Die Bar

RoToll

Mitglied
Leise und mechanisch surrend, dabei ein dezentes wie typisches Quietschen erzeugend, kam die Stadtbahn an der zentralen, unterirdischen Haltestelle zum Stehen. Zur nachmittäglichen Stunde ergoss sich aus deren Inneren ein ganzer Schwarm von Menschen auf den Bahnsteig. Sie alle wollten an diesem Samstag durch die Geschäfte, Bars, und Restaurants der Innenstadt ziehen. Unter ihnen befand sich ein junger Mann, der gar nicht weiter auffiel, sondern von der Menge, welche nun zu den zahlreichen Aufgängen und Fahrstühlen zog, verschluckt wurde. Sein Gesicht war der pure Durchschnitt und man sah es in jeder westlichen Großstadt gar hundertfach. Er trug Turnschuhe und Jeans, darüber eine dunkelgrüne Jacke, welche wohl etwas zu dick war für die heutige Wärme an einem Tag im späten Frühling. Aber was machte das schon? Ein jeder Mensch fühlte Temperaturen anders. Er ging die Stufen aus Pseudomarmor hinauf, da ihm die Rolltreppen viel zu voll waren. Diese Menschen hier konnte der junge Mann lediglich schwer ertragen. Nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre mochte er sein. Nachdem der Durchschnittliche aus der U-Bahnhaltestelle getreten war, tauchte er in der humanen Masse der Fußgängerzone unter. Normalerweise erzeugte bei ihm dieser Ort jede Menge Stress und bösartige Gefühle, die sicherlich an Hass heran grenzten. Heute jedoch war er ganz ruhig und trotz des Trubels um ihn herum schien alles sehr langsam, gar in Zeitlupe abzulaufen. Dazu wirkten all die bunten Logos der großen Mobilfunkkonzerne, Schnellrestaurantketten und Bankhäuser, die hier ihre Filialen unterhielten, wesentlich intensiver, als sie das bei seinen sonstigen Besuchen hier getan hatten. Auch war er sehr entspannt, womit sicherlich niemand rechnen konnte. Die letzten zwei Wochen, seit die Entscheidung endgültig gefallen war, hatten pure Aufregung, Vorfreude, aber auch tiefgehende Angst ihn heimgesucht und wenig schlafen lassen. Manchmal waren es nur zwei Stunden die Nacht gewesen. Doch gestern war all das verschwunden und der Schlaf wie der eines gesunden Babys gewesen. Der Allmächtige gab ihm nun die Kraft, die er brauchte. Er fühlte sich ungemein locker und nahm sogar Feinheiten in den Gesichtern der zahllosen Passanten wahr; die leichten und verblichenen Aknenarben bei einem Mitvierziger, der purpurne Lidschatten einer molligen Teenagerin, der fein frisierte Bart eines muskulösen Kerls in seinem Alter.

Das Ziel des Weges war eine Bar, in der sich bevorzugt die Homosexuellen dieser Großstadt und deren Einzugsgebietes trafen. Sie lag am Rande der Innenstadt in einer Seitenstraße. Die Zeit des Weges dorthin betrug nicht mehr als zehn Minuten Fußweg im gemütlichen Schritt. Egal ob ein Mensch am Nachmittag oder zur nächtlichen Stunde hier aufschlug, im Raum 19 herrschte stets reger Betrieb. Raum 19 war nicht speziell für Schwule oder Lesben, sondern offen für beiderlei Geschlechter. Zudem wurden Transsexuelle und Heteros hier ebenfalls warm empfangen. Von der Achtzehnjährigen, die ihre Sexualität zu finden hoffte, bis zum auf jung getrimmten Rentner lief im Raum 19 alles in friedlicher Koexistent kreuz und quer.

Als der Durchschnittsmensch die Bar betrat, spielten Erasure Oh l ` amour. Helle, abstrakte Kunst hing an den Wänden. An der Bar küssten sich zwei Männer in den Dreißigern. Zwei Frauen mit greller Schminke, die sicherlich auch Männer sein konnten, kicherten an einem der Tische vor sich hin. Ein Kerl, der ganz normal aussah, nahm einen großen Schluck von seinem Hefeweizen. An diesem Samstag fand sich hier fast kaum ein freier Platz. Er hatte erwartet, sich vor lauter Ekel übergeben zu müssen, aber er blieb die Ruhe selbst. Der Allmächtige schenkte ihm die Kraft. Er konnte dessen Anwesenheit förmlich spüren und der Allmächtige täte auch dafür sorgen, dass dieser unmenschliche Abschaum hier früher in die Hölle kam, als ihm lieb war. Er, der Durchschnittliche, wurde von dem Allmächtigen geleitet, hatte ihn an seiner Seite.

„Hey, setz dich doch zu uns! Du siehst so verloren aus“, sagte einer von zwei Männern von Anfang dreißig, die an jenem Tisch saßen, neben dem er stand.

Diese Worte drangen an seine Ohren, aber es wirkte, als müssten sie sich erst durch einen gewaltigen Kokon durchfressen. Als kämen sie über eine Distanz von vielen Millionen Lichtjahren und seien lediglich der Impuls eines weit entfernten Sterns. In diesem Moment konnte der Durchschnittliche Teile des Paradieses bereits sehen. Es bestand aus grünen Hügeln und kristallklaren Bächen unter einem strahlend blauen Himmel. Längst waren die Würfel gefallen.

„Allahu Akbar!“, rief der so durchschnittliche junge Mann aus, der erst vor fünfzehn Monaten zum Islam konvertiert war und sich in einer Hinterhofmoschee voller Hassprediger in Rekordzeit radikalisiert hatte. „Allahu Akbar!“

Dann zündete er seinen Sprengstoffgürtel unter der Jacke, welche etwas zu dick für diese Jahreszeit war.
 

Blue Sky

Mitglied
Ob und wann so ein durchschnittlicher Himmelsstürmer wohl bemerken wird, dass ihn seine Prediger richtig schön verarscht haben? :p
 



 
Oben Unten