Die Aufgabe (Ein Prosa-Gedicht)

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Max Neumann

Mitglied
Kennst du das Husten des alten Mannes?
Er liegt auf einem Plektrum
Den ganzen Tag auf dem Plektrum
Das ans Ufer des Flusses im Norden gespült wurde
In der Nacht der Engel

Die Saiten der Gitarre glühen
Doch keiner spielt
Eine Hutspende liegt verlassen
In der Ecke der Kneipe
Menschen sind dort nicht

Doch Engel räumen auf: Reste aus Scherben und Kartoffelsalat

An den Wänden stehen Namen
Überall, auf jedem Stück Tapete
Verschmierte Buchstaben, kaum leserlich
Wie gekritzelt

Dann hörst du einen Engel sprechen:
Mein Freund. Willst du die Wahrheit hören?
Du nickst.
Der Engel geht nah an dein Ohr und flüstert.
(Du riechst seinen Atem. Er riecht nach Zimt.)

Die Wahrheit ist, sagt der Engel und kichert kränklich: Nur ein einziger Name steht an diesen Wänden. Schau genau hin!

(Und du siehst die Wahrheit. Wie ein Sonnenstrahl, der in dir aufgeht. Es ist ein wärmendes Gefühl.)

***

Der alte Mann auf dem Plektrum hustet. Er dreht sich herum zu dir und sieht dir in die Augen.

Die Engel sind mit der letzten U-Bahn nach Hause gefahren. Ihr Heim liegt nämlich im Süden. Ihre Schritte hinterlassen feinen Lichtstaub.

Du küsst den alten Mann auf die Stirn. Er ist wieder eingeschlafen.
Nun gehst du den Engeln hinterher.
Deine Aufgabe im Norden ist erfüllt.

Du hast an den Wänden die Wahrheit über dich gefunden. Mehr gibt es hier nicht zu tun. Folge nun dem Lichtstaub der Engel; sie werden dich zu deiner Heimat im Süden führen.

Auf deinem Weg werde ich über dich wachen. Sei ohne Angst, mein Freund. Lass los. Dir kann nichts passieren.
 
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petrasmiles

Mitglied
Lieber Max,

Dein Prosagedicht erscheint mir wie ein eigener Schöpfungsmythos, vermischt mit Fantasyanklängen und einem Schuss Märchen.
Eine eigenwillige Mischung - und die tröstliche Stimme eines guten Vaters, quasi religiös.
Aber warum kichert der Engel kränklich?

Liebe Grüße
Petra
 

Max Neumann

Mitglied
Guten MorgenPetra,

danke für dein Feedback.

Der Engel kichert kränklich, weil er sich in einem kränklichen Umfeld befindet. Wir müssen uns den Ort vergegenwärtigen: Es ist eine Kneipe – Scherben auf dem Boden, Reste von Kartoffelsalat auf den Tischen. Die Engel beseitigen die Überreste der Menschen, die dort gefeiert haben.

Das ist natürlich eine Frage der Wahrnehmung. Manche Leserinnen und Leser mögen darin etwas Fröhliches, Nachklang einer ausgelassenen Nacht, sehen. Andere wiederum, die schreckliche Erfahrungen mit Alkohol oder Drogen gemacht haben, empfinden dieses Umfeld ganz anders – nicht als Ort der Heiterkeit, sondern als Spiegel menschlichen Verfalls, als Ort, an dem die Menschlichkeit selbst brüchig wird.

Darum hängt alles eng mit dem Ort zusammen, mit dem Umfeld. Dennoch sind die Engel Boten einer gütigen, wohlwollenden Kraft. Von ihren Füßen fällt Lichtstaub ab – Spuren des Guten, das bleibt, selbst wenn sie Schmutz beseitigen. Nachdem ihre Aufgabe im Norden erfüllt ist, ziehen sie weiter in den Süden – dorthin, wo das lyrische Ich lebt.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Max,

dann habe ich das richtig gelesen - es ist eine Art Selbstermächtigung eines Individuums incl. Schöpfungsmythos begleitet von einer guten Kraft.
Gefällt mir sehr.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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