Die Augen

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DIE AUGEN
Im Gedenken an Anne Frank und Ella Lingens

Ich habe letzthin keine Angst mehr, seit meine Mutter, nachdem wir an jenem frostigen, verschneiten Morgen miteinander gebetet haben, mich beschworen hatte, an dem Glauben festzuhalten, dass hinter allem im Leben ein Sinn steht – auch wenn ich diesen nicht sofort zu erfassen vermag –, bevor sie sich ruhigen Schritts in die Schlange ein paar Meter neben mir einreihte, in der schon zahllose Frauen, alte wie junge, Kinder und Säuglinge warteten.

Dies mag eine Woche her sein, vielleicht auch einen Tag mehr oder weniger. Ich sollte mir solche Dinge merken können, ich bin noch jung und wissbegierig und erst kurze Zeit an diesem Ort, aber ich kann es nicht genau sagen. Hunger, Durst, Arbeit, Schläge, Kälte, Erschöpfung und Krankheiten machen die vergehende Zeit bedeutungslos, sodass kaum jemand mehr die Tage zählt. Man ist sich zwar bewusst, dass der Tag vierundzwanzig Stunden hat, und ich erinnere mich daran, dass ich ein paar Tage vor der Räumung des Ghettos siebzehn geworden bin, aber wenn man vom Tod umgeben ist, gibt es keine Zeiteinheit mehr außer den Augenblicken, in denen man dem Klang seiner Atemzüge lauscht, in der Hoffnung, sie mögen sich leidlich gesund anhören. Man rechnet nicht mehr in Stunden, Tagen, Monaten oder Jahreszeiten, denn die Zahlen mochten an etwas erinnern, das man vergessen musste, um sich auf das nackte Überleben konzentrieren zu können

Ich habe meine Mutter nicht wiedergesehen, und mittlerweile habe ich auch gelernt, was mit jenen geschah, die zusammen mit mir angekommen waren und dann in jene andere Schlange getrieben wurden, deren Zug durch das Wäldchen neben den Bahngleisen die Zurückgebliebenen eine Weile beobachten konnten, während sie hungrig, durstig, frierend und angsterfüllt auf etwas warteten, für das es noch keinen Namen gab. In den Lagern weiß man, was hinter dem Wäldchen auf die Menschen wartet; es wiederholt sich täglich, zunehmend mehrmals am Tag, aber nach einer Weile spricht man nicht mehr darüber, ebenso wenig über die Gefahren und Schrecknisse der Zählappelle, die jeden Tag stattfinden, wobei der Morgenappell vorrangig dazu dient, die nicht mehr Arbeitsfähigen, die Schwachen und Kranken auszusortieren.

Man muss eine – wenigstens auf den ersten Blick – gesunde Gesichtsfarbe vorweisen können, und es muss gelingen, die immerwährende Erschöpfung hinter einer aufrechten, angespannten Körperhaltung zu verbergen, sowie Geschwüre, Wunden und kleinere Erfrierungen unter den Kleiderfetzen zu verstecken. Aber die Ohnmacht, der Hunger und die Kälte sind schrecklich und übermächtig, und wir sind alle krank an Leib und Seele. Erkrankt jemand ernsthaft über Nacht, so weiß derjenige, was ihm am nächsten Morgen bevorsteht. Um das Schlimmste, aller Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, doch eine Zeitlang, vielleicht nur einen weiteren Tag, vermeiden zu können, helfen sich die Frauen meiner Baracke hin und wieder gegenseitig mit Rat und Tat, obwohl es wenig gibt, das man tun kann und die Apathie dem Schicksal der anderen wie dem eigenen gegenüber immer gegenwärtig ist.

Es ist seltsam, dass ich nach wie vor keine Angst vor dem Tod verspüre, obwohl ich in ständiger Furcht lebe. Ich kann es mir nur so erklären, dass es einen Unterschied macht, ob man sich mehr vor dem fürchtet, was mit einem geschieht und wie es geschehen mag, als vor der Gewissheit, dass es unweigerlich geschehen wird. In solchen Momenten frage ich mich häufig, was meine Mutter wohl damit gemeint hat, dass sich hinter allem, was einem im Leben widerfährt, ein Sinn verbirgt. Neulich überhörte ich ein Gespräch zwischen einer älteren Frau um die vierzig und einer jüngeren, die vielleicht Anfang zwanzig sein mochte. Die Jüngere sprach von der Absicht, sich sobald es ihr möglich ist in den elektrischen Lagerzaun zu stürzen, wovon sie die Ältere abzubringen versuchte, indem sie ihr zu bedenken gab, dass sie derart niemals erfahren werde, was mit ihr, mit uns allen geschieht. Ich konnte darin keinen rechten Sinn entdecken, denn tot ist schließlich tot, und auch wenn ich mich mit meinem Tod nicht abfinden kann, solange ich noch so jung bin, so weiß ich doch, dass mein Tod vorgesehen ist.

Mein Land wurde mit Krieg, Terror und Entrechtung überzogen; Vorgänge, die ich auf gewisse Weise begreife, zumal die Zeitungen im Vorfeld ausführlich über die politische Lage berichteten und das Thema am Familientisch kaum jemals verstummte. Man überfällt ein Land, weil man es beherrschen, berauben, ausbeuten will. Was ich jedoch nicht begreife, ist, wie man zu der Vorstellung gelangen kann, dass andere Menschen zu einer minderwertigen Rasse gehören, welche keine Daseinsberechtigung hat, zu deren Auslöschung man demzufolge berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet ist.
Mein Vater wurde bei der Räumung unserer Wohnung während der Auflösung des Ghettos kurzerhand erschossen, als er noch einmal in die Wohnung zurückwollte, weil er vergessen hatte, die Mesusa abzunehmen. Der Soldat, welcher auf meinen Vater schoss, lächelte mir daraufhin beruhigend zu und half mir sogar mit meinem Koffer, der sich geöffnet hatte, als ich ihn vor Entsetzen fallen ließ. Es ist eine sinnlose Erkenntnis wie eine grausame Ironie, dass dieser Soldat, der Mörder meines Vaters, mir dergestalt die letzte halbwegs freundliche Geste zuteilwerden ließ, die ich seitdem erlebt habe.

Beim Appell gestern Morgen wurde jede dritte Person einer Reihe aufgefordert vorzutreten, und danach wurden an die vierzig Frauen ohne weitere ärztliche Prüfung abgeführt. Eine Frau, die sich verzählt hatte und demzufolge nicht sofort begriff, dass sie an der Reihe war, wurde an Ort und Stelle erschossen, während sie noch in der Reihe stand. Danach wurden wir an unsere Arbeitsplätze in der Fabrik geführt; andere in die Kiesgruben, Entwässerungsgräben, Torffelder und Sümpfe rund um die Lager. Später sprach jemand davon, dass mit jener Art der morgendliche Selektion Platz geschaffen werden soll, um die täglichen Massen der Neuankömmlinge, die noch zur Arbeit benötigt werden, bewältigen zu können. Bei jedem Abendappell sind weniger übrig als morgens losmarschiert sind. Täglich sterben Leute aus Hunger und Erschöpfung, und manchmal sprechen die Zurückgekehrten noch flüsternd über die Erschießungen, die regelmäßig in den Sümpfen und Wäldern während der Arbeit stattfinden, und über die Frauen, die von Hunden zerfleischt oder mit Gewehrkolben und Knüppeln totgeschlagen wurden.

Während des Arbeitstages – einen Ruhetag gibt es nicht – wird uns nur eine kurze Pause zugebilligt, die der Notdurft sowie der Nahrungsaufnahme dient. In der Regel besteht das Essen aus einer wässrigen Kohlsuppe, hin und wieder durch ein Stück hartes, oftmals verschimmeltes Stück Brot ergänzt. Ich arbeite so eifrig und hart ich es vermag. Die Arbeit – das Schleifen und Polieren von Geschoss- bzw. Granathülsen –, während der miteinander zu sprechen verboten ist, ist eintönig, aber ich habe rasch verstanden, dass man um jeden Preis den Eindruck von Eifer, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit und Nützlichkeit zu vermitteln hat. Dabei muss man ständig auf der Hut sein, damit man sich nicht an den scharfen Kanten der Geschosshülsen schneidet, denn ein Ausfall bei der Arbeit, nur der Anschein von Unwilligkeit oder Erschöpfung, bedeutet fast immer den Tod.

In meiner Baracke geht das Gerücht, dass zum Betreiben der Kammern und Öfen Häftlinge eingesetzt werden. Mehrere Frauen berichten, dass sie von anderen gehört haben, die es wiederum von anderen wissen, dass die Häftlinge nicht nur mit der Beseitigung der Leichen beschäftigt sind – was in der Regel Verbrennen bedeutet –, sondern ebenso mit dem Geleit der Opfer in die Kammern und der Verwertung ihrer Habseligkeiten, Schuhe, Bekleidung und sogar Haare, bis hin zur Schändung der Leichen auf der Suche nach Goldzähnen und verborgenem Schmuck, und selbst die Asche der Ermordeten finde in Teichen, auf den Feldern wie vereinzelt in den Gärten der Offiziere noch eine Verwendung. Jener Teil von mir, welcher noch immer zu beten vermag, kann dies nicht glauben. Anderen Frauen geht es wohl ähnlich, denn sie raunen mehr oder weniger übereinstimmig, dass der Schöpfer dies nicht zulassen würde und sie im Übrigen nichts gehört hätten. Man bekommt die Mitglieder der sogenannten Kommandos niemals zu Gesicht, und dann sagt jemand, dass diese absichtlich isoliert werden, worauf eine Frau erwidert, es müsse stimmen, denn jemand aus der Nachbarbaracke habe gehört, wie eine ukrainische Aufseherin über die Öfen und die Leichenfledderer der Kommandos, wie sie diese verächtlich bezeichnete, gespottet habe, voll höhnischem Stolz darauf, dass sie in die Pläne und Geheimnisse der Herrenrasse eingeweiht ist. Angeblich habe jene Aufseherin auch die Redewendung ins Gas gehen geprägt, die im Lager in aller Munde ist.

Der heutige Morgenappell wurde von einem neu angekommenen Arzt begleitet, welcher, im Unterschied zu dem Vorherigen, der häufig betrunken war und barsch und fahrig auftrat, ruhig und selbstbewusst durch die Reihen schreitet und sogar mit den Frauen, die ihn Herr Doktor nennen dürfen, spricht. Er ist noch jung, vielleicht Anfang dreißig, groß gewachsen, dunkelhaarig und gutaussehend, und manchmal lächelt er freundlich und aufmunternd, wenn er etwa eine Frau auffordert, die Zunge herauszustrecken und zu husten, und heute Morgen hat er wenige Meter von mir entfernt eine ältere Frau sogar gefragt, wie sie sich fühlt. Aber er hat die kältesten blauen Augen, die ich jemals in meinem jungen Leben bei einem Menschen gesehen habe, und mich schaudert bei der Vorstellung, dass er mich abtastet oder mit mir spricht. Er erinnert mich an einen Hund aus meiner ehemaligen Nachbarschaft, dessen friedliche, zeitweise Trägheit ein völlig anderes Wesen vermuten ließ als jenes, welches er offenbarte, wenn er kläffend, mit hektischen Schritten und starren, grausamen Augen und gebleckten Zähnen am Gartenzaun Wache hielt.

Als ich die kalten Augen des Arztes bemerkte, wie er heute Morgen an mir vorbeischritt um mit jener Frau zu sprechen, fiel mir der mechanische, gleichgültige Unterton in seiner Stimme auf, der, trotz seiner entspannten, freundlichen Miene der gefühllosen Kälte seiner Augen entspricht. Aber meine Abscheu vor dem Arzt und seinem Auftreten mag sich auch auf die bildhafte, wenn auch verschwommene Vorstellung gründen, die sich mir im Bibelunterricht von der Schlange im Garten Eden eingeprägt hatte. Natürlich sind die Lager so weit entfernt vom Garten Eden, wie es nur denkbar erscheint – in meinem Glauben kennt man die Vorstellung von einer Hölle nicht –, aber ich hatte gelernt, dass jene Schlange ihre bösen Absichten hinter wohlklingender, verführerischer Freundlichkeit zu verstecken im Stande war.
Man kann spüren, dass diesen Augen nichts entgeht, was ihrem Besitzer dabei hilft, seine Aufgabe so pflichtgemäß wie beflissen zu erfüllen, und während ich ihn beobachte habe ich das Gefühl, erwachsen und sehr alt zu sein, erkenne ich doch, dass das Paradies niemals das gewesen sein kann, als was es meinem kindlichen Ich gepriesen wurde. Der Blick dringt durch Schuhe und Kleidung, durch die Schicht aus Blut und Staub, mit denen manche Frauen ihre Gesichter belegen, um die Blässe, die Krankheit, Furcht und Verzweiflung hervorbringt, zu überdecken. Man ahnt, dass diese Augen einem gebildeten, fleißigen, ernsthaften Mann gehören, der von seiner alltäglichen Aufgabe überzeugt ist. Die Vorstellung, dass ihn seine Tätigkeit als gottähnlichen Ankläger und Richter zugleich erscheinen lassen muss, würde er, müsste er sich mit solchen Gedanken beschäftigen, mit schlüssigen, sachlichen Argumenten zurückweisen: Er ist nur ein Abgesandter, der natürliche Teil einer vom Zufall erlösten irdischen Ordnung, nach der Tod und Leben nicht mehr lediglich dem blinden Walten der Natur überlassen sind. Er steht vor dir, sieht durch deine bedeckte wie nackte Hülle hindurch, wählt dich aus, prüft deinen in seinen Augen geschlechtslosen Körper auf seine Brauchbarkeit, der kein Wert mehr zugrunde liegt als sein Wille. Ob du dich fürchtest oder nicht, dich aufgibst oder weiterhin hoffst – es spielt keine Rolle, denn selbst wenn du noch arbeiten kannst, bleibst du doch unwertes Leben. Du besitzt keinen Wert, der nicht im nächsten Augenblick gänzlich vernichtet werden könnte, ohne den Gedanken an einen Verlust auch nur aufkommen zu lassen. An unsere Zahl mag man sich erinnern, dass es uns gab und dass wir so viele waren, aber niemand wird sich daran erinnern, dass du gestorben bist, bevor du noch richtig gelebt hast, oder deine Nachbarin und ihr unlängst geborenes Kind, oder deren Nachbar, seine Frau, seine Eltern, seine Freunde.

Dieser junge, gutaussehende Arzt steht vor dir, seine kalten Augen betrachten dich, und nur er allein könnte sagen, was er sieht, doch du weißt, was er nicht sieht, und das bist du, der Mensch hinter der Hülle, denn es gibt dich nicht – und deshalb brauchst du auch keine Angst mehr zu haben. Jawohl, ich habe keine Angst mehr, aber ich bin mir nicht völlig sicher, ob ich den Sinn dahinter verstehe, keine Angst mehr haben zu müssen, weil ich argwöhne, dass ich meinen Überlegungen nicht mehr wie früher vertrauen darf, obwohl sie nach wie vor imstande sind, Beobachtungen zu sortieren und zu bewerten. Ich bin für mein Alter recht groß und kräftig geraten, und ich versuche mich immerzu aufrecht zu halten und jederzeit arbeitsfähig zu erscheinen. Ich weiß, es ist der einzige Wert, den ich in den Augen des Arztes haben darf, und seine Augen ruhen mit einem Wissen auf meiner Erscheinung, an dem ich nicht teilhaben kann. Da ist er schon an mir vorübergegangen, er hat keine erkennbare Regung gezeigt und nichts gesagt, es hat keine drei Sekunden gedauert. Der Arzt hat keine Zeit, um sich außerhalb seiner Arbeit mit meinesgleichen zu beschäftigen, denn er hat für Tausende zu sorgen, und die Arbeit ist noch lange nicht beendet. Er weiß, wie unwert ich bin, er schätzt mich richtig ein, denke ich doch immer noch, selbst inmitten des Todes, an den lebendigen, alltäglichen, praktischen Wert meines Daseins, aber dieses Denken ist ihm fremd. Die Welt hat ihn dessen enthoben. Sie hat es so eingerichtet, dass er, selbst wenn er wollte, für mich keine Zeit erübrigen kann, denn anders könnte er seiner Arbeit nicht so fleißig, so selbstlos und gerecht nachkommen, denn auch der Arzt ist zuweilen schwach und zu menschlicher Empfindung fähig. Er mag sich sogar einen Christen nennen, aber die Welt hat beschlossen, die Liebe zum Nächsten und die Menschlichkeit für die Dauer seiner Arbeit aus ihr, der Welt, zu verbannen.

Ich frage mich, welche Art von Sinn dies alles ergeben müsste, der mir erlauben würde, jenen zu erkennen. Es ist wahr, dass ich nicht mehr in Zeitabschnitten zu rechnen imstande bin, aber dennoch weiß ich, dass es noch nicht lange her ist, ein paar Wochen vielleicht, da ich in Jerzy, einen gleichaltrigen Jungen aus der Nachbarschaft, verliebt war. Ja, es mag noch nicht lange her sein, aber wenn ich an die verliebte, siebzehnjährige Frau denke, so will ich nicht mehr darauf beharren, dass ich sie kenne, ihr Wesen, ihren Charakter, nicht mehr jedenfalls, als ich mir einbilde, Darstellerinnen auf der Bühne oder in einem Film zu kennen. Diese essen, trinken, schlafen, scheiden Köperflüssigkeiten aus, lachen, lieben, leiden, sterben – aber sie existieren dennoch nicht.

Scharfe Kommandos und das Kläffen der Wachhunde reißen mich aus meinen Gedanken, wie eine Gruppe frisch Selektierter aus den Reihen zusammengetrieben und hinweg eskortiert wird, während wir Übrigen darauf warten, zur Arbeit geführt zu werden. Einen Moment lang überkommt mich ein unsinniges Gefühl der Erleichterung, weil ich bis zum nächsten Morgen den Augen des Arztes entkommen bin, aber dann werden sie wieder auf mir liegen und aufs Neue den Wert meines Fleisches abschätzen, kalt und gewissenhaft, unbestechlich und unwiderruflich, in der unbeirrbaren Gewissheit, dass der Schöpfung, vom Schöpfungsakt bis zu den Lagern, nie mehr als eine unbestimmte, unbedachte Laune zu Grunde gelegen haben muss, ohne Anleitung und Wertmaßstab, ohne innewohnenden Sinn und Zweck. Vielleicht aber täusche ich mich, und vielleicht hatte meine Mutter Recht, als sie mir an jenem frostigen, verschneiten Morgen versicherte, dass hinter allem, was einem im Leben widerfährt, ein Sinn steht, und jetzt, da ich diese Augen wieder auf mich gerichtet sehe, vermeine ich ein mir bisher entgangenes Lächeln darin zu erkennen; ein geheimes Lächeln, welches dennoch zu mir spricht, mir in meiner Sprache eine Botschaft sendet, die sich sanft und auf seltsam beruhigende Weise in meinen Gedanken einnistet:
Ich kenne dich und du kennst mich. Ich weiß, dass du mich verstehen kannst, und ich weiß, was du wissen willst: Ich lebe, damit du sterben wirst. Ich existiere und du verschwindest. Dein Leben hat keinen Wert außer dem, den ich ihm zubillige. Dein Tod hat keinen Sinn außer dem, den ich ihm gebe.

Und so mag der eigentliche Sinn darin liegen, dass ich mich auf meinen Tod vorbereiten kann, im Gegensatz zu jenen, die ihr Opfer nicht ahnten, die man aus den Viehwaggons gezerrt, ausgesondert, erniedrigt, beraubt, verhöhnt, geschlagen, ermordet und bis auf die zu Staub gemahlenen Knochen und die übriggebliebene Asche der vermeintlichen Vergessenheit überantwortet hat.

2021
 



 
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