Die Begegnung

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es war schon meine zweite Flasche Wodka heute Morgen. Zu betrunken um sie noch schamvoll zu verstecken, prostete ich demonstrativ den Passanten zu, die einen weiten Bogen um mein Bänkchen im Park vor dem Krankenhaus machten und mich mit entsetzten Gesichtern anstarrten.

Früh war ich aufgebrochen. Die Tankstellenangestellte, die ab 6:00 morgens wieder Alkohol verkaufte, kannte mich ja schon, kassierte mit mitleidigem Blick und warf mir ein obligatorisches „Schönen Tag auch“ hinterher.

Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von Hände und Füßen kehrte soweit zurück, dass ich mich wieder einigermaßen unauffällig fortbewegen konnte.

Fünf Kilometer waren es zu Fuß bis zu meiner Wohnung. Natürlich zu Fuß! Mein Führerschein war schon lange in der Obhut von Behörden, das Auto stand abgemeldet in der Garage, das Fahrrad hatte mir jemand im Suff geklaut und eine Fahrkarte für den Nahverkehr hätte ja so viel wie eine Flasche Schnaps gekostet. Dann doch lieber zu Fuß auf den Rückmarsch machen und in stillen Winkeln heimlich an der Flasche ziehen. Das Laufen ging anfangs noch recht gut und ich kam zügig voran. Mit leerer werdender Flasche allerdings ließ auch meine Kondition nach. Öfters mal musste ich mich auf ein Mäuerchen oder eine Parkbank setzen.

Das Krankenhaus war etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und immer mein letzter Rastplatz vor dem Endspurt in die eigenen vier Wände. Ich kannte den gepflegten Garten von früheren Abstürzen her recht gut und wusste, dass es dort ein sonniges und dennoch einigermaßen verstecktes Plätzchen auf einer Bank gab.

Da saß ich nun also und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit. „Nur nicht hinlegen“ sagte ich mir immer wieder. Schon einmal hatten mich die Stadtpolizisten dort beim Schlafen erwischt und mich in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Gut, dort kann man auch schlafen, hat aber am nächsten Morgen bis zur Entlassung immer mit schrecklichen Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Es kam aber, wie es kommen musste: Mein Kopf sackte zur Seite und alsbald träumte ich von vergangenen guten Zeiten, ohne Sucht und Probleme, in geistiger und körperlicher Stärke und stets erfolgsverwöhnt.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. „Jetzt ist es wieder so weit“, dachte ich bei mir. „Wieder erwischt und ab in die Zelle“. Langsam schlug ich die Augen auf und überlegte mir schon, was ich den freundlichen Beamten diesmal für ein Märchen erzählen könnte.
„Junger Mann, sind sie müde?“ Neben mir saß eine alte Dame. Klapperdürr und mit Sonnenhut. Ihre gütigen Augen, die mich anlächelten, lagen in einem faltigen Gesicht und ihre knöchernen Hände schlossen sich um meinen Arm, der immer noch die Wodkaflasche hielt.

„Oh, ich muss wohl etwas eingenickt sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und habe hier ein kleines Päuschen gemacht“, antwortete ich und gab mir Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Kein Wunder, bei diesem Schlaftrunk!“
Sie nahm mir mit einem gütigen Lächeln den Schnaps aus der Hand und entleerte ihn neben der Bank. Dann warf sie die leere Flasche in den Müllcontainer und setzte sich wieder zu mir. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt rebelliert und um mein Lebenselexier gerungen. Irgendetwas ließ mich jedoch nur paralysiert dabei zuschauen und eine Gegenwehr im Keim ersticken. Auf eine Standpauke, auf Vorwürfe und guten Ratschläge wartend, hörte ich der alten Dame zu. Nichts dergleichen. Sie erzählte mir, wie sie oftmals hier als kleines Mädchen und später als Frau und Mutter auf diesem Bänkchen gesessen und die Sonnenstrahlen genießend, die Enten auf der Wiese beobachtet hatte. Sie erzählte, wie sie hier ihren Ehemann kennengelernt und später den Kinderwagen neben der Bank geparkt hatte, während sie sich ausruhte.

Nach einer Weile stand sie auf, zog mich hoch, hakte sich bei mir unter und führte mich die paar Schritte hin zur Rezeption des Krankenhauses.

„Der junge Mann, mein Neffe, ist arg müde“, teilte sie der Dame hinter dem Tresen mit einem verschmitzten Lächeln mit. „Ich heiße Käthe Bögel und wohne hier in der Beethovenstraße 5. Nehmen sie ihn doch in ihre Obhut bis er wieder fit ist“.

Es kam, wie es kommen musste: Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und danach noch ein stationärer zweiwöchentlicher Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als geheilt und wieder vorzeigbar wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen und kehrte in meine Heimatstadt zurück.

„Das war jetzt aber das letzte mal“, dachte ich bei mir. „Noch so einen Trip und es ist endgültig aus mit dir! Der alten Dame solltest du dankbar sein – nein besser: Bedank dich persönlich bei ihr“
Ich kaufte einen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir an der Rezeption merkwürdigerweise klar und deutlich gemerkt hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan – ich würde gern mit Frau Käthe Bögel sprechen“, stellte ich mich an der Eingangstür vor. Der Mann mittleren Alters, der geöffnet hatte, musterte mich verständnislos: „Käthe Bögel ist meine Großmutter, sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden und liegt jetzt auf dem Waldfriedhof. Woher kennen Sie sie denn?“

„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie den gestorben?“ „Nun sie hatte in ihren letzten Jahren ein kleines Alkoholproblem. Die Ärzte im Krankenhaus konnten am Ende leider nichts mehr für sie tun“.
Er reichte mir ein Bild von ihr aus dem Flur. Ich brach zusammen.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Ironbiber, dies ist eine Geschichte über eine sonderbare Begegnung. Ich finde; sie liest sich flott, ist unterhaltsam und greift eine Problematik auf. Im Prinzip nichts dagegen zu sagen. Die Welt braucht sonderbare Begegnungen und deren Geschichten dazu. Ich möchte auch nur kurz meinen Eindruck wieder geben. Mir war das alles ein bisschen zu viel 'tell' und zu wenig 'show'. Ich weiß allerdings, dass an dieser Stelle die Geschmäcker auseinander gehen. An vielen Stellen bist du nicht konkret genug. Zitat aus dem Kopf : sie leerte die Flasche ...usw. - dieses 'leeren' ist mir irgendwie zu abstrakt. Sie könnte die Flasche auskippen, schütten, gegen einen Baum werfen, schmeißen, ... also alles Verben, die eine Handlung beschreiben die man sich nicht nur gut vorstellen, sondern fast schon hören und riechen kann. Bei 'leeren' passiert bei mir gar nichts. Das mit dem 'leeren' war nun nur ein Beispiel. An manch anderen Stellen ging mir das im Text ähnlich.
An vielen Stellen erinnert der Text auch ein bisschen an das Erzählen in vergangenen Epochen (ältere Dame - nur so als Beispiel). Ich habe das kürzlich schon einmal in einer Lesermeinung gesagt, sage es nun aber einfach nochmal: ich finde es schade, dass man sich hier im Forum sprachlich nicht viel zutraut, und dadurch viele Texte dann wie ein manikürter Rasen aussehen. Ich glaube, dieser Geschichte hätte etwas mehr Pepp gut getan. (das bedeutet aber im Umkehrschluß nicht, dass ich es besser gemacht hätte)
LG Vagant
 
U

USch

Gast
Hallo Vagant,
An vielen Stellen erinnert der Text auch ein bisschen an das Erzählen in vergangenen Epochen (ältere Dame - nur so als Beispiel). Ich habe das kürzlich schon einmal in einer Lesermeinung gesagt, sage es nun aber einfach nochmal: ich finde es schade, dass man sich hier im Forum sprachlich nicht viel zutraut, und dadurch viele Texte dann wie ein manikürter Rasen aussehen. Ich glaube, dieser Geschichte hätte etwas mehr Pepp gut getan. (das bedeutet aber im Umkehrschluß nicht, dass ich es besser gemacht hätte)
Das sehe ich genauso, liegt wahrscheinlich an der Alterslastigkeit im Forum. Viele erstaunlich sehr gut bewertete Geschichten läppern so dahin, sind gut manikürt (passt super dein Ausdruck) und haben oft überhaupt keinen Pepp (gilt natürlich auch für manche Texte von mir - bin ja auch alt). Gewagtere Wortschöpfungen und Satzkonstruktionen, sowie Freiräume für Fantasie werden oft abgebürstet. Man will´s alles genau vorgegeben haben, wie man sich´s vorstellt und es opportun ist (z.B. "ältere Dame trägt eine lila Hose im Café" geht gar nicht). Das gilt natürlich nicht für alle LeserInnen.

Hallo ironbiber,
bitte noch mal auf Kommata durchsehen.
LG USch
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Erst mal ein Dankeschön an die geneigten Leser und Kritiker.

Ich habe diese Geschichte bewusst in einer etwas altbackenen Art gehalten, weil ich glaube, dass eine Begegnung der dritten Art, zwischen Mysterium und Delirium, keinen flapsigen Erzählstil und Bildsprache verträgt und versucht, diesen Stoff, der locker einen Roman füllen könnte, auf das Wesentliche zu fokussieren.

Zudem, richtig erkannt, gehöre ich der reiferen Sorte von Lupianer an, die sicherlich hier in Überzahl, die Literatur der vergangenen Jahrhunderte repräsentieren. So kann es schon mal vorkommen, dass die Generationen aneinander vorbeireden.

Dazu stehe ich und arbeite an einer Annäherung in Toleranz und angemessener Manöverkritik, so wie dies hier ja auch geschehen ist.

Zu den Kommas: Ein schwieriges Thema, das ich selbst auch nicht souverän im Griff habe und deshalb in meinen Kritiken nur auf das Offensichtliche beschränke.

Für Korrekturvorschläge deshalb stets offen grüßt der Ironbiber.
 
Hallo Ironbiber, hallo Vagant, hallo USch,

Die Geschichte gefällt mir, auch und gerade wegen der Mehrdeutigkeit und des überraschenden Schlusses. Ich halte den Erzählstil für angemessen: unaufgeregt erzählend. Nach meinem Verständnis kommt er nicht antiquiert daher, wenngleich ich einige Ausdrücke so nicht verwendet hätte, z.B. "Bänkchen", "Mäuerchen" oder "ein kleines Päuschen"; dies ist mir etwas zu verniedlichend und korrespondiert nicht mit Worten wie "Suff" oder "Trip". Das ist aber nur ein subjektiver Eindruck.

Ich möchte gern einen Aspekt der Stellungnahmen ansprechen: die Frage nach dem zeitgemäßen Erzählstil. Ich beobachte nun ein Dreivierteljahr die LL und habe schon viele progressive oder experimentierfreudige Texte gelesen. (Wenn sie mir zu "innovativ" sind, brauche ich ja keine Stellung zu nehmen.)

Dagegen stelle ich immer wieder fest, dass manche "Progressive" gegen eher konservative Texte zu Felde ziehen, als gebe es nur eine Wahrheit und einen Weg. Ich kenne aus meiner Jahrzehnte langen bildhauerischen Tätigkeit diese Verfechter des "Innovativen, koste es was es wolle". Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Texte, die sich an der großen Literatur der vergangenen Jahrhunderte orientieren, auch heute ihre Berechtigung haben sollten; und ich freue mich über jede Geschichte, die sprachliches Können offenbart. Daher mein Appell: Lassen wir doch allen Richtungen ihre Berechtigung; Vielfalt wird der LL sicher gut anstehen.

Lieber Ironbiber, hier einige Kleinigkeiten, die mir auffielen:
Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von [red]Hände[/red] [blue]Händen[/blue] und Füßen kehrte soweit zurück,
„Junger Mann, sind [red]sie[/red] [blue]Sie[/blue] müde?“ Neben mir saß eine alte Dame.
Nehmen [red]sie[/red] [blue]Sie[/blue] ihn doch in ihre Obhut[blue]Komma[/blue] bis er wieder fit ist“.
„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie [red]den[/red] [blue]denn[/blue] gestorben?
Liebe Grüße von Bertl
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich werde wach, tauche aus dem Dämmern des Schlafes auf, sehe die ehemals weiße Gardine, habe wieder gestern abend den Rolladen nicht heruntergelassen und weiß: Ich brauche sofort etwas zu trinken. Sofort. Morgens ist es immer am schlimmsten. Ich muss trinken, sonst läuft gar nichts bei mir. Die Zunge klebt pelzig am Gaumen. Ich wälze mich aus dem Bett, lasse mich beinahe auf den Boden fallen und schlurfe ins Bad. Klappe den Toilettendeckel auf und stütze mich schwer auf die Brille. Ich würge, würge, aber es kommt nichts. Der Lebensekel kommt nicht raus. Kotzen auf leeren Magen ist schlimm, noch schlimmer ist aber der Teufel, der in meinem Bauch sitzt und sein Recht fordert. Wodka. Jetzt. Sofort. Ich quäle mich hoch, sehe mein Gesicht im Spiegel und erkenne mich nicht. Das bin nicht ich, das ist der andere. Der vor dem Wodka.

Ich muss fünf Kilometer bis zur Tankstelle laufen, um an ihn kommen. Das schaffe ich heute nicht, nie und nimmer. Im Prinzip schaffte ich das früher schon nicht. Aber da war ich noch irgendwie gesellschaftsfähig. Jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich stinke. Wann habe ich mich zuletzt gewaschen, rasiert, die Zähne geputzt? Ich erinnere mich nicht. Ist nicht irgendwo noch etwas, was Wodka am nächsten kommt? Ich tapse in die Küche, reiße die Schränke auf, wühle in Schachteln, Tüten, schiebe Essig und Öl beiseite, schaue in den Kühlschrank, sehe Ketchup und faules Obst, öffne den Unterschrank der Spüle und da steht sie.

Die eiserne Reserve.

Eine Flasche Mariacron, zwischen den Putzmitteln und Spüli, schon lange nicht mehr genutzt, deshalb weiß ich das gar nicht mehr, ich angele nach der Flasche, schraube den Verschluss mit zitternden Fingern ab, setze an und schlucke.

Ich schmecke Wasser.

Scheiße, nochmal. Noch einen Schluck. Wieder Wasser. Wer hat hier Wasser reingefüllt? Meine Ex, diese Hure? Meine Kinder, diese verlogenen Biester?

Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich heute nicht zur Tankstelle gehen werde. Fünf Kilometer sind der Wahnsinn. Alles ist Wahnsinn. Wahnsinnig sinnlos.





Hallo Biber, das ist ein spontaner Text von mir, der mir zu Deinem einfiel. Ich danke für die Eingebung - dein Text war mir zu langweilig. Sehr betulich, das hat aber nichts mit der Sprache zu tun, die ich in Ordnung finde, sondern damit, dass Du den Tag des Trinkers sehr beschönigend beschreibst. Für mein Dafürhalten auch zu sehr auf Happyend zielend und ich glaube kaum, dass jemand für den ersten Schnaps am Morgen so weit geht (gehen kann.) .

Das Mysterium am Ende gefällt mir aber. :)

LG Doc
 

Paloma

Mitglied
Hallo Ironbiber,

X-Faktor lässt grüßen. Eine nette Geschichte hast du da geschrieben. Allerdings ein paar Unstimmigkeiten gibt es doch. Wieso hat der arme Kerl kein Geld für Schnaps, wenn in seiner Garage ein abgemeldetes Auto steht – wäre er echter Alkoholiker hätte er höchstwahrscheinlich nicht mal ein Auto geschweige denn eine Garage.
Zahlen solltest du im Text immer ausschreiben – auch wenn es sich um eine Uhrzeit handelt.
Das „gütige“ bei der alten Dame kommt zweimal vor.
Ich weiß nicht, ob es mit drei Tagen Entgiftung und anschließend zwei Wochen Psychiatrie getan ist, vermute (hoffe) aber, du hast das recherchiert. Mir erscheint das so kurz.
Wendungen wie: Dachte ich bei mir, klingen altbacken, es reicht, wenn du schreibst: Dachte ich.
Und den letzten Satz würde ich streichen – aber den würde ich meistens streichen. :)
Ach ja, und die paar Vertipper eliminieren.

Trotz meiner kleinen Meckereien, gerne gelesen.

Liebe Grüße
Paloma
 
U

USch

Gast
Hallo Bertl,
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Texte, die sich an der großen Literatur der vergangenen Jahrhunderte orientieren, auch heute ihre Berechtigung haben sollten; und ich freue mich über jede Geschichte, die sprachliches Können offenbart. Daher mein Appell: Lassen wir doch [blue]allen Richtungen[/blue] ihre Berechtigung; Vielfalt wird der LL sicher gut anstehen.
Um nicht mißverstanden zu werden, das sehe ich auch so. Alle Stile haben ihre Berechtigung, doch es gibt Dominanzen in der LL, und ich finde es sehr schade, wenn innovative, moderne, wie du es auch immer nennen magst, deshalb die LL zu schnell verlassen (Bsp. Steky) oder runtergeputzt werden.
Deine sehr wertschätzende Form von Kritik ist sicher ein Beispiel, wie Rückmeldungen im Sinne der Etiquette sein sollten und dafür bin ich dir sehr dankbar, wenn du auch meine Texte kritisierst.
LG USch
 

Vagant

Mitglied
Hallo. Eine muntere Diskussion habe ich da angezettelt.
Ich möchte auch gar nicht mehr zur gewählten Sprache sagen.
Vielleicht etwas zur Form: Ich halte es für unmöglich, diese Art Thema und diesen komplexen Plot, in solch einer kurzen Form literarisch ansprechend zu verarbeiten. Sicher, man kann diese Geschichte auf zwei Seiten locker erzählen, bewegt sich dann aber ausschließlich in Erzählmodus. Da bleibt kein Platz mehr für die szenische Darstellung. Einer der ersten Ratschläge, die einem jede Stilfibel mit auf den Weg gibt, heißt 'show don't tell', also zeigen nicht erzählen, und ich denke, dass das genau die Sache ist, die eine Geschichte von einem Report unterscheidet.
Dein Protagonist kommt mir hier viel zu früh mit den Worten ' Alkoholismus' und 'Sucht'. Die sind ja Sachen, die ein Betroffener lange Zeit ignoriert (Ich hab' das im Griff. Ich könnt jederzeit aufhören.) Hier hättest du jedenfalls noch ein wenig an der Fallhöhe des Prot. schrauben können. Ach wenn's am Ende 500 Wörter länger wird. Was soll's.
Vagant
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es war schon meine zweite Flasche Wodka heute Morgen. Zu betrunken um sie noch schamvoll zu verstecken, prostete ich demonstrativ den Passanten zu, die einen weiten Bogen um mein Bänkchen im Park vor dem Krankenhaus machten und mich mit entsetzten Gesichtern anstarrten.

Früh war ich aufgebrochen. Die Tankstellenangestellte, die ab 6:00 morgens wieder Alkohol verkaufte, kannte mich ja schon, kassierte mit mitleidigem Blick und warf mir ein obligatorisches „Schönen Tag auch“ hinterher.

Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von Händen und Füßen kehrte soweit zurück, dass ich mich wieder einigermaßen unauffällig fortbewegen konnte.

Fünf Kilometer waren es zu Fuß bis zu meiner Wohnung. Natürlich zu Fuß! Mein Führerschein war schon lange in der Obhut von Behörden, das Auto stand abgemeldet in der Garage, das Fahrrad hatte mir jemand im Suff geklaut und eine Fahrkarte für den Nahverkehr hätte ja so viel wie eine Flasche Schnaps gekostet. Dann doch lieber zu Fuß auf den Rückmarsch machen und in stillen Winkeln heimlich an der Flasche ziehen. Das Laufen ging anfangs noch recht gut und ich kam zügig voran. Mit leerer werdender Flasche allerdings ließ auch meine Kondition nach. Öfters mal musste ich mich auf einen Mauervorsprung, einen Stein oder oder eine Parkbank setzen.

Das Krankenhaus war etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und immer mein letzter Rastplatz vor dem Endspurt in die eigenen vier Wände. Ich kannte den gepflegten Garten von früheren Abstürzen her recht gut und wusste, dass es dort ein sonniges und dennoch einigermaßen verstecktes Plätzchen auf einer Bank gab.

Da saß ich nun also und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit. „Nur nicht hinlegen“ sagte ich mir immer wieder. Schon einmal hatten mich die Stadtpolizisten dort beim Schlafen erwischt und mich in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Gut, dort kann man auch schlafen, hat aber am nächsten Morgen bis zur Entlassung immer mit schrecklichen Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Es kam aber, wie es kommen musste: Mein Kopf sackte zur Seite und alsbald träumte ich von vergangenen guten Zeiten, ohne Sucht und Probleme, in geistiger und körperlicher Stärke und stets erfolgsverwöhnt.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. „Jetzt ist es wieder so weit“, dachte ich bei mir. „Wieder erwischt und ab in die Zelle“. Langsam schlug ich die Augen auf und überlegte mir schon, was ich den freundlichen Beamten diesmal für ein Märchen erzählen könnte.
„Junger Mann, sind Sie müde?“ Neben mir saß eine alte Dame. Klapperdürr und mit Sonnenhut. Ihre gütigen Augen, die mich anlächelten, lagen in einem faltigen Gesicht und ihre knöchernen Hände schlossen sich um meinen Arm, der immer noch die Wodkaflasche hielt.

„Oh, ich muss wohl etwas eingenickt sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und habe hier eine kleine Pause gemacht“, antwortete ich und gab mir Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Kein Wunder, bei diesem Schlaftrunk!“
Sie nahm mir mit einem gütigen Lächeln den Schnaps aus der Hand und entleerte ihn neben der Bank. Dann warf sie die leere Flasche in den Müllcontainer und setzte sich wieder zu mir. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt rebelliert und um mein Lebenselexier gerungen. Irgendetwas ließ mich jedoch nur paralysiert dabei zuschauen und eine Gegenwehr im Keim ersticken. Auf eine Standpauke, auf Vorwürfe und guten Ratschläge wartend, hörte ich der alten Dame zu. Nichts dergleichen. Sie erzählte mir, wie sie oftmals hier als kleines Mädchen und später als Frau und Mutter auf diesem Bänkchen gesessen und die Sonnenstrahlen genießend, die Enten auf der Wiese beobachtet hatte. Sie erzählte, wie sie hier ihren Ehemann kennengelernt und später den Kinderwagen neben der Bank geparkt hatte, während sie sich ausruhte.

Nach einer Weile stand sie auf, zog mich hoch, hakte sich bei mir unter und führte mich die paar Schritte hin zur Rezeption des Krankenhauses.

„Der junge Mann, mein Neffe, ist arg müde“, teilte sie der Dame hinter dem Tresen mit einem verschmitzten Lächeln mit. „Ich heiße Käthe Bögel und wohne hier in der Beethovenstraße 5. Nehmen sie ihn doch in ihre Obhut, bis er wieder fit ist“.

Es kam, wie es kommen musste: Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und danach noch ein stationärer zweiwöchentlicher Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als geheilt und wieder vorzeigbar wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen und kehrte in meine Heimatstadt zurück.

„Das war jetzt aber das letzte mal“, dachte ich. „Noch so einen Trip und es ist endgültig aus mit dir! Der alten Dame solltest du dankbar sein – nein besser: Bedank dich persönlich bei ihr“

Ich kaufte einen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir an der Rezeption merkwürdigerweise klar und deutlich gemerkt hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan – ich würde gern mit Frau Käthe Bögel sprechen“, stellte ich mich an der Eingangstür vor. Der Mann mittleren Alters, der geöffnet hatte, musterte mich verständnislos: „Käthe Bögel ist meine Großmutter, sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden und liegt jetzt auf dem Waldfriedhof. Woher kennen Sie sie denn?“

„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie denn gestorben?“ „Nun sie hatte in ihren letzten Jahren ein kleines Alkoholproblem. Die Ärzte im Krankenhaus konnten am Ende leider nichts mehr für sie tun“.
Er reichte mir ein Bild von ihr aus dem Flur. Ich brach zusammen.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es war schon meine zweite Flasche Wodka heute Morgen. Zu betrunken um sie noch schamvoll zu verstecken, prostete ich demonstrativ den Passanten zu, die einen weiten Bogen um mein Bänkchen im Park vor dem Krankenhaus machten und mich mit entsetzten Gesichtern anstarrten.

Früh war ich aufgebrochen. Die Tankstellenangestellte, die ab 6:00 morgens wieder Alkohol verkaufte, kannte mich ja schon, kassierte mit mitleidigem Blick und warf mir ein obligatorisches „Schönen Tag auch“ hinterher.

Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von Händen und Füßen kehrte soweit zurück, dass ich mich wieder einigermaßen unauffällig fortbewegen konnte.

Fünf Kilometer waren es zu Fuß bis zu meiner Wohnung. Natürlich zu Fuß! Mein Führerschein war schon lange in der Obhut von Behörden, das Auto stand abgemeldet in der Garage, das Fahrrad hatte mir jemand im Suff geklaut und eine Fahrkarte für den Nahverkehr hätte ja so viel wie eine Flasche Schnaps gekostet. Dann doch lieber zu Fuß auf den Rückmarsch machen und in stillen Winkeln heimlich an der Flasche ziehen. Das Laufen ging anfangs noch recht gut und ich kam zügig voran. Mit leerer werdender Flasche allerdings ließ auch meine Kondition nach. Öfters mal musste ich mich auf einen Mauervorsprung, einen Stein oder oder eine Parkbank setzen.

Das Krankenhaus war etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und immer mein letzter Rastplatz vor dem Endspurt in die eigenen vier Wände. Ich kannte den gepflegten Garten von früheren Abstürzen her recht gut und wusste, dass es dort ein sonniges und dennoch einigermaßen verstecktes Plätzchen auf einer Bank gab.

Da saß ich nun also und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit. „Nur nicht hinlegen“ sagte ich mir immer wieder. Schon einmal hatten mich die Stadtpolizisten dort beim Schlafen erwischt und mich in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Gut, dort kann man auch schlafen, hat aber am nächsten Morgen bis zur Entlassung immer mit schrecklichen Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Es kam aber, wie es kommen musste: Mein Kopf sackte zur Seite und alsbald träumte ich von vergangenen guten Zeiten, ohne Sucht und Probleme, in geistiger und körperlicher Stärke und stets erfolgsverwöhnt.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. „Jetzt ist es wieder so weit“, dachte ich bei mir. „Wieder erwischt und ab in die Zelle“. Langsam schlug ich die Augen auf und überlegte mir schon, was ich den freundlichen Beamten diesmal für ein Märchen erzählen könnte.
„Junger Mann, sind Sie müde?“ Neben mir saß eine alte Dame. Klapperdürr und mit Sonnenhut. Ihre gütigen Augen, die mich anlächelten, lagen in einem faltigen Gesicht und ihre knöchernen Hände schlossen sich um meinen Arm, der immer noch die Wodkaflasche hielt.

„Oh, ich muss wohl etwas eingenickt sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und habe hier eine kleine Pause gemacht“, antwortete ich und gab mir Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Kein Wunder, bei diesem Schlaftrunk!“
Sie nahm mir mit einem milden Lächeln den Schnaps aus der Hand und entleerte ihn neben der Bank. Dann warf sie die leere Flasche in den Müllcontainer und setzte sich wieder zu mir. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt rebelliert und um mein Lebenselexier gerungen. Irgendetwas ließ mich jedoch nur paralysiert dabei zuschauen und eine Gegenwehr im Keim ersticken. Auf eine Standpauke, auf Vorwürfe und guten Ratschläge wartend, hörte ich der alten Dame zu. Nichts dergleichen. Sie erzählte mir, wie sie oftmals hier als kleines Mädchen und später als Frau und Mutter auf diesem Bänkchen gesessen und die Sonnenstrahlen genießend, die Enten auf der Wiese beobachtet hatte. Sie erzählte, wie sie hier ihren Ehemann kennengelernt und später den Kinderwagen neben der Bank geparkt hatte, während sie sich ausruhte.

Nach einer Weile stand sie auf, zog mich hoch, hakte sich bei mir unter und führte mich die paar Schritte hin zur Rezeption des Krankenhauses.

„Der junge Mann, mein Neffe, ist arg müde“, teilte sie der Dame hinter dem Tresen mit einem verschmitzten Lächeln mit. „Ich heiße Käthe Bögel und wohne hier in der Beethovenstraße 5. Nehmen sie ihn doch in ihre Obhut, bis er wieder fit ist“.

Es kam, wie es kommen musste: Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und danach noch ein stationärer zweiwöchentlicher Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als geheilt und wieder vorzeigbar wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen und kehrte in meine Heimatstadt zurück.

„Das war jetzt aber das letzte mal“, dachte ich. „Noch so einen Trip und es ist endgültig aus mit dir! Der alten Dame solltest du dankbar sein – nein besser: Bedank dich persönlich bei ihr“

Ich kaufte einen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir an der Rezeption merkwürdigerweise klar und deutlich gemerkt hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan – ich würde gern mit Frau Käthe Bögel sprechen“, stellte ich mich an der Eingangstür vor. Der Mann mittleren Alters, der geöffnet hatte, musterte mich verständnislos: „Käthe Bögel ist meine Großmutter, sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden und liegt jetzt auf dem Waldfriedhof. Woher kennen Sie sie denn?“

„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie denn gestorben?“ „Nun sie hatte in ihren letzten Jahren ein kleines Alkoholproblem. Die Ärzte im Krankenhaus konnten am Ende leider nichts mehr für sie tun“.
Er reichte mir ein Bild von ihr aus dem Flur. Ich brach zusammen.
 

Vagant

Mitglied
Ps. nach dem Lesen der restlichen Postings möchte ich noch eine Sache anhängen. Es ging mir ja nicht gleich um große experimentelle Sprache. Es würde ja schon der Sprung von Fontane zu Böll (und der ist auch schon ewig tot) reichen.
Mir ist das sprachlich halt zu sehr Fontane.
Vagant.
 

Paloma

Mitglied
Einer der ersten Ratschläge, die einem jede Stilfibel mit auf den Weg gibt, heißt 'show don't tell', also zeigen nicht erzählen, und ich denke, dass das genau die Sache ist, die eine Geschichte von einem Report unterscheidet.
Entschuldige Vagant, dass ich da mal widerspreche, ich kann's nämlich echt nicht mehr lesen! Es gibt ganz großartige Erzählungen, die wenig show haben.
Dieses ständige Verlangen nach Show entspricht lediglich dem rasanten Zeitgeist, der nach Aktion verlangt – mit richtiger Literatur hat das nichts, absolut nichts zu tun.

Das heißt nicht, dass man nicht bildlich schreiben soll – nur, dass narrative Geschichten durchaus auch heute noch ihre Berechtigung haben.

Liebe Grüße
Paloma
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Nochmals möchte ich mich für die vielen Hinweise und Korrekturvorschläge bedanken, die ich auch weitgehend mit eingearbeitet habe. Trotz vielfachem Lesen zeigt es doch, dass der Autor selbst Offensichtliches bei seinen Texten einfach übersieht und idealerweise vor seiner Veröffentlichung einen Korrektor bemühen sollte. Hier in der Leselupe aber habe ich ja Leser, die Details kritisieren, die den Lesefluss stören und somit helfen, einem Werk Reife zu schenken. Das finde ich toll und bin auch für die fruchtbare Diskussion über die Erzählstile dankbar.

Den Beitrag von DocSchneider hätte ich am liebsten komplett übernommen, müsste dann aber wohl in den Bereich der Erzählungen wechseln. Das war aber nicht die Intention, die hinter dieser Kurzgeschichte steckt.

Noch eine kleine Anmerkung: Es gibt auch Autoren, die für Themen keine aufwendigen Recherchen betreiben müssen, da das Leben selbst der beste Lehrmeister ist. Ich engagiere mich seit vielen Jahren schon in einer Selbsthilfegruppe, die der Suchtproblematik ein Forum mit Hilfe für die Aufarbeitung bietet und habe dort wohl auch schon alles gehört, was es zum Thema Alkoholismus zu berichten gibt.

Es ist klar, dass dieses Thema nicht in eine Kurzgeschichte zu packen geht. Ich dachte in erster Linie auch an die Beschreibung einer mysteriösen Begegnung, die ich eben in ein Milieu gesteckt habe, mit dem ich dauernd konfrontiert werde und somit aus erster Hand schildern kann.

Morgendliche Grüße vom Ironbiber
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es war schon meine zweite Flasche Wodka heute Morgen. Zu betrunken um sie noch schamvoll zu verstecken, prostete ich demonstrativ den Passanten zu, die einen weiten Bogen um meinen Rastplatz auf einer Bank im Park vor dem Krankenhaus machten und mich mit entsetzten Gesichtern anstarrten.

Früh war ich aufgebrochen. Die Tankstellenangestellte, die ab sechs Uhr morgens wieder Alkohol verkaufte, kannte mich ja schon, kassierte mit mitleidigem Blick und warf mir ein obligatorisches „Schönen Tag auch“ hinterher.

Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von Händen und Füßen kehrte soweit zurück, dass ich mich wieder einigermaßen unauffällig fortbewegen konnte.

Fünf Kilometer waren es zu Fuß bis zu meiner Wohnung. Natürlich zu Fuß! Mein Führerschein war schon lange in der Obhut von Behörden, das Auto stand abgemeldet in der Garage, das Fahrrad hatte mir jemand im Suff geklaut und eine Fahrkarte für den Nahverkehr hätte ja so viel wie eine Flasche Schnaps gekostet. Dann doch lieber zu Fuß auf den Rückmarsch machen und in stillen Winkeln heimlich an der Flasche ziehen. Das Laufen ging anfangs noch recht gut und ich kam zügig voran. Mit leerer werdender Flasche allerdings ließ auch meine Kondition nach. Öfters mal musste ich mich auf einen Mauervorsprung, einen Stein oder oder eine Parkbank setzen.

Das Krankenhaus war etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und immer mein letzter Rastplatz vor dem Endspurt in die eigenen vier Wände. Ich kannte den gepflegten Garten von früheren Abstürzen her recht gut und wusste, dass es dort ein sonniges und dennoch einigermaßen verstecktes Plätzchen auf einer Bank gab.

Da saß ich nun also und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit. „Nur nicht hinlegen“ sagte ich mir immer wieder. Schon einmal hatten mich die Stadtpolizisten dort beim Schlafen erwischt und mich in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Gut, dort kann man auch schlafen, hat aber am nächsten Morgen bis zur Entlassung immer mit schrecklichen Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Es kam aber, wie es kommen musste: Mein Kopf sackte zur Seite und alsbald träumte ich von vergangenen guten Zeiten, ohne Sucht und Probleme, in geistiger und körperlicher Stärke und stets erfolgsverwöhnt.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. „Jetzt ist es wieder so weit“, dachte ich bei mir. „Wieder erwischt und ab in die Zelle“. Langsam schlug ich die Augen auf und überlegte mir schon, was ich den freundlichen Beamten diesmal für ein Märchen erzählen könnte.
„Junger Mann, sind Sie müde?“ Neben mir saß eine alte Dame. Klapperdürr und mit Sonnenhut. Ihre gütigen Augen, die mich anlächelten, lagen in einem faltigen Gesicht und ihre knöchernen Hände schlossen sich um meinen Arm, der immer noch die Wodkaflasche hielt.

„Oh, ich muss wohl etwas eingenickt sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und habe hier eine kleine Pause gemacht“, antwortete ich und gab mir Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Kein Wunder, bei diesem Schlaftrunk!“
Sie nahm mir mit einem milden Lächeln den Schnaps aus der Hand und entleerte ihn neben der Bank. Dann warf sie die leere Flasche in den Müllcontainer und setzte sich wieder zu mir. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt rebelliert und um mein Lebenselexier gerungen. Irgendetwas ließ mich jedoch nur paralysiert dabei zuschauen und eine Gegenwehr im Keim ersticken. Auf eine Standpauke, auf Vorwürfe und guten Ratschläge wartend, hörte ich der alten Dame zu. Nichts dergleichen. Sie erzählte mir, wie sie oftmals hier als kleines Mädchen und später als Frau und Mutter auf diesem Bänkchen gesessen und die Sonnenstrahlen genießend, die Enten auf der Wiese beobachtet hatte. Sie erzählte, wie sie hier ihren Ehemann kennengelernt und später den Kinderwagen neben der Bank geparkt hatte, während sie sich ausruhte.

Nach einer Weile stand sie auf, zog mich hoch, hakte sich bei mir unter und führte mich die paar Schritte hin zur Rezeption des Krankenhauses.

„Der junge Mann, mein Neffe, ist arg müde“, teilte sie der Dame hinter dem Tresen mit einem verschmitzten Lächeln mit. „Ich heiße Käthe Bögel und wohne hier in der Beethovenstraße 5. Nehmen sie ihn doch in ihre Obhut, bis er wieder fit ist“.

Es kam, wie es kommen musste: Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und danach noch ein stationärer zweiwöchentlicher Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als geheilt und wieder vorzeigbar wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen und kehrte in meine Heimatstadt zurück.

„Das war jetzt aber das letzte mal“, dachte ich. „Noch so einen Trip und es ist endgültig aus mit dir! Der alten Dame solltest du dankbar sein – nein besser: Bedank dich persönlich bei ihr“

Ich kaufte einen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir an der Rezeption merkwürdigerweise klar und deutlich gemerkt hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan – ich würde gern mit Frau Käthe Bögel sprechen“, stellte ich mich an der Eingangstür vor. Der Mann mittleren Alters, der geöffnet hatte, musterte mich verständnislos: „Käthe Bögel ist meine Großmutter, sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden und liegt jetzt auf dem Waldfriedhof. Woher kennen Sie sie denn?“

„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie denn gestorben?“ „Nun sie hatte in ihren letzten Jahren ein kleines Alkoholproblem. Die Ärzte im Krankenhaus konnten am Ende leider nichts mehr für sie tun“.
Er reichte mir ein Bild von ihr aus dem Flur. Ich brach zusammen.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es war schon meine zweite Flasche Wodka heute Morgen. Zu betrunken um sie noch schamvoll zu verstecken, prostete ich demonstrativ den Passanten zu, die einen weiten Bogen um meinen Rastplatz auf einer Bank im Park vor dem Krankenhaus machten und mich mit entsetzten Gesichtern anstarrten.

Früh war ich aufgebrochen. Die Tankstellenangestellte, die ab sechs Uhr morgens wieder Alkohol verkaufte, kannte mich ja schon, kassierte mit mitleidigem Blick und warf mir ein obligatorisches „Schönen Tag auch“ hinterher.

Nach dem ersten tiefen Schluck ging es mir besser. Das Zittern hörte auf und die Feinmotorik von Händen und Füßen kehrte soweit zurück, dass ich mich wieder einigermaßen unauffällig fortbewegen konnte.

Fünf Kilometer waren es zu Fuß bis zu meiner Wohnung. Natürlich zu Fuß! Mein Führerschein war schon lange in der Obhut von Behörden, das Auto stand abgemeldet in der Garage, das Fahrrad hatte mir jemand im Suff geklaut und eine Fahrkarte für den Nahverkehr hätte ja so viel wie eine Flasche Schnaps gekostet. Dann doch lieber zu Fuß auf den Rückmarsch machen und in stillen Winkeln heimlich an der Flasche ziehen. Das Laufen ging anfangs noch recht gut und ich kam zügig voran. Mit leerer werdender Flasche allerdings ließ auch meine Kondition nach. Öfters mal musste ich mich auf einen Mauervorsprung, einen Stein oder oder eine Parkbank setzen.

Das Krankenhaus war etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und immer mein letzter Rastplatz vor dem Endspurt in die eigenen vier Wände. Ich kannte den gepflegten Garten von früheren Abstürzen her recht gut und wusste, dass es dort ein sonniges und dennoch einigermaßen verstecktes Plätzchen auf einer Bank gab.

Da saß ich nun also und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit. „Nur nicht hinlegen“ sagte ich mir immer wieder. Schon einmal hatten mich die Stadtpolizisten dort beim Schlafen erwischt und mich in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Gut, dort kann man auch schlafen, hat aber am nächsten Morgen bis zur Entlassung immer mit schrecklichen Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Es kam aber, wie es kommen musste: Mein Kopf sackte zur Seite und alsbald träumte ich von vergangenen guten Zeiten, ohne Sucht und Probleme, in geistiger und körperlicher Stärke und stets erfolgsverwöhnt.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. „Jetzt ist es wieder so weit“, dachte ich bei mir. „Wieder erwischt und ab in die Zelle“. Langsam schlug ich die Augen auf und überlegte mir schon, was ich den freundlichen Beamten diesmal für ein Märchen erzählen könnte.
„Junger Mann, sind Sie müde?“ Neben mir saß eine alte Dame. Klapperdürr und mit Sonnenhut. Ihre gütigen Augen, die mich anlächelten, lagen in einem faltigen Gesicht und ihre knöchernen Hände schlossen sich um meinen Arm, der immer noch die Wodkaflasche hielt.

„Oh, ich muss wohl etwas eingenickt sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause und habe hier eine kleine Pause gemacht“, antwortete ich und gab mir Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Kein Wunder, bei diesem Schlaftrunk!“
Sie nahm mir mit einem milden Lächeln den Schnaps aus der Hand und kippte ihn neben der Bank aus. Dann warf sie die leere Flasche in den Müllcontainer und setzte sich wieder zu mir. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt rebelliert und um mein Lebenselexier gerungen. Irgendetwas ließ mich jedoch nur paralysiert dabei zuschauen und eine Gegenwehr im Keim ersticken. Auf eine Standpauke, auf Vorwürfe und guten Ratschläge wartend, hörte ich der alten Dame zu. Nichts dergleichen. Sie erzählte mir, wie sie oftmals hier als kleines Mädchen und später als Frau und Mutter auf diesem Bänkchen gesessen und die Sonnenstrahlen genießend, die Enten auf der Wiese beobachtet hatte. Sie erzählte, wie sie hier ihren Ehemann kennengelernt und später den Kinderwagen neben der Bank geparkt hatte, während sie sich ausruhte.

Nach einer Weile stand sie auf, zog mich hoch, hakte sich bei mir unter und führte mich die paar Schritte hin zur Rezeption des Krankenhauses.

„Der junge Mann, mein Neffe, ist arg müde“, teilte sie der Dame hinter dem Tresen mit einem verschmitzten Lächeln mit. „Ich heiße Käthe Bögel und wohne hier in der Beethovenstraße 5. Nehmen sie ihn doch in ihre Obhut, bis er wieder fit ist“.

Es kam, wie es kommen musste: Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und später noch ein stationärer zweiwöchentlicher Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als geheilt und wieder vorzeigbar wurde ich auf eigenen Wunsch vorzeitig entlassen und kehrte in meine Heimatstadt zurück.

„Das war jetzt aber das letzte mal“, dachte ich. „Noch so einen Trip und es ist endgültig aus mit dir! Der alten Dame solltest du dankbar sein – nein besser: Bedank dich persönlich bei ihr“

Ich kaufte einen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir an der Rezeption merkwürdigerweise klar und deutlich gemerkt hatte.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan – ich würde gern mit Frau Käthe Bögel sprechen“, stellte ich mich an der Eingangstür vor. Der Mann mittleren Alters, der geöffnet hatte, musterte mich verständnislos: „Käthe Bögel ist meine Großmutter, sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden und liegt jetzt auf dem Waldfriedhof. Woher kennen Sie sie denn?“

„Um Himmels willen! Vor zehn Jahren! Woran ist sie denn gestorben?“ „Nun sie hatte in ihren letzten Jahren ein kleines Alkoholproblem. Die Ärzte im Krankenhaus konnten am Ende leider nichts mehr für sie tun“.

Er reichte mir ein Bild von ihr aus dem Flur.
 

Vagant

Mitglied
Liebe Paloma, das stimmt. Allerdings handelt es sich bei diesen Texten meist um nahezu plotlose Erzählungen, die von ihren Bildern und Stimmungen leben, oder das Innenleben eines Protagonisten beleuchten. Dies ist ja bei der Geschichte von Ironbiber so nicht der Fall. Hier wird eine Geschichte erzählt, die allein von dem Zeitraum der beschrieben wird, weit über eine Kurzgeschichte hinaus geht. Für die moderne Shortstory, also eine Geschichte mit einem stringenten Handlungsablauf, gilt nach wie vor der dramatische Modus. Oder möchtest du einen Film sehen, bei dem die Kamera weitläufig über eine Landschaft fährt während eine Stimme aus dem Off erzählt, wie in etwas die Geschichte hätte verlaufen können? Mir ist das zu wenig.
Es tut mir ja fast leid, dass eine solche Diskussion gerade unter dieser Geschichte passiert. Das alles hat ja nun nichts mehr mit der Geschichte zu tun. Das war nicht meine Absicht. Sorry.
LG Vagant
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Ironbiber,

"...sie ist aber schon vor zehn Jahren verschieden."
Vergleichbar mit einem Schlag in die Magengrube ist diese Aussage.
Deshalb sehe ich die Geschichte so:

Es kam, wie es kommen musste. Zuerst ein Arzt, dann drei Tage Entgiftung und anschließend noch ein stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. ...

Schluss
Er reichte mir ein Bild von ihr (aus dem Flur ist überflüssig).
Ich brach zusammen.

Dein Protagonist brach zusammen, weil er erkannte, dass er zehn Jahre weggesperrt war. Das ist meine Auslegung.

Liebe Grüße
HelenaSofie
 

FrankK

Mitglied
Hallo Ironbiber

Diese Geschichte ist fast etwas zu Ernst, um darüber zu schmunzeln. Dennoch lässt sie meine Mundwinkel zucken.

Es gäbe da ein paar formale Erbsenzählerein wie Zeilenwechsel zwischen den wörtlichen Reden verschiedener Personen. Die will ich gar nicht aufführen.

Allerdings stolper ich jedesmal über den "zweiwöchentlicher Aufenthalt" - sollte es nicht "zweiwöchiger" heißen?
("zweiwöchentlich" bedeutet doch eher "alle zwei Wochen"?)


Viele Grüße aus Westfalen
Frank
 



 
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