Die alte Rettungsdecke

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Löwengeist

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An einem warmen Herbsstag im Oktober streife ich durch eine Straße unseres Wohngebietes.
Häuser reihen sich dicht an dicht, hier und da höre ich Kinderlachen und sehe einige
Mädchen und Jungen auf den Gehwegen spielen.
Parkende Autos säumen die Straße und versperren mir die Sicht auf die sauberen Grünanlagen, die
hinter den Häuserreihen einen Platz zum gemütlichen Verweilen bieten.
Ich zwänge mich zwischen zwei Autos hindurch und laufe auf dem Bürgersteig entlang. Die Wohngegend
ist in den Augen der Spießbürger nicht die Beste. Die Arbeitslosenrate ist hoch, der
Prozentsatz des Ausländeranteils liegt bei 80. Die Häuser wirken von außen schäbig und herunter-
gekommen, sie gehören einer größeren Wohnungsbaugesellschaft. Die Mieten sind nicht sehr hoch und
die Räumlichkeiten nicht die schönsten.
Auf einem der unteren Balkone lehnt eine Frau auf dem Geländer. Sie nickt mir
grüßend zu und lächelt. Ihr faltiges, von den Jahren gekennzeichnetes Gesicht lassen mich die
Dame auf etwa Mitte siebzig schätzen.
Auf der Grünfläche hinter dem Haus steht eine alte, dickstämmige Eiche. Ich blicke zu ihrer Krone
auf, einige Blätter hat sie bereits abgeworfen, die anderen, noch verbliebenen, schimmern
im Licht der Sonne goldgelb. Ich schaue noch einmal zu dem Platz, wo ich die alte Dame vermute,
doch sie ist nicht mehr dort. Unter ihrem Balkon erregt etwas goldglänzendes meine Aufmerksamkeit.
Ich schaue genauer hin und erkenne eine alte, zusammengeknüllte Rettungsdecke, wie man sie in
jedem Erste-Hilfe Kasten der Autos findet.
Vor meinem inneren Auge dreht sich die Zeit um fast ein Jahr zurück.
Das Bild verschwimmt, mein Ohr nimmt hektisches Stimmengewirr wahr. Auf dem Bürgersteig,
unter den entferntesten Zweigen der Eiche, liegt ein alter Mann.
Drei weitere Männer stehen, die Hände in den Jackentaschen vergraben, diskutierend daneben.
Ich laufe zu der kleinen Gruppe und frage, was geschehen ist.
Einer der drei Umstehenden erklärt mir mit polnischem Akzent, der alte Mann sei plötzlich
zusammengebrochen, er atme nicht mehr, ein Rettungswagen sei bereits unterwegs.
Ich knie mich neben den am Bodenen liegenden, suche seinen Puls, schaue nach seiner Atmung:
Nichts ! Ich bitte den Polen, mich bei der Reanimation zu unterstützen, er erklärt sich bereit,
die Beatmung durchzuführen.
Ich beginne die Herzmassage, alle zwei Minuten kontrolliere ich den Puls, ohne Erfolg.
Ich bete, die Sanitäter und der Notarzt mögen bald kommen . Mittlerweile sind viele
Menschen auf die Straße gekommen, ein ganzer Pulk umringt uns.
Eine Frauenstimme ruft : "Weitermachen, nicht aufgeben, ihr schafft das."
Ich möchte der Frau gerne Glauben schenken, aber ein Blick in das Gesicht des Sterbenden
jagd mir einen Schauer über den Rücken.
Sein rechter Mundwinkel hängt leicht herunter, das rechte Auge ist nur halb geschlossen und
seine Lippen sind blau verfärbt. Alle Anzeichen sprechen für einen Schlaganfall, der ziemlich
schlimm sein muß.
In der Ferne höre ich die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, Erleichterung
überkommt mich. Nach ein paar Sekunden, die mir dennoch wie eine Ewigkeit vorkommen,
kann ich sie endlich auch sehen. Der Krankenwagen hält mit quietschenden Reifen direkt neben uns,
ein Notarzt und zwei Sanitäter kommen zu uns gelaufen.
Der Arzt erfragt, was geschehen ist, die Sanitäter bedanken sich bei uns für das schnelle
Eingreifen, dann geht jeder der drei seiner erlernten Tätigkeit nach.
Ich bleibe neben dem Kopf des alten Mannes knien und streichle über seine Wange.
Der Notarzt legt eine Nadel in den linken Arm des Mannes, während ein Sanitäter verschiedene
Flüssigkeiten in einer Spritze aufzieht. Sein Kollege führt die Herzmassage durch und fragt
mich, ob ich die Beatmung mit der Maske übernehmen kann.
So arbeiten wir stillschweigend eine Weile weiter, bis der Arzt dem Mann das Hemd zerreißt,
ein EKG-Gerät anschließt und den Defibrilator auf 400 Mhz einstellt.
Irgendjemand bringt eine silber-goldene Rettungsdecke aus einem Verbandskasten, die der Pole
um die Beine und Hüfte des Mannes schlingt.
Nach einem kurzen Hinweis des Arztes schickt er dem Sterbenden einen Stromstoß durch den Körper.
Der Mann bäumt sich kurz auf und liegt dann wieder still. Er bekommt jetzt die Flüssigkeit
eingespritzt. Der gleichmäßig hohe Ton des EKG's zeigt den weiterhin fehlenden Herzschlag des
Opfers an.
Nocheinmal setzt der Arzt das Elektroschockgerät ein, dann endlich ist ein Herzschlag zu hören.
Ein entspanntes Lächeln macht sich auf den Gesichtern aller Beteiligten breit.
Die beiden Sanitäter bringen die Trage aus dem Krankenwagen, ich lege beruhigt die Beatmungs-
maske beiseite. Erneut streichle ich die Wange des Mannes, der nun wieder etwas besser aussieht.
Ich wünsche ihm im Stillen viel Glück und alles Gute, dabei nehme ich mir fest vor, ihn im
Krankenhaus zu besuchen.
Die Helfer legen seinen schmächtigen Körper auf die Trage, schnallen ihn fest und transportieren
ihn zum Wagen. Die Rettungsdecke lassen sie liegen. Ein Windstoß treibt sie auf die Wiese,
wo die mächtige Eiche steht.
Der Pole hilft mit, die benutzten Geräte zusammenzuräumen und die leeren Verpackungen
einzusammeln.
Einer der beiden Sanitäter schließt die Türen des Krankenwagens und steigt auf den Fahrersitz.
Ganz gemächlich, ohne Hast, wendet er den schweren Wagen und fährt in Richtung Hospital
davon.
Der Menschenpulk löst sich auf, alle gehen in ihre Häuser zurück und auch ich mache mich
auf meinen Weg.
Das Bild vor meinem Auge verschwimmt erneut. Ich sehe einen Mann der Stadt mit einer Greifzange
unter den Balkon langen. Er stopft etwas goldenes, zerknülltes in einen Sammelbehälter,
schaut mich kurz an, grüßt nickend, dann streifen seine wachsamen Augen weiter.
Ein Stich fährt durch mein Herz.
Im Krankenhaus sagte man mir vor fast einem Jahr, der alte Mann sei auf dem Weg dorthin
verstorben.
Ich lächle wehmütig, vergessen, denke ich.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine nicht alltägliche geschichte. gut erzählt. aber aus einem verbandskasten kannst du nur selten etwas für die erste hilfe herausnehmen. gewöhnlich sind da nur briefe und andere papiere drin. greif zum verbandkasten, der hat das gewünschte. ganz lieb grüßt
 



 
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