie auf dieser Erde - und ich konnte nichts über sie sagen als das, dass sie mir vor mehr als einem halben Jahrhundert beim An- und Auskleiden des Messgewandes geholfen hatte. Überraschend deutlich habe ich allerdings ihr Gesicht vor Augen, mit dem sie sich immer ganz nah zu meinem herab gebeugt hatte, während sie an mir zerrte und zurrte. Wie weit hätte man mit ihren Augen in die Vergangenheit blicken können, dachte ich, ein bisschen wehmütig. Beim nächsten Friedhofsbesuch auf dem Ortsfriedhof, wo meine Großeltern liegen, werde ich auch sie besuchen - die alte Jungfer mit dem Oberlippenbart.
Andi ist um ein Jahr älter als ich und wir spielten als Kinder manchmal zusammen, nachdem wir uns beim Ministrieren besser kennen gelernt hatten. Aber schon in der Jugend waren wir uns aus dem Weg gegangen - er war Ministrant geblieben und später ein aufstrebendes, respektables Gemeindemitglied geworden, während ich mich mehr für Mädchen in Miniröcken interessierte und mich musikalisch und im Outfit eher nach den Rolling Stones richtete. Auch sein älterer Bruder - der Much, ebenfalls im Kirchenrat und örtlicher Wahlhelfer bei bundesweiten Wahlen - titulierte meine Freunde und mich in den 70ern bereits, als "das letzte Überbleibsel von Woodstock", was wir natürlich als Titel gerne stehen ließen, obschon ich - aus heutiger Sicht (damals war der Große Teich noch ein großer Teich, was oftmals verklärend auf die europäische und insbesondere österreichische Popkultur wirkte) - eben aus jener Verklärung heraus mehr für das Gegen-Festival von Altamont gewesen wäre, auf dem die Rolling Stones ein Freikonzert zum Abschluss ihrer Amerika-Tournee "Let It Bleed" gaben und die Hells Angels, eingeworfen von der dort auch auftretenden Hippie-Rockgruppe Greatful Dead, nachdem man aus einem Park in San Francisco - von nichts auf nichts - auf die Speedwaybahn von Altamont ausweichen hatte müssen, den Ordnerdienst machten, wobei einer der Ordner, der später, nachdem er frei ausgegangen war, ebenfalls auf merkwürdige Weise ums Leben kam, sofern man dies von einem in einem See ertrunkenen Rocker behaupten konnte, den schwarzen Festivalbesucher Meredith Hunter, der im Drogenrausch eine Pistole gegen Mick Jagger gerichtet hatte. mit mehreren Messerstichen erstach.
Auch heute fand ich das Pfarrblatt im Postkasten. Es hatte sich über die Jahre stark verändert. Früher bezog es sich lediglich auf die Geschehnisse in unserer Pfarre. Heute waren in dem Blatt drei Pfarren zusammengefasst. Und ich las darin schon immer gerne - zwar nicht regelmäßig - die Anzeigen, die sich auf die Geburten, Hochzeiten, Geburtstage der Ältesten und die Verstorbenen im Ort bezogen. Also suchte ich auch nun diese Seite in dem für unsere Pfarre bestimmten Platz in dem Kirchenblatt auf. Da war eine Elisabeth E. im Alter von 107 Jahren verstorben. Der Nachname machte mich sofort stutzig, nachdem ich ihn gelesen hatte. So hieß doch auch die Wetti mit dem Nachnamen? Sie half uns Ministranten in die Messgewänder - das war mehr als 50 Jahre her! Ich erinnerte eine schmale, grauhaarige Frau, mit einem deutlich erkennbaren Oberlippenbart. Sie und die P.-Mitzi, die die Glorie der alten Orgel "rockte" und mit dem Brustton ihrer musikalischen Begabung und der Inbrunst ihrer geweihten Bestimmung die Kirchenlieder anstimmte, waren die großen Stützen unseres Pfarrers (allerdings gab es da auch noch eine flotte Blondine - Ehegattin eines stillen Greißlers, der das männliche Pendant zu Wetti hätte sein können - die ihren Mann angeblich betrog, sodass er sich später deswegen das Leben nahm, dem Pfarrer den Haushalt machte und sich von ihm ums Bett jagen ließ, damit er ordentlich in den Tag kam und nicht laufend zu den Käuflichen in die Pratersauna fahren musste, wie man abseits des Kirchhofs, der sonntags nach der Zehn-Uhr-Messe vor der Sakristei Gala hielt, um dem Pfarrer für den Gottesdienst zu danken, hinter vorgehaltener Hand munkelte, ohne es jemals ans Licht der Beichte gelangen zu lassen).
Wetti stand u.a. für Elisabeth, erfuhr ich aus den Weiten des Internets. Im 107. Lebensjahr war sie gestorben, wusste das Pfarrblatt 12 aus dem Jahr 2021. Auch das Alter passte. Ich hatte sie für längst tot gehalten. Nie mehr als in der Kirche beim An- und Auskleiden hatte ich sie gesehen. Was ich hörte, war sie die Tochter eines Bauern, half am Hof, der an die männliche Linie ihrer Brüder gegangen und vererbt worden war, wobei sie auf Lebzeiten das Wohnrecht auf dem Bauernhof besaß, solange er im Besitz der Familie sein würde, die ihn heute noch bewirtschaftet. Das und die Kirche - anderes hatte sie zeitlebens nicht gemacht. War sie vielleicht auch in einem Altersheim wie anfänglich die alleinstehende P.-Mitzi? Das konnte ich nicht ganz glauben (allerdings sollte man bei so etwas auch stets den modernen Menschen auf der Rechnung haben, der das Leid abzuschütteln versucht oder es zumindest in eigens dafür vorgesehene Bereiche verbannt). Denn auch die P.-Mitzi wollte nicht im Heim bleiben. Also kam sie zurück nach Hause, wo sie der alte Toni pflegte, wie er schon seine an Krebs leidende Frau, die ihm fünf Kinder schenkte, bis zum Tod gepflegt hatte. Die P.-Mitzi verstarb über neunzigjährig 2015 - in dem Jahr, in dem auch meine Mutter an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Kurz davor kam ich eines Morgens von der Nachtschicht nach Hause, und als ich über den Zebrastreifen an der Kreuzung ging, an der das Haus der P.-Mitzi stand, kam mir der alte Toni aufgeregt entgegen und bat mich, ihm zu helfen, die P.-Mitzi zu suchen, die verschwunden war, nachdem er morgens nach ihr sehen wollte.
"Wer weiß, wo die alte Jungfer hingelaufen ist", sagte er in seiner Aufregung. "Die Weiber werden deppert, wenn sie das ganze Leben keinen Mann gehabt haben:"
Wir durchsuchten - immer darauf gefasst, eine Tote zu finden - das Haus, den Garten, die Schuppen - sie war nirgends. Als wir schon glaubten, sie sei in ihrer Altersverwirrung auf den Teich oder die Felder gelaufen, bekam der Toni einen Anruf vom Spital, aus dem hervorging, dass man die P.-Mitzi in der Nacht eingeliefert hatte. Von dort kehrte sie nicht mehr zurück.
Auch die Wetti war eine alte Jungfer, die wahrscheinlich nie einen Mann gehabt hatte. 107 Jahre war sie auf dieser Erde - und ich konnte nichts über sie sagen als das, dass sie mir vor mehr als einem halben Jahrhundert beim An- und Auskleiden des Messgewandes geholfen hatte. Überraschend deutlich habe ich allerdings ihr Gesicht vor Augen, mit dem sie sich immer ganz nah zu meinem herab gebeugt hatte, während sie an mir zerrte und zurrte. Wie weit hätte man mit ihren Augen in die Vergangenheit blicken können, dachte ich, ein bisschen wehmütig. Beim nächsten Friedhofsbesuch auf dem Ortsfriedhof, wo meine Großeltern liegen, werde ich auch sie besuchen - die alte Jungfer mit dem Oberlippenbart.
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