Die Benachrichtigung

H

HFleiss

Gast
Pat war noch einmal vorbeigekommen, die Ungewissheit hatte sie nicht zu Hause gehalten. Die Mutter wirkte zerstreut. Sie hatte nicht allzu unbeteiligt dagesessen oder gar eine Andeutung gemacht, aber Pat merkte voller Bestürzung, sie konnte heute nicht eingehen auf die Sorgen der Tochter mit den beiden Kindern, wie sie es sonst tat. Einsilbig und beiläufig hatte sie sich nach dem Schwiegersohn erkundigt, der bei einer staatlichen Behörde angestellt war. Dies war Pat Bestätigung genug, dass ihr Ehemann Ronald nicht geflunkert hatte. Nach dem Kaffee hatte die Mutter den Fernseher angestellt, was sie sonst niemals tat, wenn die Tochter zu Besuch war. Pat verabschiedete sich, ohne die Mutter wissen zu lassen, dass sie etwas wusste. Auch wollte sie eine unschöne Szene, die ihr das Herz zerrissen hätte, vermeiden. Ihr Abschiedskuss war nicht eine Nuance herzlicher als an den anderen, normalen Tagen.

Gestern hatte die Behörde des Schwiegersohns der Mutter die Benachrichtigung geschickt. Pat wusste von Ronald: Dem Kuvert üblicherweise beigeschlossen war ein flaches Behältnis, durchsichtig, man konnte die beiden Tabletten erkennen, ohne dass man es öffnete. Sie waren weiß, kaum größer als ein 1-Cent-Stück, von sehr geringem Gewicht, einzunehmen spätestens zwei Tage nach Briefempfang, und zwar, auch dies war von der Behörde vorgeschrieben worden, vor dem Abendbrot. Sollte der Empfänger des Briefes sich nicht vorbehaltlos an die Einnahmevorschriften halten, so drohten Weiterungen, die er selbst zu verantworten habe. Sollte er gar den Empfang des Briefes verweigern (man hatte einen gepolsterten weißen Fensterumschlag verwendet, ohne den Absender zu nennen), so drohten ihm nicht genau angegebene Konsequenzen, die sogar Familienmitglieder ersten und zweiten Grades betreffen könnten. Pat, obwohl sie in den Minuten, als die Mutter in der Küche den Kaffee bereitet hatte, das Zimmer durchsuchte, fand das Schreiben nicht. Aber sie war beunruhigt, denn dass sie den Brief nicht fand, um ihm die Tabletten zu entnehmen, und die Mutter mit keiner Silbe etwas andeutete, ließ erkennen, dass sie sich widerspruchslos an die Anweisungen der Behörde halten würde.

Pat war wütend. Ronald hätte das Äußerste verhindern können, wenn er nur gewollt hätte. Die Mutter war doch erst vorigen Monat siebzig geworden! Und Geld genug war in der Familie vorhanden, um mittels einer üblichen, lässlichen Bestechung einen Aufschub zu erlangen, wenn nicht gar den Vollzug der Maßnahme, wie der Behördenjargon lautete, gänzlich zu verhindern.

Am Abendbrottisch konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. „Es ist ja auch nicht deine Mutter! Für sie würdest du sogar deine jüngste Tochter verkaufen. Aber es ist ja nur die Mutter deiner zweiten Frau, da verausgabt man sich nicht mehr, da lehnt man sich zurück und übt sich in Staatstreue und Loyalität! Ich hasse dich!“

„Du vergisst, Schatz, dass meine Mutter schon vor fünfzehn Jahren, als ich noch mittelloser Student war, an der Reihe war. Ich verstehe deine Aufregung nicht. Jeder ist irgendwann mal dran.“

Pat kamen vor Wut die Tränen. „Meine Mutter ist gerade mal siebzig. Mit ein bisschen Protektion, die dir bestimmt nicht schwergefallen sein dürfte, hätten wir noch mindestens fünf Jahre herausholen können! Dein Amt ist ein Verbrechersyndikat! Du Beamter, du! Auch du bist verantwortlich, jeder von euch!“

Ronald hob bedauernd die Schultern. „Jetzt ist es zu spät. Du hättest mir deinen Willen ruhig etwas früher mitteilen können! Der Vorgang ist abgeschlossen. Aber wenn du es wünschst – ich kann meinen Chef ja morgen früh fragen, welche Möglichkeiten die Behörde jetzt noch hat hat. Und das mit der Bestechung will ich nicht gehört haben. Ich bin Staatsbeamter. Verbrechersyndikat! Lass das niemanden hören, ich bitte dich. Und ich, meine Liebe, nur zu deiner Kenntnis, bin wohl am wenigstens für unsere Gesetze verantwortlich. Ich setze sie lediglich durch, ich lasse mir derartige Monstrositäten aber nicht selbst einfallen.“

„Morgen früh, morgen früh! Morgen früh kann es zu spät sein. Sie hat die Benachrichtigung gestern erhalten.“

„Ach ja? Das wusste ich nicht, Schatz. Nur, dass etwas im Busch war.“

Pat war aufgesprungen. „So tu doch etwas. Heute noch! Ruf deinen Chef an, sie sollen den Vorgang stoppen! Sei doch einmal im Leben ein Mann, ich bitte dich! Du sagst, du liebst mich. Beweise es! Einmal nur!“

Ronald seufzte. „Nun gut, du willst es. Ich probiere es. Ich weiß, welches Risiko ich eingehe. Für dich, Schatz, nur für dich. Nicht für deine Mutter. Schließlich kommt niemand von uns um die Maßnahme herum. Und siebzig ist doch ein ganz schönes Alter. Das musst du zugeben.“

„Ich gebe gar nichts zu. Nichts, nichts! Niemals! Ruf endlich an!“

Während Ronald die Privatnummer seines Chefs wählte, bemühte sich Pat, ihm nicht in die Augen zu blicken. Es war unzulässig, einen Aufschub zu verlangen, man könnte Ronald Korruption vorwerfen, und dies wäre das Ende seiner Karriere. Unzähligen Mitarbeitern des Amtes, zumeist der mittleren Führungsschicht, war es so ergangen. Oft verschwanden sie und ihre Familie über Nacht, ohne dass man in der Behörde etwas über ihr weiteres Schicksal erfuhr. Natürlich war die Behörde auch nicht bemüht, etwas zu erfahren, das wäre zu gefährlich gewesen.

Pat verließ das Zimmer. Sie hätte es nicht ertragen, mitzuerleben, wie Ronald sich ihretwegen vor seinem Chef demütigte.

Natürlich, sie musste fair bleiben, Ronald war für die Gesetze nicht verantwortlich. Doch es war und blieb ein schlimmes Gesetz, das Allgemeine Altenerlösungsgesetz.

(2006)
 

flammarion

Foren-Redakteur
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ganz

schön gruselig. aber dann hätte der gute mann ja mit 20 eine 70jährige mutter gehabt haben müssen oder so ähnlich. naja, kommt ja manchmal vor, so eine geburt in den wechseljahren . . .
aber der himmel bewahre uns vor solchen gesetzen!
lg
 

Inu

Mitglied
Hallo Hanna

Wie Flammarion schon sagt: der Himmel bewahre uns vor solchen Gesetzen. Das zu lesen hat mir den schönen Morgen verdorben.
Aber eindrucksvoll. Ein wenig straffen hättest du vielleicht noch sollen.

Lieben Gruß
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Nein, nicht besonders gruselig. Nur das, was heute mit den Alten läuft, zu Ende gedacht. Euthanasie ist doch auch schon salonfähig. Warum das Ganze nicht mal durchorganisieren?

Gruß
Hanna
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Flammarion, doch, Euthanasie ist in der Bundesrepublik bereits anerkannt. Und zwar gibt es in Hannover eine Zweigstelle der Schweizer Sterbehilfe-Organisation "Dignitas". Dort schwatzt man, man wolle das Selbstbestimmungsrecht des mündigen Menschen durchsetzen, deshalb habe er auch das Recht, sein Lebensende selbst zu bestimmen. Und es wird gemacht, schon ganz professionell. Leute, wahrscheinlich psychisch außerordentlich belastet oder gar pathologisch krank, gehen dorthin, sagen, sie wollen sterben, und dann gibt man ihnen Gifte u. a. Das Beerdigungsinstitut ist auch schon informiert, der Wagen fährt vor und direkt ins Krematorium, und niemand hat es gesehen. Natürlich gibt es Protest von verantwortungsvollen Ärzten, die eher die Sterbebegleitung verbessert wissen wollen als die sogenannte Erlösung. Auch steht dem das deutsche Recht entgegen - noch. Allerdings gibt es auch die Ethik-Konvention, die zum Beispiel medizinische Experimente an nicht einwilligungsfähigen Patienten erlaubt - auch dies sehr nahe der Euthanasie. Mit dem scheinheiligen Begriff der "Erlösung" wurden in der Nazizeit allein in Deutschland nahezu 400 000 Behinderte und psychisch Kranke ermordet - und zwar von Ärzten, sogenannten Fachleuten, also Neurologen, Psychiatern usw. Sie haben allen Ernstes damit argumentiert, sie würden mit der Ermordung des Kranken ihn zugleich "erlösen". Dieses Argument findest du heute wieder, und zwar bei Sterbehilfe-Organisationen. Ist es da so weitgegriffen, sich vorstellen zu können, dass man aus Ersparnisgründen die Rentner "erlösen" will? Ich habe mir den Spaß gemacht und mir das mal bürokratisch-bildlich vorgestellt. Und allen Ernstes: Sind wir eigentlich so weit davon entfernt? Der einzige Unterschied - noch - besteht doch darin, dass man den Rentnern immer weiter die Rente kürzt und sie dann selbst zum Strick greifen - dann brauchen sie ihre löbliche Regierung mehr für die "Erlösung".

Gruß
Hanna
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na bravo,

und das bei ner cdu regierung. geburtenkontrolle nein, sterbehilfe ja. tstststs. und die wollen gewählt werden? bis übermorgen den kopf schüttelt
 
H

HFleiss

Gast
Flammarion, es ist ja alles noch viel schlimmer. Ich führe zum Beispiel seit Jahren ein Haushaltsbuch und habe mal verglichen, was ich so an Ausgaben vor fünf Jahren hatte, als man das erste Mal unsere Rente nicht anpasste: Ich gebe jetzt 40 Prozent mehr Geld allein für Lebensmittel aus gegenüber dem Jahr 2000. Diese Zahl findet man nirgends, die kann man sich nur selbst erarbeiten. Und noch etwas: Neulich war ich in der Sparkasse, und da sah ich ein Werbeschild für die private Altersversicherung. Und dort behauptet man in schöner Frechheit, die Renten im Osten seien höher als die im Westen.
Natürlich habe ich mich gefragt, ob ich da irgendwas verpasst habe, ob ich vielleicht eine Westrente habe? Aber so nett wird doch die BfA nun nicht zu mir sein, habe ich mir gesagt, meine Piepen gezählt und bin darauf gekommen, dass ich nur unwesentlich mehr Einnahmen als ein Alg-II-Arbeitsloser habe.
Demnach müsste ein Westrentner mit 35 Jahren ununterbrochener Tätigkeit (wie bei mir) über weniger Rente verfügen als ein Alg-II-Empfänger. Du merkst, die Rechnung stimmt nicht. Das Werbeschild war reine Propaganda für die private Altersversicherung. Demnächst kaufe ich mir einen Strick und werde ihn in der Vitrine verwahren und jeden Tag mal nachsehen, ob er noch keine Motten angesetzt hat. Wer weiß, vielleicht werden wir Rentner ihn eines Tages brauchen, und dann werden die Stricke knapp sein. Vorsorge ist eben alles.

Gruß
Hanna
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

du bist ja so herrlich satirisch. aber das mit dem strick lass lieber. du weißt doch, aufhängen sieht so bammlig aus und man streckt allen leuten die zunge raus. ewig leben wir eh nicht . . . dafür aber jetzt in freiheit!
lg
 



 
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