Die Beschwörung des WALTER VYMAZAL

Matula

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Bald nachdem Marianne Witwe geworden war, kam ihr eines Tages die Idee, mit ihrem verstorbenen Ehemann Kontakt aufzunehmen. Ich versuchte ihr das auszureden, aber sie war so begeistert und erzählte jedem davon, bis sich herausstellte, dass die Schwester ihrer Friseurin im Nebenberuf als Medium arbeitete. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Bettina Kovac, wenn sie die Geister rief, war sie "Laetitia". Sie verlangte 200 Euro pro Sitzung und davor ein leichtes Abendessen.

Nun ist es nicht so, dass ich nicht auch gern wieder von meinem lieben Josef gehört hätte, der schon seit mehr als sieben Jahre in seinem kühlen Grab liegt, aber ich bin doch recht kritisch gegen das Übersinnliche. Ein Totenreich kennt man zwar aus verschiedenen Mythologien, aus der altägyptischen oder der altgriechischen zum Beispiel, aber die Weltreligionen wissen nichts davon und wollen auch nichts davon wissen. Das gab ich zu bedenken, aber Marianne lachte und meinte, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gäbe, als unsere Schulweisheit ... Sie wissen schon, das Shakespeare-Zitat, das immer herhalten muss, wenn jemand einen Ausritt ins Irrationale unternehmen will. Am Ende dachte ich mir, dass sie schon so lange meine Freundin war und ich ihr diesen harmlosen Wunsch nicht abschlagen sollte. Aber nur, sagte ich, wenn Du noch wenigstens zwei Leute auftreiben kannst, die mitmachen und vor allem mitzahlen, denn das Abenteuer sollte samt Bewirtung in meinen Räumlichkeiten stattfinden, weshalb ich nicht auch noch Geld für die "Laetitia" hinblättern wollte.

Marianne brauchte nur wenige Tage, um einen kleinen, aber ausreichend großen "Zirkel" zusammenzustellen. Außer Dir und mir, sagte sie, wird mein Schwager, der Schorschi Nemec, und ein Freund von ihm, ein gewisser Hermann Humpelmaier, teilnehmen. Den kenn' ich nur flüchtig, aber für den Fall, dass einer der Herren unpässlich ist, würde eventuell Herr Böttcher einspringen. - Herr Böttcher war Mariannes Untermieter, ein junger Mann aus Wunsiedel, der an der Technischen Universität Wien studierte. Ausgezeichnet, sagte ich, ein Mann der Wissenschaft ! Wenn der dabei ist, wird er Dir schon Deine Flausen austreiben !

Die erste Sitzung war für den 5. November anberaumt. Um 20 Uhr versammelten wir uns in meinem Wohnzimmer und versuchten, den Grund unserer Zusammenkunft ganz beiläufig zu halten. Herr Nemec und Herr Humpelmaier waren sehr adrett gekleidet, beide ein wenig über 70, der eine mit Mariannes jüngerer Schwester verheiratet, der andere ein Junggeselle, der vor einigen Monaten seine Mutter verloren hatte. Laetitia ließ auf sich warten. Als sie endlich eintraf, trug sie ein violettes Samtkleid und ein schwarzes Cape mit Kapuze. Ganz Ähnliches hatten wir erwartet. Bei Licht betrachtet wirkte sie weniger geheimnisvoll, bis auf ihre Augen, die merkwürdig hell, fast farblos waren und direkten Blickkontakt vermieden.

Wie ich sehe, sagte sie, während sie ein weiteres Brötchen auf ihren Teller schob, haben Sie schon einen Kerzenleuchter vorbereitet. Drei Flammen werden genügen, das ist Standard. Nachdem wir das Licht ausgeschaltet haben, werden wir uns an den Händen fassen und so intensiv wie möglich an den Verstorbenen denken - Walter Vymazal, richtig ? - Marianne nickte. - Rufen Sie sich Szenen in Erinnerung, die Sie mit dem Toten erlebt haben, sein Gesicht, seine Stimme, sein Lachen, alles, was Sie noch im Gedächtnis haben. - Herr Nemec ließ an dieser Stelle ein merkwürdiges Schnauben hören, das ihm einen tadelnden Blick von Marianne eintrug. - Also bitte, bedenken Sie: es liegt ausschließlich an Ihnen, den Verstorbenen herbeizurufen, fuhr Laetitia fort. Ich selbst habe ihn ja nicht gekannt, ich werde nur sein Werkzeug sein. Sollte sich an seiner Statt eine andere Seele melden, was gar nicht so selten vorkommt, seien Sie bitte höflich. Sprechen Sie mit ihr und fragen Sie sie, ob sie Walter Vymazal kennt und eventuell eine Botschaft übermitteln würde. Alles klar ? - Ich hätte da noch eine Frage, sagte Herr Humpelmaier: Wird sich denn der Tisch bewegen, wenn wir uns an den Händen halten ? Sollten die Hände nicht auf dem Tisch liegen ? - Laetitia schüttelte energisch ihr karottenrotes Haupt: Nein, nein ! Wir spielen hier nicht "Tischerlrücken", Herr Humpelmaier ! Wir lassen auch kein Pendel kreisen oder die Geister auf einem Hexenbrett buchstabieren. Das ist Mumpitz ! Die Verstorbenen sprechen durch mich, ich bin ihr Werkzeug, ihre Stimme. Ich ersuche Sie auch dringend, mich während der Kontaktaufnahme nicht anzusprechen und mir nichts einzuflößen. So, jetzt werde ich noch meinen Tee austrinken, dann können wir beginnen. - Sie leerte ihre Tasse und holte noch rasch ein Döschen aus ihrer Handtasche, dem sie eine Pille entnahm, die sie unter unseren prüfenden Blicken hinunterschluckte. Gegen Sodbrennen, erläuterte sie.

Nachdem ich die Lichter gelöscht und die Kerzen angezündet hatte, nahm ich zwischen den Herren Nemec und Humpelmaier Platz. Beide hatten angenehm warme trockene Hände. Der eine bedankte sich leise für das Abendessen, der andere flüsterte, dass er nur seiner Schwägerin zuliebe diesen ganzen Unfug mitmache. Wir senkten unsere Köpfe, während Laetitia, Hand in Hand mit Marianne und Herrn Humpelmaier, an die Decke starrte und Folgendes sagte:

"Wir haben uns heute hier versammelt, um einen lieben Verstorbenen, die Seele Walter Vymazal, in unsere Mitte zu rufen. Oh Wächter des Totenreichs, gewährt ihr die Gunst, einige Worte an die untröstliche Witwe zu richten, die versichert sein will, dass der liebe Verstorbene eine neue Heimat gefunden hat und ihrer so oft und liebevoll gedenkt, wie sie seiner."

Ich gebe diese Anrufung in einem eigenen Absatz wieder, weil sie zu einem späteren Zeitpunkt abgeändert und Gegenstand einer gewissen Verstimmung wurde.

Während wir auf eine Rückmeldung aus dem Totenreich warteten, dachte ich an das alte Ekel, das ein unausstehlicher Pedant und Besserwisser gewesen war. Schon beim Betreten meiner Wohnung konnte man ihm von der Stirn ablesen, dass er dachte: Was für eine Schlampe ! Sicher hat sie Lurch unter den Betten und verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank. Ehe er sich niederließ, untersuchte er den Fauteuil auf Brösel und beäugte bei Tisch das Besteck von allen Seiten. Nach einer heftigen Auseinandersetzung an einem Silvesterabend vor beinahe zwanzig Jahren, bei der auch Josef und Marianne anwesend waren, schlossen wir eine Art von Burgfrieden. Wider Erwarten hielt er bis zu seinem Ableben, aber sicher nur, weil Marianne gern zu Besuch kam und ihren Walter nicht daheim lassen wollte. Bitte sei nett zu ihr, sie gibt sich wirklich Mühe, wird sie wahrscheinlich gesagt, und er wird irgendetwas geknurrt haben.

Plötzlich ging ein Stöhnen durch Laetitias Körper. Sie sackte zusammen und ließ den Kopf nach hinten fallen. Es sah nach einem Infarkt aus, aber gleich darauf drang ein kehliges "Obermaier ! Wer spricht ?" aus ihrem geöffneten Mund. Wir waren ziemlich erschüttert und versuchten zu begreifen, was vor sich ging. - "Wollen's jetzt sogen, wer sie san oder soll i auflegen ?" - Herr Nemec erlangte als Erster seine Fassung wieder und antwortete: Guten Abend, gnädige Frau. Also wir sind eine kleine Runde von Freunden, die gern mit Herrn Vymazal, Walter Vymazal, in Kontakt treten würden. - "Vymazal ... Vymazal ... den kenn ich net. Wo soll denn der wohnen ?" - Wir warfen uns Blicke zu, weil wir die Frage nicht verstanden. Herr Nemec räusperte sich: Also, wo seine Seele jetzt wohnt, wissen wir leider nicht. Gibt es denn auch im Jenseits Adressen ? - "Wos haßt do 'Jenseits' ? San sie ang'soffen ?! Sie san mit Baierboch, BAIERBACH im Landkreis LANDSHUT, verbunden !" - Sie müssen nicht so schreien, gnädige Frau, sprang nun Herr Humpelmaier ein. Wir können Sie gut hören, obwohl wir in Wien sitzen. Niemand von uns hat ein Telefon in der Hand. Wir hören Ihre Stimme aus dem Mund einer Geisterbeschwörerin, die wir eingeladen haben, um mit dem verstorbenen Walter Vymazal Kontakt auszunehmen. - "Ihr wollt's mi tratzen, oder ? I hob koa Zeit net für so an Bledsinn. I bin die Ursula Obermaier und grod no im Stoi, um nach die Viecher zum schau'n. I bin quicklebendig, des derfen's ma glaub'n. Und an Vymazal kenn i net !" - Nun meldete sich noch Marianne mutig zu Wort: Frau Obermaier, bitte, wir wollen Sie nicht stören, aber sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht im Jenseits sind ? - Die Frau aus Niederbayern zögerte einen Moment, dann schrie sie: "Jo so a Schmarrn, was glaubt's denn ihr ?! Do wär i do g'sturbn, des wüßt i do ! Mir is des jetzt zu bled, ang'soffene Deppen !" - Dann brach der Kontakt ab.

Laetitia hob langsam den Kopf und blickte uns unverwandt an. Es war wohl nicht ... der Gesuchte ? sagte sie ein wenig schuldbewusst. Das passiert leider immer wieder, ich habe es ja eingangs erwähnt, in zwei von fünf Kontaktaufnahmen. Soweit ich weiß, gibt es keine wissenschaftlich fundierte Erklärung für das Phänomen. - Das eigentlich Problem ist, erwiderte Herr Nemec lauernd, dass Sie Kontakt zu einer Lebenden aufgenommen haben. DAS bedarf einer Erklärung ! Laetitia lächelte nachsichtig: Nein, ganz gewiss nicht. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es eigensinnige Seelen gibt, die nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass sie tot sind. Sie machen einfach immer weiter, als wäre nichts geschehen. Wenn man sie konfrontiert, werden sie oft ungehalten oder sogar ausfällig. In der Regel ist es dann besser, den Kontakt abzubrechen. Wir warfen uns Blicke zu, um uns über das weitere Vorgehen zu verständigen. Also ich glaube, wir werden es vorerst dabei bewenden lassen, fasste ich den Abend zusammen. Es ist spät, soll ich Ihnen ein Taxi rufen ? - Nein, ich bin mit dem Wagen da, antwortete Laetitia, und dann, ein wenig pikiert: Wenn sich die gesuchte Seele nicht meldet, sollten Sie nicht dem Medium die Schuld geben. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich nur das Werkzeug bin. Die eigentliche Arbeit müssen die Teilnehmer leisten, die, die den Verstorbenen gekannt haben. Möglicherweise haben Sie sich nicht ausreichend auf ihn konzentriert. Das Honorar, so habe ich es mit Frau Vymazal vereinbart, wird trotzdem fällig. Marianne überreichte ihr mit verbissener Miene das Geld und ich begleitete sie ins Vorzimmer zur Tür.

Als ich zurückkehrte, war schon eine Diskussion im Gange. Ein unverschämtes Luder, sagte Herr Nemec, der sollte man das Handwerk legen. - Du glaubst, dass sie getrickst hat ? fragte Herr Humpelmaier. - Natürlich, sie ist eine Bauchrednerin, und gar keine schlechte. - Also ich weiß nicht . - Nein, nein, Du hast es vielleicht nicht gesehen, aber sie bewegt die Lippen, das ist nicht Bauchreden. - Woher willst Du das wissen ? - Sie ist eine Stimmenimitatorin. - Es war doch auffällig, dass sich eine Frau gemeldet hat. Eine männliche Stimme hätte sie nämlich nicht imitieren können. - Andererseits muss man bedenken, dass sie uns eine lebende Frau vorgeführt hat. Das ist doch ganz unglaubwürdig. - Ja, sie betrügt eben auf eine besonders dumme Weise. - Du bist also sicher, dass sie eine Gaunerin ist ? - Ja was denn sonst ? Du wirst doch nicht an diesen Hokuspokus glauben ! - So ging es hin und her. Wir trauten der Laetitia nicht über den Weg und waren sicher, auf subtile Weise zum Narren gehalten worden zu sein. Marianne allerdings wollte ihrem Jenseitsglauben noch nicht abschwören, und Herr Humpelmaier wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Nur Herr Nemec zeigte eine starke Abwehrreaktion. Als Gastgeberin wollte ich unparteiisch bleiben, aber Marianne setzte sich auch ohne meine Unterstützung durch. Wir vereinbarten einen weiteren Termin. Es sollte, wenn es nach Herrn Nemec ging, unbedingt der letzte sein. Die offizielle Begründung war, dass wir den Schwindel auffliegen lassen wollten.

Am 5. Dezember trafen wir uns wieder in derselben Besetzung und am selben Ort. Laetitia trug diesmal ein scharlachfarbenes Kleid mit einem schweren schwarzen Schal um den Hals. Sie schien zu spüren, dass wir diesem Schal misstrauten und legte ihn vor Beginn der Séance ab. Diesmal hatte Marianne noch einen Wunsch. Liebe Frau Laetitia, sagte sie angelegentlich, es wäre denkbar, dass wir mit einer abgewandelten Formulierung der Anrufung heute mehr Glück haben ... könnten. Sie müssen wissen, dass mein Mann ein sehr bodenständiger Mensch war, der mit blumigen Worten wenig anfangen konnte, nicht wahr Schorschi ? - Herr Nemec nickte. - Er war kein kalter Mensch, das gewiss nicht, aber vielleicht ... ein bisserl ... gefühlsarm ... oder besser gesagt: nüchtern. Von Berufs wegen war er Jurist, das habe ich Ihnen zu erzählen vergessen. Also wenn Sie ihn heute rufen, sollten Sie es vielleicht auf eine mehr nüchterne Weise tun. Ich hoffe, ich konnte mich verständlich machen ...
Laetitia willigte ein, fühlte sich aber als Expertin in Frage gestellt. Ich benutze, diese Formulierung schon seit gut fünfzehn Jahren und habe damit durchwegs gute Erfahrungen gemacht, sagte sie beleidigt. Abweichende Formulierungen erhöhen meines Wissens nicht die Wahrscheinlichkeit einer Kontaktaufnahme, aber wenn Sie darauf bestehen, können wir gern auch einen anderen Ton anschlagen. - Wir löschten also wieder die Lichter und fassten uns an den Händen. Herr Nemec seufzte und Herr Humpelmaier zwinkerte mir zu. Nach einigem Nachdenken erhob Laetitia ihre Stimme:

"Wir haben uns heute hier versammelt, um die Seele von Walter Vymazal in unsere Mitte zu rufen. Oh Wächter des Totenreichs, gewährt ihr ein Gespräch mit seiner Witwe, die wissen möchte, wie es dem Verstorbenen ergeht, ob er sich eingerichtet hat und noch manchmal an sie denkt."

Herr Nemec schüttelte heftig den Kopf und seufzte wieder, während ich mich auf den Angerufenen zu konzentrieren versuchte. Es war an sich eine banale Sache, damals zu Silvester vor zwanzig Jahren. Wir saßen um denselben Tisch wie der "Zirkel" heute, aßen Fondue und warteten auf die Mitternacht. In solchen Situationen wird manchmal der Gesprächsstoff knapp, weil niemand über das spricht, was ihn eigentlich bewegt. So waren wir zu vorgerückter Stunde bei Trivialitäten angelangt und ich gab ein kleines Erlebnis in einem Kaufhaus zu Besten, wo man mir einen neumodischen Wisch-und-Weg-Wedel verkaufen wollte. Das Ding schaut wie eine Faschingsperücke aus und zieht wie ein Magnet Staub, Haare und Brösel an, erläuterte ich, man erspart sich das Aufwaschen. Da lachte Walter auf und sagte: Und da hast Du natürlich sofort zugegriffen ! - Es war das "Du natürlich", das mich augenblicklich auf die Palme brachte. Was willst Du damit sagen, herrschte ich ihn an. Er wurde ein wenig kleinlaut und meinte, dass er mich für eine aufgeschlossene Frau halte, die haushälterischen Experimenten nicht abgeneigt sei, noch dazu, wo die Bodenreinigung mit Wasser, Schmierseife und Bohnerwachs eine mühsame Angelegenheit sei. Ich wusste natürlich, dass er genau das von einer Hausfrau erwartete und erwiderte: Ja ! Eine mühsame Angelegenheit ! Und wer diesen Aufwand bei mir vermisst, darf gern im Stiegenhaus oder bei sich daheim auf das Läuten der Pummerin warten !

Laetitias Aufstöhnen riss mich aus meinen Erinnerungen. "Johanna ... bist du das ?" drang eine zittrige Greisenstimme aus ihrem Mund. Wir waren so überrascht wie beim ersten Mal. Herr Nemec bedeutete Marianne mit einer energischen Kopfbewegung, dass sie die Gesprächsführung übernehmen solle. Sie räusperte sich und sagte: Guten Abend ... nein, ich heiße leider nicht Johanna. Auch meine Freundin hier heißt nicht so. Ich heiße Marianne. War die Johanna Ihre Frau ? - Der Greis schien entweder nicht verstanden zu haben oder lange nachdenken zu müssen. Nach einer Weile bestätigte er zögernd. - Und Ihre Frau lebt also noch ? wollte Marianne wissen. Diesmal kam die Antwort prompt und fast ein wenig verärgert: "Jo freilich !" - Wo wohnt denn die Johanna, hakte Marianne nach, wir könnten sie vielleicht grüßen lassen. Herr Nemec schüttelte den Kopf, hätte er eine Hand freigehabt, hätte er sich an die Stirn getippt. Der alte Mann musste wieder lange nachdenken, dann sagte er: "In Klogenfurt". - Es klang sehr unsicher und fast wie eine Frage. - Ja sowas, freute sich Marianne, in Klagenfurt am schönen Wörthersee ! Lustige Leute leben dort ... einer lustiger als der andere. Mein Mann und ich haben dort hin und wieder Urlaub gemacht. Kennen Sie vielleicht zufällig meinen Mann ? Er heißt Walter, Walter Vymazal, so ein kleiner, eher hagerer Mensch. - Herr Nemec schüttelte wieder den Kopf und rollte die Augen zur Decke. - Der Greis schien die Frage nicht verstanden zu haben. "Der Walter und die Johanna ?" fragte er mit weinerlicher Stimme, "ausgerechnet der Walter ... ?" Er war hörbar fassungslos. - Nein, nein, das haben Sie missverstanden, beruhigte ihn Marianne. Der Walter ist schon tot, er sollte eigentlich bei Ihnen sein. Die Johanna lebt ja noch, haben Sie gesagt. Wie heißt sie denn mit Nachnamen ? - Wieder herrschte langes Schweigen, dann kam ein verschleimtes "Kopeinig". - Schön, dann mache ich Ihnen jetzt einen Vorschlag, Herr Kopeinig, fuhr Marianne fort: Wir werden Ihrer Frau sagen, dass sie sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll. Und Sie versprechen mir, dass Sie den Herrn Vymazal von unserem Gespräch berichten, falls Sie ihm begegnen. Was sagen Sie dazu ? - Der Vorschlag war natürlich viel zu kompliziert für die verwirrte Seele des alten Mannes. Er musste wieder lange nachdenken, dann sagte er leise "jo", aber es klang wieder wie eine Frage.

Marianne räusperte sich laut und Laetitia kehrte ins Diesseits zurück. Eine arme Seele, sagte Herr Humpelmaier, aber leider wieder die falsche. Sie haben kein Glück mit Ihrem Walter, Frau Vymazal. Er will sich einfach nicht melden. - Ja und dreimal darfst Du raten warum, empörte sich Herr Nemec, weil er nämlich tot ist ! Mausetot ! - Und dieser Kopeinig, war denn der nicht auch tot ? gab Herr Humpelmaier zu bedenken. - Aber Hermann, entschuldige bitte, diese Stimme kam doch nicht aus dem Jenseits, sondern aus irgendeiner Kittelfalte dieser Frau ! Herr Nemec warf Laetitia einen vernichtenden Blick zu. - Die raffte ihr Kleid hoch - ich befürchtete schon, sie würde es gleich zu Beweiszwecken ausziehen - , stand auf und verlangte ihr Honorar. - Frau Vymazal, sagte sie beim Hinausgehen und so, dass es alle hören konnten, in dieser Runde sind offenbar Sie die Einzige, die den Kontakt aufnehmen möchte. Wenn es wieder nicht geklappt hat, lag es weder an der Anrufungsformel noch an meiner Unfähigkeit. Ihre Freunde scheinen nicht zu begreifen, dass Leib und Seele unterschiedliche Entitäten sind, die eine Zeitlang Hand in Hand gehen, davor und danach aber getrennter Wege. - Ich begleitete sie noch zur Tür und wünschte ihr alles Gute, weil ich annahm, sie zum letzten Mal gesehen zu haben.

Bei meiner Rückkehr wurde gerade die Frage erörtert, ob man ein Versprechen gegenüber einem Verstorbenen einhalten müsse oder nicht. - Natürlich werde ich die Frau Kopeinig suchen, sagte Marianne mit Nachdruck, versprochen ist versprochen - und wenn ich aufs Meldeamt gehen muss ! - Tu, was Du nicht lassen kannst, erwiderte Herr Nemec, aber erlaube mir, mich an dieser Stelle aus dem Spiel zunehmen. Dieses gewiefte Frauenzimmer will uns das Geld aus der Tasche ziehen. Sie denkt, dass wir es noch einmal und noch einmal versuchen werden. - Aber Georg, warf Herr Humpelmaier ein, wenn Du solche Anschuldigungen erhebst, musst Du sie auch begründen können. Wir haben keinen Hinweis auf ein betrügerisches Vorgehen, wir wissen nur nicht, was da passiert. Ich bin sehr dafür, dass Frau Vymazal ihr Versprechen hält und nach dieser Frau Kopeinig sucht. Das könnte aufschlussreich sein. - Aufschlussreich wäre gewesen, antwortete Herr Nemec erbittert, wenn man die richtigen Fragen gestellt hätte ! Da sprichst Du - vermeintlich - mit einem Toten, schnauzte er Marianne an, und fragst ihn nicht, wie es ist, im Jenseits zu sein ! Stattdessen unterhältst Du Dich mit ihm über seine Frau und über Klagenfurt ! - Ja ich wollte eben nicht unhöflich sein, verteidigte sich Marianne, er hat mir einfach leid getan. - An dieser Stelle wollte ich auch einen Beitrag einbringen und sagte: Also merkwürdig ist es schon, dass dieser Herr Kopeinig auch nach seinem Tod noch dement ist. Herr Humpelmaier lachte: Es würde mich nicht wundern, wenn er in einem Kärntner Pflegeheim liegt, denn er hat mit keinem Wort gesagt, dass er tot ist.

Rückblickend gesehen war es wieder kein erfolgreicher Abend. Nachdem die beiden Herren streitend gegangen waren, beklagte sich Marianne noch eine Weile über ihren Schwager und entlockte mir dann die Zusage, noch einmal, ein letztes Mal, eine Séance in meinem Wohnzimmer zu veranstalten, um vielleicht doch noch mit ihrem Walter in Kontakt treten zu können. Ich dachte, dass das alte Ekel soviel Aufwand nicht verdient hatte, mir damit aber immerhin die Möglichkeit geboten wurde, Herrn Humpelmaier wiederzusehen, dessen Rasierwasser eine irgendwie anregende Wirkung auf mich hatte.

Am 23. Jänner war Vollmond und Marianne ganz sicher, dass es diesmal klappen würde. Auch weil der Schorschi nicht dabei sein wird, der sich mit dem Walter zu Lebzeiten ohnehin nur gestritten hat, sagte sie zufrieden. Diesmal wird Herr Böttcher zu uns stoßen. Der ist noch jung und geistig nicht so festgefahren. Bei dieser Vorbesprechung erfuhr ich auch, dass es in Klagenfurt und Umgebung mindestens vier Frauen mit dem Namen "Johanna Kopeinig" gab, und Marianne ihnen allen eine Ansichtskarte mit dem Vermerk "Ihr Ehemann lässt Sie grüßen und bittet um eine Unterredung. Im Bedarfsfall hilft Frau Bettina Kovac unter der Wiener Nummer ..." geschrieben hatte.

Am besagten Abend stand ich mit zwei Blumensträußen (von Herrn Böttcher und Herrn Humpelmaier) im Vorzimmer und überlegte, ob es vertretbar war, Herrn Böttcher ältere Brotreste vorzusetzen, da er das jüngste Gebiss von uns hatte. Herr Nemec war nämlich unerwartet aufgetaucht und hatte auch noch seine Frau mitgebracht, damit sie sähe, "wie der Spiritismus allmählich Besitz von ihrer Schwester ergriff". Am Ende entschied ich, die Brotreste der Laetitia aufzutischen. Der alte Vymazal hätte sich wieder bestätigt gefühlt: schlechte Hausfrau - keine Vorräte für Notfälle. Herr Böttcher war ein hochaufgeschossener junger Mann, der sich sichtlich unwohl fühlte, weil rund dreihundertfünfzig Jahre erwartungsvoll zu ihm aufblickten. - Sie müssen uns nachher unbedingt sagen, ob es für das Phänomen eine physikalische Erklärung gibt, sagte Herr Humpelmaier und klopfte ihm freundschaftlich auf den Arm. Dürfen wir Sie "Max" nennen ? - Kaum hatten wir uns um den Tisch versammelt, meldete sich Laetitia und kündigte eine Verspätung von einer halben bis dreiviertel Stunde an. Sie benötige Starthilfe für ihren Wagen, aber der Pannendienst sei schon verständigt. Marianne nutzte ihre Abwesenheit, um ihr einen Zettel auf den leeren Teller zu legen. Darauf stand:

Bitte folgende Anrufung verwenden:
"Wir haben uns heute hier versammelt, um mit der Seele des verstorbenen DOKTOR Walter Vymazal Kontakt aufzunehmen, Oh Wächter des Totenreichs, gewährt ihr eine Unterredung mit der Witwe, die nur wissen möchte, ob der Verstorbene innere RUHE und FRIEDEN gefunden hat. Er möge diese Anrufung bitte keinesfalls als Kontrolle oder Überwachung seiner Seele missverstehen."

Während des Essens schon musste Herr Böttcher von seinem Studium der theoretischen Physik erzählen. Er deutete an, dass vieles noch recht zweifelhaft und unverstanden war und nannte als Beispiel das Verhalten der kleinsten Teilchen, die die Bausteine des Universums bilden. Er stellte uns die wichtigsten vor und beschrieb sehr unterhaltsam ihre Kapriolen und ihr Zusammenspiel. Am Ende wollte Herr Nemec wissen, ob die Naturwissenschaften nun auch die letzten Schlupflöcher für die Idee eines Weiterlebens nach dem Tode zugemauert hätten. Herr Böttcher überlegte eine Weile, dann sagte er: Ja und nein. Nein, weil sich kein Physiker den Anschein geben möchte, über solche Dinge nachzudenken. Sie werden Gedanken über den Tod nur im Zusammenhang mit den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik finden. ABER, durch die Hintertür des Multiversums hat sich, wenn Sie so wollen, eine neue Möglichkeit eingeschlichen: der Doppelgänger, der in einem unendlichen Kosmos, in dem sich alles und jedes wiederholen muss, irgendwo auf einem erdähnlichen Planeten, der um einen sonnenähnlichen Stern kreist, lebt und überlebt, so wie die weiteren zahllosen Kopien von Ihnen oder von mir. - Er versuchte uns zu erklären, was es mit dem Multiversum für eine Bewandtnis hat, aber ich muss zugeben, dass ich nur die Hälfte verstand und in dieser Hälfte wenig Tröstliches fand. Auch die anderen konnten sich nicht dafür erwärmen. Frau Nemec behauptete sogar, dass ihr die Vorstellung von einer Doppelgängerin kalte Schauer über den Rücken jage. - Und diese Neutrinos, von denen Sie uns erzählt haben, fragte Herr Humpelmaier, könnten sie vielleicht die unsterblichen Bestandteile unserer Seelen sein ? Wohl kaum, erwiderte er Böttcher, bekümmert, seine ältliche Fangemeinde enttäuschen zu müssen. Es heißt zwar, dass der Mensch nach seinem Tod um durchschnittlich 21 Gramm weniger wiegt als zu Lebzeiten, aber dafür ist der spontane Verlust von Flüssigkeit verantwortlich. Neutrinos sind fast masselos und durchqueren unsere Körper ohne Verzögerung. So gesehen, müssten wir externe Seelen haben, die beständig durch uns hindurchrauschen. Aber wer weiß ...
- Und damit, resümierte Herr Nemec, wollen wir dieses Thema abschließen. Es ist schon sehr spät und ich schlage vor, dass wir unsere liebenswürdige Gastgeberin von unserer Anwesenheit befreien, falls dieses sogenannte "Medium" nicht binnen fünfzehn Minuten auftaucht. - Marianne warf mir einen flehentlichen Blick zu, aber da läutete es schon an der Tür.

Eine stark echauffierte Laetitia strömte an mir vorbei ins Wohnzimmer, diesmal in Nachtblau mit einem silbernen Totenkopf als Brosche. Sie entschuldigte sich für die Verspätung, würdigte uns dabei aber keines Blickes. Als sie Mariannes Anweisung auf ihrem Teller sah, schüttelte sie unwillig den Kopf, begann sie aber dann doch herunterzulesen. Diesmal dachte ich nicht an den alten Vymazal, sondern betrachtete Herrn Humpelmaier, der schräg vis-à-vis saß und im Schein der Kerzenlichter wesentlich jünger wirkte. Die Seele altert eben nicht, dachte ich, und in seltenen Momenten kann man das auch sehen. Herr Humpelmaier spürte meine Blicke, hob des Kopf und zwinkerte mir zu.

Plötzlich ging ein qualvolles Stöhnen durch den Raum und brach unvermittelt ab. Als ich aufblickte, sah ich Laetitia, die unter halbgeschlossenen Lidern Herrn Nemec betrachtete, der sehr bleich in seinem Sessel hing. Mit einer Hand hielt er sich am Tischtuch fest, mit der anderen umklammerte er seine Kehle. - Dann ging alles sehr schnell. Ich stürzte zum Lichtschalter, Marianne und ihre Schwester auf Herrn Nemec, Herr Humpelmaier brachte das Teeservice in Sicherheit, und Herr Böttcher telefonierte mit der Rettung. Es scheint ein Herzinfarkt zu sein, hörte ich ihn sagen. Gemeinsam legten wir Herrn Nemec auf mein Wohnzimmersofa und schoben Pölster unter seinen Rücken. Frau Nemec weinte unaufhörlich, als ob ihr Mann schon gestorben sei. Nach zehn Minuten waren die Sanitäter da und brachten ihn im Laufschritt auf einer Trage zum Rettungswagen. Wir folgten ihnen, Marianne und ihre Schwester stiegen ein. Mit Blaulicht und Folgetonhorn setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. - Er wird es schon schaffen, meinte Herr Böttcher. Merkwürdig nur, warum es ausgerechnet jetzt passiert ist. Es ist ja nichts Besonderes vorgefallen. Na, wir werden ja sehen. Sie sollten jetzt wieder nach oben gehen, es ist ziemlich kalt. Danke für die Einladung.

Im Stiegenhaus kam mir Laetitia entgegen. Bitte richten Sie Ihrer Freundin aus, dass ich unter diesen Umständen auf mein Honorar verzichten werde, sagte sie und fügte nach einer kunstvollen Pause hinzu: obwohl ich ganz sicher bin, dass Walter Vymazal diesmal anwesend war. Die Seelen der Verstorbenen machen sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar, müssen Sie wissen.

An meinem Wohnzimmertisch saß er Humpelmaier und rauchte eine Zigarette. Ich hoffe, Du bist mir nicht böse deswegen. Ich war so durcheinander, dass ich die jetzt dringend gebraucht habe, sagte er schuldbewusst. - Passt schon, antwortete ich und setzte mich zu ihm, vielleicht vertreibt der Rauch ja die bösen Geister.

Ende
 
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