Die Begegnung

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Max Neumann

Mitglied
Vor meinem Gesicht schwebt Regen
Auf Pause wie eingefroren
In Zeitlupe für die Gefallenen
Jeder stirbt gerade vor Hunger

Vor meinem Mund lispelt die Sonne
Laute wie Jahrzehnte zuvor
Kinder toben und brüllen und wüten
Weit entfernt von meiner Heimat

Vor meiner Brust gähnt ein Hund
Gammelnd und hechelnd
Ich wittere die Seele des Hundes
In meinem Traum lebt er

Vor meinem Bauchnabel singt es
Eine Sirene teilt mir etwas mit
Am roten Ufer der langen Ankunft
Die Wellen schlucken ihren Gesang

Vor meinen Füßen treibt Sand
In ihm ist ein lachendes Gesicht
Dieses Gesicht bin ich
Das Wasser spült es fort
 

sufnus

Mitglied
Hey Max,

der Lektüreeindruck hat sich jetzt ins Wortfassliche assembliert - daher also noch ein Kommentar. :)

Ich finde, dieser Text ist (im besten Sinne) typisch für einen poetischen Angang, an dem Du uns hier schon einige Male hast teilhaben lassen: Es kommt in diesem Text (und in vielen anderen von Dir) nicht wirklich zu einem Ereignis, zu einem narrativen Momentum, sondern die Worte umkreisen eine innerliches Gefühlszentrum auf relativ stabilen Umlaufbahnen ohne in eine ein-eindeutige (sic!) Fasslichkeit abzustürzen.

Was hier außerdem auffällt (ich müsste nochmal in älteren Gedichten von Dir gegenlesen, ob das wohl auch "typisch" ist): Bei den Wörtern, die Deinen Text am stärksten ins Poetische transformieren sind Verben überrepräsentiert (schwebt Regen, lispelt die Sonne, toben-brüllen-wüten, gähnt ein Hund, wittre die Seele, vor meinem Bauchnabel singt es usw.).

Ich habe andernorts hier kürzlich einmal eine Warnung an lyrische Anfänger gerichtet, dass Verben ein etwas problematisches Eigenleben in einem Gedicht entfalten können und daher mit Vorsicht zu genießen sind bzw. - andersrum gesagt - dass man (wiederum wichtig zu ergänzen: als Anfänger) einen Text relativ leicht poetisch aufladen kann, indem man mit Verben sparsam umgeht. Die Problematik von Verbe hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass diese einem Sprachgebilde eine sehr starke Struktur vermitteln und durch die Festlegung der Handlung (das ist der Job von Verben) einem Text sehr leicht das Geheimnisvolle nehmen können. Du zeigst hier aber sehr schön, dass diese meine Anti-Verben-Theorie selbstverständlich missachtet werden kann, ohne dass ein Text deshalb unpoetisch werden muss. Regeln darf man eben brechen, ja in der Literatur soll man das geradezu, nur sollte Wissen (oder Instinkt) den Regelbruch in den Dienst eines höheren Zwecks stellen und dabei die Autorin oder den Autor davor bewahren, total die Kontrolle über den Text zu verlieren.

Einen Effekt haben aber Verben in jedem Fall, nämlich den einer gewissen inhaltlichen Fixierung: Wen die Sonne lispelt kann sie nicht mehr lachen, trauern, zittern, tanzen usw. Indem Du durch die vielen und sehr signifikanten Verben eine solche Fixierung vornimmst, reduzierst Du also quasi die "Freiheitsgrade" des Textes. Zugleich sind jedoch viele der Verben in Deinem Text in Bezug auf ihre Subjekte oder Objekte eher unkonventionell bis paradox. Eine lispelnde Sonne ist ohne Zweifel ein ungewöhnliches Ereignis und verlässt den Bereich des Üblichen. Dieses Spannungsverhältnis von textlicher Fixierung und einer Verweigerung gegenüber dem Konventionellen ist wahrscheinlich genau der Trick, warum bei Deinem Text der bedeutsame Einsatz von Verben nicht etwa zu einem poetischen Mangelzustand führt, sondern (entgegen meiner Standardtheorie) die Poesie sogar akzentuiert.

LG!

S.
 

Max Neumann

Mitglied
Hi sufnus,

spannend, wie minutiös du dich mit der Wirkung von Verben in Lyrik befasst.
Liest sich literaturwissenschaftlich.

Danke, erneut, fürs gute Feedback.

Viele Grüße
Max
 

Walther

Mitglied
Vor meinen Füßen treibt Sand
In ihm ist ein lachendes Gesicht
Dieses Gesicht bin ich
Das Wasser spült es fort
feines textwerk,
lb Max,
dem letzten vers würde ich ein "Und" spendieren:
Vor meinen Füßen treibt Sand
In ihm ist ein lachendes Gesicht
Dieses Gesicht bin ich
Und das Wasser spült es fort
dann stimmt der versauftakt in der strophe (betont, unbetont, betont, unbetont).

lg W.
 



 
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