Die Briefträgerin

Gerrit

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Ich war zu Besuch, wieder einmal, wie etwa zwei bis drei Mal im Jahr. Ich drehte meine übliche morgendliche Runde. Nach dem ersten Kaffee zog es mich immer raus, erst draußen fing für mich der Tag richtig an, weswegen ich Homeoffice auch nicht besonders mochte, zumindest nicht, wenn ich keinen Garten hatte, in den ich mich eine Weile setzen konnte. Außerdem rauchte ich dabei „heimlich“. Die Briefträgerin kam mir auf ihrem Rad entgegen, sie stieg ab, zu einem Briefkasten am Zaun gehend. Dabei schaute sie, wie mir schien mit Absicht, angestrengt an mir vorbei. Ohne meine Brille sah ich trotz der recht geringen Entfernung ihr Gesicht nicht richtig, aber ihre blonden Wuschelhaare erregten sofort meine Aufmerksamkeit, war dies doch der Reiz, auf den ich immer ansprang. Ich blieb stehen, um mir eine Zigarette zu drehen – zumindest sagte ich mir das – aber blieb ich wirklich nur deswegen stehen? Ich schaute – oder starrte? – in ihre Richtung, mir wie üblich einredend, ich wolle ihr nur ins Gesicht schauen, herausfinden, ob sie hübsch sei, ob sie „in Frage käme“. Auf dem kurzen Stück zurück zu ihrem Rad sagte sie dann „Guten Tag“, wie auch ich, dann fuhr sie in die eine Richtung weiter und ich ging in die andere davon. Sie schenkte mir kein Lächeln – und ob ich sie nun hübsch fand, oder nicht, hatte ich auch nicht herausgefunden.

Doch mich beschäftigte diese eigentlich nebensächliche kurze Begegnung anschließend sehr. Hatte ich sie nicht, durch mein Stehenbleiben und Glotzen, fast dazu gezwungen, mir einen „Guten Tag“ zu wünschen? Sie trug schließlich eine Uniform, war eine quasi öffentliche Amtsperson und nicht privat unterwegs, somit einer anderen Erwartungshaltung unterworfen, der, mich als potenziellen „Kunden“, zur Kenntnis zu nehmen, zu begrüßen? Und war mein Verhalten dann nicht fast aggressiv zu nennen? Hey, schau nicht an mir vorbei, nimm mich wahr! Ich habe Interesse an dir, du schuldest mir ein bisschen Aufmerksamkeit – in der Art? Aber wenn ich wirklich ihre Aufmerksamkeit wollte, warum glotzte ich sie dann so blöde an, wartete darauf, dass sie mich wahrnahm, statt einfach selber „Guten Tag“ zu sagen? Das wäre zwar vielleicht noch aggressiver gewesen, jedenfalls offensiver, andererseits hätte es als „nette Geste“ vermutlich auch weniger bedrohlich gewirkt?, oder nicht?

Ich sah sie in den nächsten Tagen nur noch einmal, nur aus der Ferne. Sie schaute – wieder mit Absicht? – nicht in meine Richtung.
 



 
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