Die Botschaft

Stalker

Mitglied
Muchnara 13
Die Botschaft

Keron sah nachdenklich auf die kleine Holzschachtel in seinen Händen. Mit dieser Tat würde er endgültig eine Grenze überschreiten. Geposporen waren eine geächtete Waffe, ein Mittel, wie es nur gewissenlose Verbrecher verwendeten, und auf das der Tod durch Rädern stand. Das hatte Sylissa ihm gesagt. Sie hatte aber auch gesagt, sie wüsste keine andere Möglichkeit, Farah lebend zu befreien. Trotz des kurzen Streits hatte selbst Samara dem letztlich zustimmen müssen. Außerdem war eine Rückkehr in ein normales Leben ohnehin nicht möglich. Man würde weiterhin versuchen, Farah und alle Mitwisser auszuschalten, und solange er nicht einmal wusste, wer „man“ war, solange würde er fliehen müssen.

Er schob all diese Gedanken beiseite. Das hatte Zeit bis danach. Jetzt war die Frage: Würde dieser Askar Herl auf den Trick hereinfallen? Wenn er ihn durchschaute, dann war alles vorbei. Wenigstens hatte Herl ihn nie gesehen, doch er war nur ein Bauer, der solche Taten nicht gewohnt war. Hatte er tatsächlich die Nerven? Seine Hände zitterten bereits jetzt.
„Willst du wirklich Nichts haben?“, hörte er Sylissa fragen.

Keron drehte sich zu ihr um. Gelassen stand die schwarzhaarige Frau da, lediglich ihre grauen Augen wirkten nicht so kühl wie sonst.
„Du sagtest, es würde mich auch benommen machen. Das will ich nicht.“
„Leider haben alle Beruhigungsmittel diese Nebenwirkung“, meinte Sylissa.
„Dann geht es nicht.“
Sie seufzte. „Na schön! Aber vergess den Trank nicht.“
„Ja, ja, wegen der Sporen. Sie könnten sonst meinen Schutz durchdringen“, erwiderte Keron etwas gereizt. „Ich geh jetzt, ehe du mich noch totredest.“
Er stapfte davon.

Samara sah ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand. Dann drehte sie sich zu Sylissa um.
„Danke, dass du ihm den Trank noch einmal aufgedrängt hast“, meinte sie zu der Zauberin.
„Er ist wichtig, wie du selbst meintest.“
„Er könnte dir egal sein.“
„Meinst du? Ist er aber nicht, Samara.“
Samara zuckte mit ihren Schultern. „Na schön, dann gehe ich jetzt auf meinen Posten. Ich werde aufpassen, während du mit Askar verhandelst.“

Keron verließ den Wald und betrat ein flaches Tal. In einiger Entfernung war ein kegelförmiger Hügel zu sehen. Er rief sich Sylissas Beschreibung wieder in Erinnerung, wonach sich hinter einem auffälligen Hügel das Lager befinden solle. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, während er weiter auf den Hügel zuging.

Der Aufstieg war anstrengend. Keron blieb kurz unterhalb der Kuppe stehen, um Atem zu holen. Doch sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen und seine Hände fingen wieder an zu zitterten. Keron fing an zu bereuen, Sylissas Mittel abgelehnt zu haben. So könnte er unmöglich vor Herl treten, er müsse zurück und Sylissa um einen Beruhigungstrank bitten.
„He du!“
Tief erschrocken zuckte er zusammen.
„Bleib stehen!“, rief die Stimme drohend.

Schwere Schritte näherten sich von der Seite. Keron bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, der Schmerz lenkte ihn ab, dann drehte er sich langsam der Stimme zu. Es waren zwei Männer, die mit gezogenen Schwertern auf ihn zueilten. Als sie vor ihm stehen blieben, fiel ihm ihre uneinheitliche Ausrüstung auf. Keine Frage, das waren keine Soldaten. Der eine von ihnen war ein gedrungen wirkender vierschrötiger Kerl, der ihn finster aus seiner schäbigen Metallrüstung heraus anstarrte, der andere trug nur ein Kettenhemd über seinen baumlangen feingliedrigen Körper.

„Bist du einer der Unterhändler?“, fragte der größere der Beiden. Seine Stimme klang sanfter als die seines Begleiters, der ihn angerufen hatte, doch auch sein Ton ließ nur eine Antwort zu.
„Er sieht eher wie ein Bauer aus, der sich verlaufen hat“, warf der Gedrungene spöttisch ein.
„Das geht euch nichts an!“, entfuhr es Keron. „Bringt mich sofort zu Askar Herl.“

Keron war über sich selbst erstaunt. Natürlich hatte Sylissa ihm gesagt, er würde auf Wachen treffen, und natürlich hatten sie die passende Begrüßung eingeübt, doch er hatte zu keinem Zeitpunkt daran geglaubt, sie auch im Ernstfall über die Lippen zu bekommen. Und jetzt war es wie von selbst geschehen. Sie hatte Recht gehabt, die Anspannung würde seine Nervosität besiegen.

„Also seid Ihr kein Bauer?“, fragte er Große verunsichert.
„Wohl kaum. Bringt ihr mich jetzt endlich zu Herl?“
„Natürlich, mein Herr. Folgt mir.“
Der Mann steckte sein Schwert weg und machte eine einladende Geste. Keron folgte ihm, der andere Mann blieb zurück.
Oben auf der Hügelkuppe angekommen deutete der Wächter auf eine Ansammlung von kastenförmigen Wagen, die in einigen hundert Schritten Entfernung im Halbkreis aufgestellt waren. „Dies ist unser Lager.“
„Ich kenne es bereits“, erwiderte Keron.
„Wirklich?“, fragte der Fremde erstaunt.
„Wie wäre ich sonst hierher gekommen? Wir kennen dieses sogenannte Versteck schon lange.“

Der Wächter drehte sich sichtlich verärgert ab und eilte den Hügel hinab zum Lager. Keron atmete erleichtert auf. Dieser Mann würde ihn nun in Ruhe lassen. Wie erstaunlich einfach es war, den Gegner mit frecher Anmaßung zu überrumpeln.

Sie gingen nur einen Handbreit entfernt an einem der Wagen vorbei. Aus der Nähe betrachtet machten er einen abgenutzten Eindruck. Der grüne Anstrich blätterte an vielen Stellen ab, und einige Lücken zwischen den Brettern waren mit Moos gestopft worden. Plötzlich fragte sich Keron, ob in diesem Wagen Farah sei. Unwillkürlich blieb er stehen und suche mit den Augen die Holzwand nach einer offenen Lücke ab. Er entdeckte ein Astloch.

Das Schlagen einer Tür riss ihn aus seinem Gedanken. Kalter Schreck überfiel ihn, beinahe einen Fehler begangen zu haben. Er ging weiter und bog um den Wagen herum.

Die Wohnwagen umstanden kreisförmig einen kleinen Platz, auf dem die Wiese völlig zertrampelt war. Einige liegende Baumstämme dienten als Sitze um eine in der Mitte befindliche Feuerstelle. Sie war erloschen, und Asche und angekohlte Holzreste lagen überall auf dem grauen Sand verstreut herum. Doch all diesen Zeichen intensiver Nutzung zum Trotz wirkte der Platz wie ausgestorben. Ein Hauch von Trostlosigkeit streifte Keron. Hier mochte einst ausgelassen gefeiert worden sein, doch nun lag über allem eine gespenstische Stille.

Wieder erklang eine Tür. Keron drehte seinen Kopf dem Geräusch zu und sah, wie aus einem links gegenüberliegenden Karren zwei Männer traten. Es waren der Wächter und ein mittelgroßer, kräftig wirkender Mann mit kurzen schwarzen Haaren. Keron fühlte, wie Zorn in ihm hochschoss.
„Ihr wolltet mich sprechen?“, rief der Mann ihm zu.
„Seid Ihr Askar Herl?“, fragte Keron mit wutgefärbter Stimme zurück.
Herl stutzte ob des aggressiven Tonfalls, beherrschte sich aber sofort wieder. „Was wollt Ihr?“
„Ich soll euch eine Botschaft bringen.“ Keron unterdrückte seine Wut und hob seine Holzschachtel hoch. „Sie befindet sich in dieser versiegelten Schachtel. Bitte lest sie und gebt mir Eure Antwort in ihr ebenso versiegelt zurück.“
„Eine versiegelte Nachricht?“, wunderte sich Herl. „Wer schickt Euch?“
„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte Keron, er hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt und ärgerte sich über seinen Ausrutscher. Wie oft hatte Samara ihm eingehämmert, dass er seine Gefühle unterdrücken müsse, wolle er nicht alles gefährden? Er müsse unbedingt die überlegene Arroganz eines wichtigen Gesandten zeigen. „Wir wollen alles möglichst verschwiegen regeln.“

Askar kam auf Keron zu und beäugte ihn misstrauisch. „Ich soll mit jemandem verhandeln, der unerkannt bleiben will? Und wie sollen wir über etwas verhandeln, was Ihr nicht kennt?“
„Ich weiß sehr wohl, worum es geht“, meinte Keron leise und schielte an Herl vorbei zu dem stehen gebliebenen Wächter. „Man sagte mir, es sei ein Angebot, dass Ihr nicht ablehnen könntet.“
Herl zog plötzlich die Augenbrauen hoch und grinste. „Gute Verkleidung, mein Lieber.“ Er deutete mache eine einladende Armbewegung hin zu seinem Wagen. „Kommt mit, wir besprechen alles unter vier Augen.“

Das Innere des Wohnwagens glich einer kleinen Holzhütte. Keron sah in seiner Mitte einen Tisch mit zwei Bänken, die in der Nacht als Betten zu dienen schienen. Erstaunt bemerkt er die zahlreichen Bücherregale, die so gar nicht in sein Bild des gewissenlosen Banditen passten. Sein Blick schweifte über die Bücher. Eines davon fiel ihm durch seinen blauen Ledereinband auf. Neugierig geworden las er den in dunkelroten Lettern auf dem Buchrücken eingeprägten Titel: Muligan
„Das ist nicht mein Buch“, kommentierte Herl und zog es aus dem Regal. Er wog es nachdenklich in seinen Händen. „Kennt Ihr es?“
„Nein, ich habe nie davon gehört.“
Herl sah ihn verwundert an. „Seltsam, ein so geschickter Agent des Fürsten, und Ihr kennt nicht diese Sage? Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Zauberinnen.“
„Wir sollten zur Sache kommen.“
„Sicher.“

Herl stellte das Buch zurück und wischte ein Staubkorn von seinem Rücken. Dann deutete er auf die Bank unterhalb des Regales und setzte sich selbst auf die gegenüberliegende Seite. Keron schob in einer ihm unerklärlichen Scheu das Bettzeug weiter zur Seite und nahm Platz. Seine Finger spielten unbewusst mit der Schachtel, während er Herl ansah. Er erinnerte ihn zunehmend an manche Bauern, die er auf dem Markt kennengelernt hatte: Es war schwer sie zu mögen und noch schwerer, sie nicht zu mögen.

„Ich nehme an, Ihr seid in Alles eingeweiht?“, fragte Herl ihn.
„In Einiges, aber nicht in Alles. Ich hätte einige Fragen“, erwiderte Keron spontan und legte den Finger auf den Auslöser.
„Ihr habt Fragen?“ Herl machte eine auffordernde Geste. „Na schön, fragte nur.“
„Weshalb habt Ihr Hilde und Ragar umgebracht?“, stieß Keron scharf hervor.

Herls Gesicht zeigte Überraschung und Ärger zugleich. Er beugte sich nach vorne und fragte: „Ihr meint die Eltern von dem Kind? Wie sind tot?“
„Ja!“
„Aber nicht durch mich.“ Eine Zornesfalte entstand über seiner Nase. „Soll das ein Trick sein, um den Preis zu drücken?“
„Ihr leugnet es? Wer soll es dann gewesen sein?“
„Keine Ahnung! Wir haben den Mann niedergeschlagen und die Frau gefesselt, aber umgebracht haben wir sie nicht. Versucht nicht, es mir in die Schuhe zu schieben.“ Er lehnte sich zurück und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das ist eine meiner Bedingungen. Ich habe keine Lust, für die Taten eines Anderen meinen Kopf hinzuhalten.“
„Aber Farah habt Ihr geraubt.“ Er drückte den Auslöser.

Irritiert starrte Keron auf die Schachtel. Sylissa hatte ein Pulver gemischt, und Deogenes einen Mechanismus aus Federn und Feuerstein gebaut, der es entzünden sollte. Die Explosion, wie sie es nannten, sollte niemanden verletzen, sondern lediglich die Schachtel platzen lassen und die in ihr enthaltenen Sporen in einer Wolke verteilen. Doch Nichts war geschehen.

Herl lachte über Kerons verstörtes Gesicht auf. „Schwierigkeiten mit dem Verschluss?“ Er lehnte sich über den Tisch und nahm ihm die Schachtel aus der Hand. Er betrachtete sie im Licht des hinter ihm befindlichen Fensters.
„Richtig, so heißt das Mädchen“, sagte er, halb vom Studium der Schachtel abgelenkt. „Und wer am meisten bietet, der bekommt es.“ Er fing an, an dem Behälter zu drücken und zu ziehen. „Komm schon ... aha ...“ Er klappte den Deckel auf.

Es klang wie ein heiseres Husten, als die Ladung explodierte. Keron hatte schon befürchtet, auch der zweite Mechanismus, der durch das Öffnen ausgelöst werden sollte, könnte versagen, doch jetzt war der gesamte Raum von den grau schimmernden Sporen erfüllt. Auch hatte der Knall ihn wieder zum ursprünglichen Plan zurückgebracht, den er durch seine Fragerei wieder einmal gefährdet hatte. Beherrscht zog er das Fläschchen aus seiner Tasche, zog den Korken heraus und trank sie in einem Zug leer.

„Was soll das!“, schrie ihn Herl an. „Eine Eurer blöden Sicherheitsmaßnahmen?“
„Nein, das ist von Sylissa.“ Ihm wurde schlagartig übel. Irritiert sah er zum Fenster, in dessen Licht die Sporen wild herumwirbelten.
„Sylissa? Du meinst Sylissa, die Zauberin? Die ist tot. Verstehst du! Tot!“
„Sie ...“, stammelte Keron und rutschte vom Stuhl.

Herl sprang hoch. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. Einer seiner Männer blickte fragend in den Wagen.
„Was ist passiert?“, fragte der Mann.
„Raus!“, schrie Herl ihn an und eilte zur Tür. Er riss sie dem verblüfften Mann aus der Hand und schlug sie krachend zu. Dann wirbelte er herum und kniete sich neben Keron auf den Bretterboden. Mit einem geübten Griff an den Hals stellte er fest, dass er bewusstlos war. Hastig durchsuchte er dessen Taschen, fand aber nur einige malunische Kupfermünzen, die er wütend in eine Ecke warf. Er hob die Schachtel vom Boden auf. „Neumodischer Bombenkram“, fluchte er vor sich hin. Er lachte. „Aber so leicht geht es nicht.“ Er fing an, sie genauer zu untersuchen.

Es war eine aufwendige Konstruktion. Von außen war es eine dieser gewöhnlichen kleinen Kistchen, in denen Tabak verkauft wurde. Doch im Inneren befand sich ein zweiter Behälter, der völlig aus Eisenblech gefertigt war. Er hatte oben einen an Scharnieren befestigten Deckel, der aufgeklappt war und ein Ballon aus Leder quoll aus ihm heraus. Es sah aus, als wenn dieser Ballon sich mit einem Schlag aufgeblasen und dadurch den Deckel aufgedrückt hätte. Herl lachte wieder, allmählich wich der Schreck von ihm. Keine Frage, eigentlich hätte der Druck den Behälter in Splitter zerlegen sollen, die ihn Gesicht und Hals zerschneiden sollten. Das war typisch für die Agenten der Fürsten: Verliebt in komplizierte Spielereien zu sein, wo ein simpler Pfeil aus dem Hinterhalt völlig genügen würde. Er drehte die Schachtel um, und polternd fiel der innere Behälter auf den Tisch. Ein gefaltetes Stück Papier segelte hinterher.

Herl starrte auf das Papier. Es war sorgfältig gefaltet, geradezu pedantisch, wie er es nur von einem Menschen kannte: Sylissa. Zögernd nahm er es auf und entfaltete das Blatt. Die vertraute Handschrift ließ den letzten Zweifel schwinden:


Lieber Askar,
wenn alles so ablief wie geplant, dann hast du dich soeben mit Geposporen infiziert. Wir haben uns früher manchmal darüber unterhalten, wenn es uns nach einem gemeinsamen Grusel zumute war. Erinnerst auch du dich noch an unsere Unterhaltungen? Dir hat an diesen Sporen immer gefallen, dass man sie einatmet. Und mir, dass nur Zauberinnen ein Gegenmittel herstellen können.
Vielleicht solltest du diese seltene und empfindliche Art nicht so leichtfertig ermorden lassen. Und wenn doch, dann wenigstens erfolgreich.
Eigentlich sollte ich dich verrecken lassen, aber mir ist mein Leben wertvoller als Deines. Ich will nicht von den Menschen gejagt werden für Verbrechen, die ich nie begangen habe. Daher verlange ich von dir das Mädchen, damit ich es zurückgeben kann. Bringe es zu mir, und du bekommst das Gegenmittel.
Der Bote kann dir nichts verraten. Er hat eine Droge genommen, die ihn zuerst ohnmächtig und dann völlig teilnahmslos macht. Sie wirkt länger als die Geposporen bräuchten, um dich zu töten.
Östlich von deinem Lager befindet sich ein großer Hain. Einer deiner Männer soll den Boten zu ihm bringen. Wenn das geschehen ist, werde ich dich dort erwarten, um den Austausch durchzuführen.
Tricksereien würde ich mir an Deiner Stelle verkneifen. Ich würde sie bemerken und dann verlieren wir Zeit. Genauer gesagt verlierst du deine Zeit. Geposporen wirken langsam, aber sicher. In wenigen Stunden werden deine Fingerspitzen anfangen zu kribbeln. Wenn man dann etwa einen Tag später erblindet ist, bleiben vielleicht noch zwei weitere, aber reichlich unangenehme, Tage. Das wünsche ich Niemandem, auch dir nicht.
Askar, warum musste es so weit kommen?
Sylissa


Totenblass ließ Herl das Blatt sinken. Er kannte Sylissa zu gut, um nur eine Sekunde an der Wahrhaftigkeit des Textes zweifeln zu können.
„’Lieber Askar ...’ Du heuchlerische Hexe“, presste er durch seine Zähne. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, einmal, zweimal, dreimal.
„Dreckiges Weib! Rachsüchtige Hexe! Man sollte dich pfählen und häuten!“
Unbeherrscht warf er den Tisch um. Das Krachen und Scheppern verschaffte ihm Erleichterung, seine Gedanken kehrten zurück zum Problem. Zuerst öffnete er die beiden Fenster und sah zu, wie die Sporen auf dem Raum geweht wurden. Dann hob er die Schachtel auf und strich mit dem Finger über seine Innenseite. Im Licht glänzte seine Fingerkuppe in einer nie zuvor gesehenen, aber in einigen Berichten beschriebenen Weise. Er leckte er mit der Zunge darüber, und der als moderig beschriebene Geschmack brachte die letzte Gewissheit. Eine tief empfundene persönliche Bitterkeit erfüllte ihn. Er drängte sie in den Hintergrund und sank mit einem ärgerlichen Schnaufen auf seine Bank zurück. Ungewollt horchte er in sich hinein. Kribbelten die Fingerspitzen bereit? Er schalt sich einen Narren. So schnell würde es nicht anfangen. Doch es blieb ihm dennoch keine Zeit.
Gut, Sylissa, gut. Diese Runde mag an dich gehen, aber irgendwann kriege ich dich.

Entschlossen stand Herl auf und ging zur Tür. Er stieß sie auf und wartete ab, bis der Wind die letzten Sporen aus seinem Karren geweht hatte. Dann packte er Keron unter die Achseln und zog ihn heraus. Zwei seiner Männer sahen ihm dabei neugierig zu, darunter jener, der ihn vorhin gestört hatte. Sie wagten aber nicht, zu fragen.

Herl ließ Keron auf den sandigen Boden vor der Stiege zu seinem Wagen sinken. „Fasom! Samos! Los, kommt her!“, rief Herl den Männern zu.
Die Beiden kamen näher.
„Ist das der Unterhändler?“, fragte Fasom jetzt. „Was ist mit ihm los?“
„Er wollte mich mit einer Droge hereinlegen.“ Herl zwang sich zu einem Grinsen. „Doch ich habe unsere Becher vertauscht und ihn das eigene Zeug trinken lassen. Macht ihn mit einem Eimer kalten Wassers munter, dann bringt ihn zum Hain im Osten.“ Er sah Fasom und Samos streng an. „Dort sollen seine Verbindungsleute warten. Ich will wegen dieses Blödmanns nicht die Verhandlungen gefährden. Also lasst ihn in Ruhe und meidet auch die Anderen. Nur hinbringen, ablegen und dann sofort zurück zum Lager. Ist das klar?“
„Ja, Askar“, antwortete Fasom verunsichert. Er blickte an Herl vorbei in dessen offenstehenden Wagen.
„Wir bekamen Streit, als er die Vertauschung bemerkte“, sagte Herl. „Daher auch der Lärm.“
„Ach so war das.“ Fasom nickte langsam. „Gut, wir bringen den Unterhändler zurück.“

Herl sah zu, wie Samos Wasser über den Fremden kippten. Der zuckte zusammen und schlug prustend die Augen auf. Niemand lacht!, dachte Herl und sah mit unbewegtem Gesicht zu, wie sie den Mann vom Boden hochzogen. Wie einen Betrunkenen mussten sie ihn an den Armen nehmen und mit sich ziehen. Fluchend über dessen Teilnahmslosigkeit schritten sie davon in Richtung des Hains. Herl schätzte, dass sie etwa eine Stunde mit dieser Last benötigen würden. Das sollte für seinen Plan genügen. Er ging zurück zu seinem Wagen, holte eine Flasche aus einem kleinen Wandschrank und ging zu Farahs Wagen.

Lediglich die ersichtlich hastig zugenagelten Fenster hoben Farahs Wagen von den anderen ab. Herl sah sich sichernd um. Wie erwartet war Niemand zu sehen, seine Leute waren entweder fort oder auf Wache. Er nahm den Schlüssel von seinem Gürtel und sperrte ein schweres Schloß auf, das die Tür zusätzlich versperrte. Aus dem Inneren schlug ihm eine Wolke schlechter Luft entgegen, die ihn würgen ließ. Wie konnte ein Mensch nur so schnell so viel Gestank erzeugen, fragte sich Herl.

Das Mädchen kauerte wie immer in der gegenüberliegenden Ecke, die Knie fest mit beiden Armen an den Körper gepresst. Nur kurz blitzten ihre Augen auf, warfen ihm einen ängstlichen Blick zu, dann senkte sie wieder ihren Kopf. Er trat näher, zog die Flasche aus der Tasche und tröpfelte etwas von ihrem Inhalt auf ein Taschentuch. „Ich bring dich hier weg“, sagte er. „Dazu musst du schlafen, Kleine. Es wird nicht weh tun, das verspreche ich dir.“
Farah sah auf, und Herl glaubte, sie wäre seit Monaten in Gefangenschaft und nicht erst seit zwei Tagen. „Wo ist Keron?“, fragte sie mit einem Schluchzen.
„Keron? Wer soll das sein?“
„Mein Vater. Lass ihn zu mir. Bitte!“ Sie fing an zu weinen.

Herl starrte das Mädchen an. Es sah sie zum ersten Mal weinen, seit er es entführt hatte. Er stopfte das sein Taschentuch zurück in die Hosentasche und hob das Kind vom Boden hoch, wobei ihre Fußkette leise klirrte. Es wehrte sich nicht gegen seinen Griff, im Gegenteil, einer der kleinen Hände krallte sich Halt suchend in den Stoff seines Hemdes. Herl wollte es in einem Impuls an näher sich ziehen, ließ es dann aber doch sein. Stattdessen versuchte er zu lächeln, was ihm misslang. „Ich will dir nichts böses, Kind. Vielleicht verstehst du eines Tages, weshalb ich dich eingesperrt habe“, sagte er mit rauer Stimme.
Farah ließ sein Hemd los und blickte an ihm vorbei. Schließlich stellte er sie auf ihre Beine und zog das Tuch erneut aus der Tasche.
„Ich will nur deine Angst betäuben“, sagte er und presste ihr das Tuch auf das Gesicht. Ihr entsetzter Blick ließ seinen Griff verkrampfen, hart gruben sich seine Hände in ihren Arm, bis der kleine Körper endlich erschlaffte. Mit einer Verwünschung legte er Farah auf den Boden und öffnete ihre Fußkette. Er zögerte, als er den blutig aufgescheuerten Knöchel sah, kopfschüttelnd strich er mit einem Finger über ihn. Seine Züge verhärteten sich wieder, und mit einem Ruck hob er Farah auf, um sie aus dem Wagen zu tragen.

Im Hintergrund des Lagers stand unverändert jener Handkarren mit der Holzkiste, in der er das Kind versteckt und hierher verschleppt hatte. Herl legte Farah wieder hinein und verschloss den Deckel. Erneut blickte er sich sichernd um, dann packte er die Karrengriffe. Es würde ein anstrengender Weg werden, zumal er einen Umweg nehmen musste, um nicht seinen eigenen Leuten zu begegnen.
 



 
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