Die apricotfarbene Dame

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Als ich etwa 16 Jahre alt war und an einem bilderbuchhaften Frühlingstag durch die Straßen meiner Stadt von der Schule nach Hause fuhr, bemerkte ich in einem traumverlorenen Augenblick die apricotfarbene Dame.
Da war sie auf einmal. Leuchtete mir förmlich entgegen.
Obwohl alles blitzschnell vonstattenging, habe ich sie noch lange nicht vergessen. Manchmal frage ich mich immer noch, was die apricotfarbene Dame wohl heute so macht.
Damals, und das ist auch schon die eigentliche Sache, trat die apricotfarbene Dame gerade aus dem Schatten eines Cafés in die Sonne heraus und triumphierte genießerisch mit einer Eistüte in der Hand.
Das haselnussbraune Haar trug sie hübsch ordentlich frisiert, pastellfarbene Lippen versenkten sich augenblicklich in der kühlen Cremigkeit.
Ihre malerische Aufmachung bestand derweil in einer Rock-Blazer-Kombination in eben jenem schimmernden Apricot-Ton, wie ihn nur blaugetünchte Frühlingstage vertragen. Eine frischweiße Bluse vervollständigte das anmutige Bild, das nach unten hin in farblich abgestimmte Pumps auslief. Warmgolden glitzerte der Hauch von Schmuck am Dekolleté, eine filigrane Uhr entsprach am zarten Handgelenk der damaligen Zeit. Es waren die 90er Jahre.
Mir war es in jener Minute, als hätte die Frau den Frühling angezogen, das nahm mir den Atem.
Ich stellte mir vor, wie die apricotfarbene Dame morgens vor dem Schrank abwog, ob es dieses oder jenes wird, was sie durch den Tag tragen will.
Ich überlegte, welche Berufe sich in einem solchen Outfit abarbeiten lassen, wohin die apricotfarbene Dame in ihrer Mittagspause spazieren würde, ganz leger, mit dem Eis in der Hand.
Welche Geschmacksrichtung sie sich wohl ausgesucht hat? Spontan fielen mir apricotfarbene Geschmäcker ein: Mandarine, Pfirsich, Melone, um das Bild perfekt zu machen.
An jenem Tag in jenem Moment spulte ich im Geist Frühlingsgedichte ab, die wir eben noch in der Schule aufgedrückt bekamen. Sie schienen sich in der apricotfarbenen Dame zu personifizieren und höchst lebendig durch die Straßen zu flattern.
Nur sekundenlang konnte ich die Szene beäugen, ehe die Straßenbahn wieder anfuhr, aber ich beäugte sie inständig.
Danach war ich sehr seltsam betrübt.
Es erwachte in mir das seufzend tiefe Bedürfnis, mich selbst in einen apricotfarbenen Schmetterling zu verwandeln; zugleich regte sich die bittere Gewissheit, dass ich bleiben würde, was immer ich war.
Ich wünschte mir äußerst verzweifelt, schick Eis zu essen und aufrecht selbstverständlich in die Welt zu spazieren und mir beim Genießen von einer Frühlingssonne das Gesicht ausleuchten zu lassen.
Ich wollte die Tage anziehen und austragen und von schrägen kleinen Schülerinnen aus der Bim heraus bewundert werden.
Allein, mein Schrank gab das nicht her.

Auch nicht das sandfarbene Leinenensemble, nach dem ich ein andermal die Läden absuchte.
Ich sollte wohl einfach keines besitzen.
Ein weiteres Bild hatte mich wiederum eben damit beeindruckt, aber es war nicht so stark wie das der apricotfarbenen Dame. Vielleicht war es auch nur die Idee eines Plakats, einer Werbung oder einer Filmsequenz, die sich bei mir als Leinen-Safari-Fantasie verfangen und sich mir in den Kopf gesetzt hat.
Jedoch, so sehr ich mich auch durch die Sonderangebote und Discounter wühlte - immer fand ich nur schlecht geschnittene und minderwertige Kopien, die ich mir mit Mühe leisten konnte und die ich natürlich nicht mit jener lässigen Eleganz auszufüllen verstand wie die anvisierten modischen Vorbilder.
Mein ergattertes Leinenduo schließlich war steif und ein stückweit zu groß, außerdem war es in sandfarben nicht mehr zu kriegen, nur noch in düsterem Schwarz.
Dennoch trug ich es sehr glücklich an jenem Tag, als mich meine große Liebe an einen Baum gelehnt inniglich geküsst hat.
Es war ein Frühsommertag im Wald hinter der Schule, den Baum weiß ich immer noch.

Ja, so war das wohl gewesen.
Jedenfalls, wenn ich heute ein apricotfarbenes Kleid sehe oder ein schickes Leinenoutfit, muss ich augenblicklich an all dies denken, ob ich will oder nicht.
Es geht im Nu und all die Bilder und Erinnerungsfetzen, Personen, Orte und Begebenheiten sind in meinem Kopf, das ist doch seltsam.
Sie aufzuschreiben dauert so viel länger.
 



 
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