lietzensee
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Die alte Mutter Knoche
Würde man ihre Gäste fragen, wie viele Jahre die alte Mutter Knoche schon hinter dem Tresen steht, sie würden antworten: schon ewig. Aber diese Frage stellt natürlich niemand. Warum auch? Man betritt den Schankraum durch die geschnitzte Holztür, grüßt und bestellt Pils. Dann nickt die alte Mutter Knoche und zapft ein Glas. Nach mehr muss keiner der Dorfbewohner fragen.
Ihr lockiges Haar ist grau gepfeffert, das Gesicht zerfurcht. Sie trägt eine vergilbte Schürze und nach jedem Glas wischt sie daran ihre großen Hände ab. Wenn die alte Mutter Knoche in die Runde ruft: "Will noch jemand ein Wurstbrötchen?", dann blicken ihre Gäste kurz von den Spielkarten auf und bedenken ihre Worte. Sie meint es gut mit ihren Gästen. Den Forstarbeitern und Frührentnern aus dem Dorf stellt sie zum Bier einen Korn auf den Tresen. Durchreisenden gibt sie hilfreich Auskunft. Aber niemand soll sich wagen, den Dorffrieden zu stören.
Überhaupt nicht infrage kommen für sie eine Renovierung des Schankraums, das Aufstellen von Spielautomaten oder die Aufgabe ihres ertraglosen Geschäfts. Der Ausschank bleibt unveränderlich. Sie bleibt ihre eigene Herrin, auch wenn sich die Schenke früher HO-Gaststätte genannt hat und man munkelt, dass die Großväter der Gäste unter einer Hakenkreuzfahne am Tresen saßen. Bei der alten Mutter Knoche bleibt alles wie es ist und solange sie bleibt, wird sich das Dorf nicht ändern.
Vor Jahren kehrte ein Bauernsohn nach seinem Studium wieder in die Schenke zurück. Er arbeite jetzt in der Stadt, grinste er und biete den Höfen des Dorfes Versicherungen an. Wegen des schlechten Handy-Empfangs musste er in sein Gerät schreien, dass mehrere Leute darauf hereingefallen wären und nach dem Telefonat bestellte er ungeniert einen Cocktail Manhattan. Doch die alte Mutter Knoche lässt sich auf sowas nicht ein. Cocktails gibt es in ihrer Schenke nicht, nur Korn. Der schmeckt herzhaft zum Wurstbrötchen. Die fälligen Versicherungsbeiträge wurden dann nie im Dorf eingefordert.
Vor der alten Mutter Knoche haben die Männer im Ort noch Respekt. Ihr Blick unter den buschigen Brauen bringt jeden Streithahn zum Schweigen. Der erinnert sich dann an seine Kindheit, das Glück, wenn die alte Mutter Knoche eine Fassbrause spendierte. Die Angst, wenn der Ball mal aus Versehen die Fensterscheiben ihrer Schenke traf.
Letztens sprach am Tresen ein Fremder von der Zukunft und meinte den Aufbau einer Schweine-Intensivmast. Da blickten die anderen Gäste zu Boden, denn die alte Mutter Knoche zog ihre Augenbrauen zusammen. Sie fragte ruhig und der Fremde gab lachend die Antwort: "Na hier im Ort, Alte." So spricht aber niemand mit der alten Mutter Knoche. Keiner der Gäste hatte das je gewagt, keiner ihrer Väter, keiner ihrer Urgroßväter. Deren verblasste Gruppenbilder hängen ja noch an der Wand. Im steifen Anzug stehen sie vor der Kegelbahn und zwischen ihnen, in vergilbter Schürze, die alte Mutter Knoche. Der Fremde wurde aber noch dreister. "Das Fleisch für deine Wurstbrötchen muss ja auch irgendwo herkommen." Darauf lachte sie kehlig.
"Letzte Runde für heute", rief sie. Doch die Leute aus dem Dorf verließen schon die Schenke. Niemand will im Weg stehen, wenn die alte Mutter Knoche ihre Vorräte aufstockt.
In den Tagen danach fragt keiner nach dem Fremden. Er taucht nicht wieder auf und eine Schweinemastanlage wird natürlich nie gebaut. Wie immer kommen die Leute in die Schenke. Sie trinken Bier und nur hin und wieder blicken sie verstohlen auf ihre Wurstbrötchen. Die alte Mutter Knoche zapft Pils. Sie klirrt mit den Gläsern und wischt die großen Hände an ihrer vergilbten Schürze ab. Sie wird es immer geben. Das tröstet die Leute und macht ihnen gleichzeitig Angst.
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