Die Betrügerin (1999)

Tenebrula

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Die Betrügerin (2.Version)

Er betritt die alte Kneipe im Hafen, die sich Zeit seines Lebens nicht verändert hat. Ein paar Jahre ist er nicht mehr hier gewesen, doch nun empfangen ihn wieder die dunkel lasierten Thekenstühle, das allgegenwärtige Gemurmel der Gäste und der Tabakrauch unter den bleiverglasten Lampenschirmen.
Auf dem Weg zum Stammtisch seiner Freunde kommt er an zwei auffällig geschminkten Frauen vorbei. Eine davon ist jung und hat ein hübsches Gesicht, die Ältere lächelt ihn an, als sich ihre Blicke begegnen. Ihre spitzen Zähne erinnern ihn entfernt an eine Ratte; er schaut weg.
Seine Freunde kommen, sie spielen Karten, philosophieren und machen Witze über die Hure mit den Rattenzähnen. Die Kneipe füllt sich, ein Bierglas fällt von der Theke, ein Gast vom Stuhl. Irgendjemand stimmt ein derbes Lied an. Als die Nacht zu Ende geht, wird es wieder stiller, er spielt immer noch und beobachtet dabei die beiden Frauen aus den Augenwinkeln. Dann geht die Jüngere mit einem Fremden fort, die Ältere bleibt sitzen und hört nicht auf, Wodka zu trinken. Der Wirt öffnet die Tür, um frische Morgenluft hereinzulassen. Seine Freunde gehen nach Hause. Nun sitzt niemand mehr zwischen ihm und der seltsamen Frau. Abermals sieht er zu ihr herüber, doch sie lächelt nicht mehr. Sie nickt.

Als die Kneipe schließt, geht sie mit ihm auf die Straße. Sie bleibt bei ihm. Es ist ganz kalt.
Einmal reden sie. Er fragt: „Alle hassen dich. Haben sie Angst vor dir?”
Sie bleibt stehen und schaut ihn an: „Du weißt, warum.” Ihre Augen sind voller Leben.
Er packt sie. "Alle halten dich für eine Hure und du gehst mit ihnen und tust so, als verkauftest du dich. Aber du bist eine Betrügerin, denn du suchst sie dir aus. Und nun hast du mich ausgesucht, denkst vielleicht, dass ich anders bin. Du willst mich! -- Aber so läuft das nicht. Was bildest du dir ein?”
Und er schlägt sie, schlägt sie mitten ins Gesicht und läuft durch die kalten, nebligen Straßen davon.

(1999 - 2021)
 
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Ixolotl

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Liebe(r) Tenebrula,

der Versuch, das Innere einer Kneipe ebenso wie das Innere der sich darin betrinkenden Menschen zu beschreiben, ist zwar nichts Besonderes, aber immer interessant, wenn wir dabei etwas aus menschlichen Grenzgebieten erfahren. Leider hapert es bei dem Stück ein bisschen an der Sprache:
Der Mann betritt diese Spelunke im Hafen. Gemurmel und Tabakrauch umgeben ihn (Falscher Bezug - er bringt das Gemurmel und den Rauch ja nicht mit, sondern er trifft auf ihn. Das solltest besser darstellen). In der Ecke sieht er zwei geschminkte Frauen sitzen (wirklich so einfach? Wo bleibt der Rauch und der Qualm? Werden sie da nicht undeutlich?). Eine davon ist jung und hat wohltuend (warum diese unverständliche Wertung?) nichtssagende Gesichtszüge, die Ältere trinkt viel Wodka (viel? Woher weiß das der Ankömmling schon?) und grinst durch ihre rattenhaften Zähne (was sind "rattenhafte" Zähne? Spitze Zähne? Nagezähne? Und wie kann man "durch Zähne" grinsen?), als sich ihre Blicke mit denen des Mannes treffen.
und so weiter.

Kurzprosastücke sind so empfindlich wie Gedichte, da kommt es eigentlich auf jedes Wort an. Auch auf eine "Erzählstimme". Davon spürt man hier leider (noch) nichts. Es sind nur kurze, ziemlich zusammenhanglose Sätze. Das könntest Du sicher besser machen.

Die Behauptungen des verhinderten Freiers am Ende sind nicht recht schlüssig; ob eine Nutte ihre Kunden wirklich zu "lieben" imstande ist, darf man für fraglich halten. Jedenfalls ist der verwegene Schluss für eine solche Impression ein wenig zu exotisch. Man denkt vielleicht ein bisschen über das warum und wieso nach, findet keine Antwort und blättert rasch weiter.

Was wolltest Du die beiden Grenzgänger denn wirklich sagen lassen?

lg

Ixo
 

Tenebrula

Mitglied
Lieber Ixolotl,

Hab Dank für die konstruktive und zielführende Kritik!
Ich hoffe, dass ich in den nächsten Tagen dran arbeiten kann. Die handwerklichen Mängel haben eine Aussicht, verbessert zu werden; der Schlussdialog wird aber wahrscheinlich ein wenig absurd bleiben. Dazu habe ich ja das ganze Klischee aufgebaut, um es am Ende mit einem Paradox kaputtzumachen.
Das Nachdenken über das wieso und warum ist mir eigentlich ganz willkommen, und es wird auch keine Auflösung geben. Aber ich möchte den Leser nicht so sehr irritieren und befremden. Ich versuche mein Mögliches.

Lieben Gruß von der Tenebrula.
 
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Ixolotl

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Liebe Tenebrula,

es macht keinen SInn, Kurzprosa so zu verklausulieren, dass sie sich liest wie ein Kreuzworträtsel. Wenn Du möchtest, dass der Leser den Text wirklich aufnimmt und Deinen Gedanken folgt, müssen sie klar verständlich sein. Sonst liest man darüber hinweg und legt die Geschichte beiseite. Du willst ja nicht nur für Dich schreiben, nehme ich an, sondern auch für andere - sonst hättest Du hier ja nicht publiziert.

Gedichte sind etwas anderes. Die kann man, weil die Botschaften ja "verdichtet" sein sollen, komprimiert oder bruchstückhaft anlegen und von dem Leser erwarten, dass er sie zusammensetzt und interpretiert. Aber auch da sollte man nicht übertreiben; wenn drei Schraubenschlüssel und dazu noch ein Schraubenzieher notwendig wären, um an den Kern zu kommen, geben die meisten auf - sie sind Liebhaber, keine Mechaniker.

Die kurzprosaische Kunst besteht nicht darin, Simples möglichst verschraubt anzubieten, sondern komplizierte Situationen so auf den Punkt zu bringen, dass sie auch ein "Laie" verstehen kann. Das ist nicht einfach, liebe Tenebrula, und genau deshalb ist gute Literatur eine Kunst, die man nur zum Teil erlernen kann. Für den anderen Teil sind die Musen, das Talent und die Inspiration verantwortlich.

Ich bin sicher, du hättest von allem und müsstest nur noch lernen, es sinnvoll einzusetzen. Das braucht ein bisschen Zeit, guten Willen und wohlwollende Kritik. Dann wird's!

lg

Ixo
 
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steyrer

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Hallo Tenebrula.

Für mich ist das keine verklausulierte Kurzprosa, sondern ein recht einfach durchgespielter Gedanke: „Die Welt will betrogen sein.“ Eine realistische Darstellung des Umfelds halte ich zwar nicht für verzichtbar, aber für zweitrangig.

Liebe Grüße
steyrer
 

Vitelli

Mitglied
Hallo.

Für mich ist das keine verklausulierte Kurzprosa, sondern ein recht einfach durchgespielter Gedanke: „Die Welt will betrogen sein.“
(Hervorhebung von mir) Interessant. Ist mir gar nicht aufgefallen. Auch jetzt noch nicht.
Eine realistische Darstellung des Umfelds halte ich zwar nicht für verzichtbar, aber für zweitrangig.
Realistisch sowieso nicht, aber stimmig und anschaulich.

@Tenebrula
Dazu habe ich ja das ganze Klischee aufgebaut, um es am Ende mit einem Paradox kaputtzumachen
Paradox? Einen scheinbaren Widerspruch erkenne ich nicht, das Ende kommt bestenfalls unerwartet.

Viele Grüße
 

Ixolotl

Mitglied
Ich glaube, lieber steyerer, du hast den Text gar nicht wirklich gelesen. Es mag schon sein, dass darin behauptet wird, eine Nutte liebte alle ihre Freier, und dass die Freier das auch glaubten. Jedenfalls meint das der Protagonist und ist wohl, wie Marlene Dietrich mal so spöttisch trällerte, "von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt".

Hier wird niemand betrogen - hier bescheißt sich allenfalls jemand selber. An die "Liebe" glaubt niemand, mitten im Bordell - die nicht, die es zu Zwecken der Triebabfuhr aufsuchen, und auch die nicht, die sich nach Tarif für ihre zeitlich limitierten Handreichungen bezahlen lassen. Es macht also wenig Sinn, hier ein ideelles Kunst-Szenario herauszulesen zu wollen: Alles steht mitten im schmierigen Sumpf, und aus dem holt man nichts heraus, selbst wenn man die Nutte verprügelt.

Schöne Grüße von Professor Unrat!

lg

Ixo
 

steyrer

Mitglied
Hallo Ixolotl, hallo Vitelli!

Vielleicht habt ihr recht, vielleicht nicht, aber meine Sichtweise ist sowieso nicht maßgeblich, sondern alleine die der Autorin.

LG
steyrer
 

Ixolotl

Mitglied
Wenn Vitelli Deine Sicht nicht interessierte, lieber steyrer - warum, glaubst Du, publiziert er dann hier in diesem Forum? Es ist so eingerichtet, dass die Leser auf Texte antworten und sie sogar "benoten" können. Wenn der Autor keine Antworten gewollt hätte, hätte er hier wohl nichts publiziert.

Mag sein, dass er sich andere Rückmeldungen gewünscht hätte, aber das sollte uns Kollegen nicht abhalten, weiter auf seine Texte zu reagieren und unsere Meinung dazu freundschaftlich kundzutun. Das ist, finde ich, etwa eine Million mal besser als nichts und hält dieses Forum lebendig.

lg

Ixo
 

Tenebrula

Mitglied
Lieber steyrer,

Auch dir Danke fürs Lesen und für die Rückmeldung. Der Text wird gerade von mir überarbeitet und jede Form der Reaktion ist willkommen. Zu Vitellis Beitrag kann ich kaum etwas hinzufügen.

aber meine Sichtweise ist sowieso nicht maßgeblich, sondern alleine die der Autorin.
Diese Meinung teile ich nicht. Alle Interpretation, die durch Textstellen belegt werden können, sind auch richtig. Im Idealfall spricht also der Text für sich. (das tut er hier noch nicht ganz, deswegen überarbeitungsbedürftig.)

Liebe Grüße,
Tenebrula
 



 
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