Die Attraktion

Kayl

Mitglied
Die Attraktion

Ein Dutzend Leute starrte zu uns hoch.
„Komm her, sieh dir das an“, rief ich meine Frau herbei, „was zum Teufel gibt es hier oben zu sehen?“
Alle unsere Fenster waren geschlossen, kein Vorhang wehte draußen, kein Wäschestück hing vor der Mauer zum Trocknen, keine provozierende Fahne, kein Transparent.
Und doch starrte das Volk an der Straßenbahn-Haltestelle zu uns zum dritten Stock hoch, gestikulierte und diskutierte, als würden wir an unseren Fenstern ein Kasperltheater aufführen.
Ich war damals von dieser Wohnung nicht begeistert. Wir mieteten sie trotzdem, Kaiserallee in Karlsruhe. Zwei Zimmer im Dachgeschoss eines grauen Altbaus: schräge Wände, lockerer Putz, wenige uralt-Steckdosen, umso mehr Tapetenschichten, knarrende Dielen, Einfach-Fenster, verzogene Türen. Eine Wand zur Nachbarwohnung bestand nur aus einer Faserplatte, weil beide mal zusammen gehörten, der Ausguss aber war ein schweres, steinernes Becken, das auch die nächsten Jahrhunderte überdauern könnte.
Das Bad hatte eine solide alte Badewanne, außen bis zum Fliesenboden ebenfalls mit Fliesen verkleidet. Meistens haben wir geduscht, manchmal aber gönnten wir uns ein Ganzkörperbad, um es mal präzise auszudrücken.
Das Treppenhaus wirkte immer etwas schmuddelig durch die blätternde Ölfarbe, die ausgetretene Holztreppe und das durch unzählige Hände glanzpolierte und wackelnde Geländer.
Unser Kellerverschlag, feucht und fensterlos, war nicht zu gebrauchen, weil voller Müll.
An den meisten Briefkästen unten im Flur waren die Blechtürchen aufgebogen und das Schloss zerstört. Der Briefträger warf die Post in die heilen Nachbarkästen im Vertrauen auf die Ehrlichkeit der Bewohner. Hier unten roch es immer nach Frittierfett, nach Bier, Zigaretten und Urin, denn im Erdgeschoss war eine Kneipe, und der Wirt schickte die letzten Gäste nach der Sperrstunde nicht durch den Kneipeneingang sondern nach hinten durch unseren Hausflur.
Mit den anderen Hausbewohnern gab es keinen Zwist.
Bis eines Tages ein junges Paar klingelte.
„Entschuldigen Sie die Störung. Aber wir müssen Sie doch einmal fragen: Ist vielleicht Ihr Dach undicht?“ Wir sahen uns an. Haben wir einen Dachschaden? Die Frage war aber nicht beleidigend gedacht, denn der Mann ergänzte: „Vielleicht auch am Küchenausguss oder …“, er sah verschämt nach seiner Frau, „es könnte auch der Ablauf der Toilette sein. Wir wohnen unter Ihnen, und an unserer Decke wird es hin und wieder feucht. Sehen Sie selbst!“ Er wies zur Treppe hinunter.
Ich war noch im Bademantel, zog mich deshalb um, und wir gingen mit den beiden hinunter in ihre Wohnung. Tatsächlich: Decke und Wand waren ungefähr einen Meter breit bis zum Fußboden nass. An manchen Tagen würde es regelrecht herunter rinnen.
Wir fanden aber kein Leck bei uns, auch keinen zeitlichen Zusammenhang zum Anschwellen des Rinnsals und dem Regenwetter oder unserem Abwasch im Küchenausguss. Wir konnten nur bedauernd die Schultern zucken.
Zurück von einem Waldlauf saß ich im Bademantel im Wohnzimmer, als es an den oberen Wohnungstüren Sturm klingelte. Ein leibhaftiger Polizist stand vor uns, nahm Haltung an und fragte höflich aber bestimmt: „Wo ist in den oberen Etagen ein Wasserrohr gebrochen?“
„Bei uns nicht!“
Der Uniformierte eilte zur nächsten Klingel. Dann tat sich nichts mehr.
Ein anderes Mal kam der Wirt hochgesprungen. Seine Gäste hätten sich über die unfreiwillige Dusche vor der Kneipentür beschwert. Oben aus dem Mauerwerk würde Wasser auf den Bürgersteig herunter platschen wie ein Wasserfall. Nun konnten wir uns auch erklären, warum an der Haltestelle die Wartenden hin und wieder wie gebannt zu unserem Haus hochsahen und eifrig diskutierten. Verstärkung fand der Wirt gleich beim Ehepaar unter uns. Es rann wieder die Zimmerwand hinunter.
So langsam dämmerte es mir. Ich hatte mir nach dem Sport soeben wieder ein Vollbad gegönnt. Es war kein Regenwasser, auch nicht unser Abwasch oder die Klospülung. Aufruhr gab es immer nur, nachdem ich die Wannenfüllung abgelassen hatte.
War es unsere Badewanne? Mir war nicht wohl in meiner Haut. War das Abflussrohr gebrochen? Wie kam sonst das Wasser durch die Decke und ins Freie?
Wie ein erwischter Sünder schraubte ich klammheimlich die Wartungsklappe aus der Wannenverkleidung in der Hoffnung, vielleicht hier schon die Ursache zu finden.
Ich lachte laut los: Das Wannen-Abflussloch hatte keine geschlossene Verbindung zum Kanalrohr, sondern mündete frei unter der Wanne. Eine Handbreit darunter erst war ein Gully im Fußboden, der so verstopft war, dass er soeben noch das allmählich ablaufende Wasser eines Duschbads aufnehmen konnte, nicht aber eine Wannenfüllung. Der Raum unter der Wanne, fein abgedichtet und unsichtbar durch die Fliesenverkleidung, lief also voll, und die Wassermenge suchte den Weg des geringsten Widerstands durchs Mauerwerk, das durch die Erschütterungen der hier ums Eck rumpelnden Straßenbahn wohl rissig geworden war.
Wir verzichteten auf Vollbäder, bis die Verwaltung den Wannenabfluss verrohrt hatte.
Das Paar klingelte bei uns. Als ich öffnete, wieder im Bademantel, schwenkte der Mann vergnügt eine Weinflasche. „Ein guter Tropfen für die Gewissheit, zukünftig nicht in einer Tropfsteinhöhle hausen zu müssen.“
Aber den Karlsruhern entging die Touristenattraktion eines Wasserfalls in der Kaiserallee.
 



 
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