Die Bruderschaft

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Sam_Naseweiss

Gast
Die Bruderschaft

Samstag, der 24. April 2034, es ist Herbst - es ist immer Herbst.

Heute morgen ging ich an dem Schaufenster eines Reisebüros entlang: "Es ist noch Urlaub da!" war dort zu lesen - das öffnete mir die Augen.

Aber ich greife vor.
Nun, ich werde euch erzählen wie alles anfing.

Mit dem Verfall der letzten kommunistischen Staaten konnte sich der Kapitalismus nun frei entfalten, zum Wohle aller.

Von seinem Widerpart entledigt, wurde er zu einem Staatssystem ohne Namen, wozu sollte man ihn noch Kapitalismus nennen - es gab kein anderes nennenswertes Staatssystem mehr, von dem man ihn durch eine Namensgebung hätte abgrenzen müßen.

Alle anderen Ländern mußten sich politisch und kulturell dem "kapitalistischen" Ideal anpassen, das heißt sie wurden multikulturell, relativistisch und demokratisch - Kriege gab es nun keine mehr, da sie wirtschaftlich nicht mehr tragbar waren - in einigen kleinen Ländern gab es zwar immer wieder Kriege, wie es in den Nachrichten zu sehen war, diese waren jedoch nur möglich, weil einige Nationen noch sehr rückständig und vor-"kapitalistisch" waren.

Mein Name ist Isthar, zusammen mit meinen Kollegen wohne ich im Wohnsilo 72 gleich auf dem Fabrikgelände, wo ich arbeite. Die Fabrik stellt Waffen her, das meiste davon war für den Export bestimmt, zumindest die schweren Waffen, die leichteren Waffen wurden für den Systemschutz hergestellt.

Das Fabrikgelände ist sehr groß, es bildet eine riesige Stadt für sich und uns Arbeitern wurde es in der Regel nicht erlaubt, das Firmengelände zu verlassen.
Dies hatte seinen Grund, denn die Arbeiter in der Firma waren die letzten gewalttätigen Menschen in der modernen Gesellschaft und Gewalt ist wirtschaftschädigend. Die modernen Staatssysteme konnten ihren Steuerzahlern die hohen Kosten nicht mehr zumuten, die mit der Bekämpfung von Verbrechen verbunden waren.

Der Segen der Gentechnik erlaubte es der modernen Menschheit, perfekte und gesunde Mitglieder heranzuzüchten, die "Perfekten", wie die Kinder der Gentechnologie genannt wurden.
Jenen irdischen Engeln standen alle Türen offen - gute Ausbildung, gute Jobs, und wohlgestaltete Lebenspartner.
Leider gab es immer wieder einige "romantische Spinner", die Kinder auf "normalem" Wege hervorbringen wollten - dies führte jedoch zur Geburt von "unnormalen" Kindern, die den "Perfekten" in nahezu allen Bereichen völlig unterlegen waren.
Doch in dem neuem Staatsystemen gab es keine Unterdrückung und Ungerechtigkeit mehr, auch die "unnormalen" Kinder konnten die Schule besuchen und eine berufliche Karriere anstreben. In der Praxis zeigte sich jedoch, daß sie mit den "Perfekten" nicht mithalten konnten und sich ihre Frustration darüber nur allzuoft in Gewalt gegenüber ihren Mitschülern äußerte, so daß sie bald in besonderen Schulen untergebracht wurden.

Später ging man dazu über, solche Kinder gleich in abgesonderte Schulen zu bringen.
Gentechnologie war für die Einkommensverhältnisse eines "Unnormalen" zu teuer, so daß "unnormale" Menschen auch wieder "unnormale" Kinder zeugen mußten.
Die einzigen Jobs, die man uns anbot, waren die Jobs in der Fabrik, für andere Tätigkeiten waren die Ansprüche zu hoch, wir besaßen nicht die nötige Ausbildung und unsere psyschologischen Gutachten disqualifizierten uns ebenfalls. In der Fabrik arbeiteten nur "Unnormale".
Die Fabrik war alles, so groß die Unterschiede zwischen "Perfekten" und "Unnormalen" auch war, die Fabrik verband alle miteinander.

Die einzelnen Fabriken waren Teil eines Konzernes und dieser Teil eines Wirtschaftsverbundes usw. Innerhalb der Fabrik gab es eine hierarische Abstufung, einige wenige hatten direkten Kontakt mit der Verwaltung, die gänzlich aus "Perfekten" bestand.
Diese Priviligierten bildeten die soziale Oberschicht der "Unnormalen", sie übten die Organisationsgewalt innerhalb der Fabrik aus. Von ihnen ging die hierariche Abstufung hinab bis zum einfachsten Arbeiter.

Es war keinesfalls so, daß die Arbeiter in der Fabrik Hunger leiden mußten. Nein, es gab genug zu essen, jeder hatte sein eigenes Auto, eine Wohnung und es blieb immer noch genug Geld übrig für Zertreuung und Unterhaltung. Die schönste Sache, die man sich leisten konnte, war ein Urlaub, eine Reise in ein fernes Land, wo man sich an speziellen abgesonderten Stränden oder Plätzen erholen konnte. Solche Reisen waren jedoch sehr teuer.

Es gab natürlich immer wieder einige Spinner unter den "Unnormalen", die dem System "Ausbeutung und Unterdrückung" vorwarfen, aber es waren nur wenige. Die Spinner nannten sich selbst "Die Bruderschaft".
Sie waren Produkte des Überflußes - zuviel Freizeit, da kommt man halt auf solche Gedanken, dachte ich immer, wie die anderen auch. Hin und wieder wurden Maschinen sabotiert, Anschläge auf die Wachtürme und Zäune unternommen, die uns von den "Perfekten" trennten. Einigen wenigen mußte es wohl gelungen sein, die Fabrik zu verlassen, denn es gab auch Anschläge auf Politiker und besonders angesehene "Perfekte". Das war ein besonders schlimmes Vergehen, denn die Angesehensten unter den "Perfekten" waren dank Gentechnik nahezu unsterblich, da es mittlerweile gelungen war, das Gen, welches für den Alterstod verantwortlich ist, zu isolieren und zu manipulieren. Solche Menschen konnten nur durch Krankheit oder Unfälle sterben. Zu ihrem Schutz hielten sie sich lebende Organbanken, geklonte Replikate ihrer selbst, jedoch aus ethischen Gründen hirnlos.

Einige Parteien forderten daher eine effektivere Abschottung der "Unnormalen", eine Kontrollsteuer sollte die dabei anfallenden Kosten decken. Da die "Unnormalen" für diese Kosten verantwortlich waren, sollten auch nur wir von den Steuern betroffen sein. Dafür hassten wir die "Bruderschaft".
Hin und wieder wurde einer dieser Wirtschafts-Schädlinge gefaßt, manchmal, wenn sie Gegenwehr leisteten und sich die zuständigen Systemschützer bedroht fühlten, wurde auch einer von ihnen erschossen.

Man könned sich nie ganz sicher sein, wer zur "Bruderschaft" gehöre, und solle Auffälligkeiten bei den Arbeitskollegen beobachten, wurde man aufgefordert. Ich dachte immer, der ganze Aufstand um die Bruderschaft wäre übertrieben, aber ich irrte mich.
An der Maschine neben mir arbeitete seid drei Monaten ein neuer Kollege. Er schien sehr unauffällig, doch eines Tages kamen 3 Männer vom Betriebsschutz und ein Sonderkommando vom Systemschutz. Kaum hatte der Mann diese erspäht, ergriff er auch schon die Flucht, doch der Systemschutz konnte ihn aufhalten.
Nachdem man seine Leiche durchsucht hatte, fand man eine Keramikwaffe - die einzige Möglichkeit, Waffen unbemerkt in Besitz zu bringen und irgendwo einschleusen zu können.
Ein paar Tage später erschoßen sie auf dem Hof einen weiteren Anhänger der Bruderschaft, so denke ich zumindest - wenn keine Gefahr bestanden hätte, wäre er nicht erschossen worden.

Dieses Ereignis brachte mich zum Grübeln und heute morgen sah ich das Schild in dem Reisebüro.

Ich dachte nach, und ich fragte mich, ob das System für uns da ist - ob es dem Einzelnen nützt, denn das war doch der Kernsatz der "Neuen Systemordnung", wie es die Politiker nannten.
Der Egoismus des Einzelnen, in bestimmte Bahnen gelenkt, würde letztendlich dem Gemeinwohl zu Gute kommen. Ein Geschäftsmann gründet eine Firma - er will möglichst viel verdienen, er stellt Mitarbeiter ein - diese profitieren daher vom "Egoismus" des Geschäftsmannes.
Andere Geschäftsmänner machen dem Geschäftsmann Konkurrenz, die Produkte werden billiger und daher für die Gesamtheit erschwinglicher. Das Gemeinwohl steigt.

Auf dem Schild stand: "Es ist noch Urlaub da!" Also ist Urlaub auch eine Ware - alles ist eine Ware, und wir selbst - wir sind nur Konsumenten innerhalb des Wirtschaftssystem, nur interessant als Zielgruppe für den Absatz irgendwelcher Produkte. Erfüllen wir diese Funktion nicht mehr, sind wir nur noch Ballast für die Wirtschaft, Kosten für den Steuerzahler, dessen Einkommen durch uns geschmälert wird.

Dennoch haßte ich die Bruderschaft, Gewalt kann keine Lösung sein. Ich schrieb meine Gedanken nieder und veröffentlichte sie im Internet. Das war vor 8 Stunden, nun sitze ich im Untersuchungsraum der lokalen Abteilung für Systemschutz. Vor drei Stunden wurde meine Wohnung durchsucht, mein Computer und sämtliche Datenträger einbezogen. Systemfeindlichkeit und die Verbreitung von radikalen Theorien, wirft man mir vor.
Ich werde meine Arbeit verlieren, meine Wohnung und wenn ich recht bedenke, könnten sie mich einfach erschiessen. Die anderen würden denken, das wird schon seinen Grund haben, daß er erschossen wurde, vielleicht hatte er eine Waffe oder wollte flüchten. Solange sie immer nur einen Einzelnen aus der Masse der "Unnormalen" herausgreifen, werden die anderen immer denken - der wird es schon verdient haben.

All dies schreibe ich auf ein Stück Papier. Im Moment ist niemand mit mir im Raum, wahrscheinlich wird gleich jemand kommen um mich zu verhören. Ich falte das Papier zu einem Flieger und laß ihn zwischen den Gitterstäben hindurch nach draußen fliegen - in die Freiheit, die ich vielleicht nie wieder erlangen werde - wenn ich sie denn je besaß.

Isthar
 

Renee Hawk

Mitglied
Hi Sam,

ich habe es verschlungen, es war spannend und fantastisch. Die Erzählung hat mir vor Augen geführt, was mal aus uns werden kann. Gute Geschichte.
Ich hoffe das Isthar seine Freiheit erhält und als Gründer der Bruderschaft in die Geschichte eingehen wird *zwinker*

Gruß
Reneè
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

gut geschriebene geschichte. man bekommt direkt angst, es könnte wirklich mal so werden! mach mal so weiter. lg
 
S

Sam_Naseweiss

Gast
Hallo ihr zwei,

vielen Dank für euer Lob!

Ich habe das Gedicht schon vor einer Weile geschrieben.
Ich denke, wenn man die gegenwärtige Entwicklung betrachtet, dann ist durchaus möglich, daß es so oder ähnlich kommen kann.


Gruß
Sam
 

La Luna

Mitglied
Hallo Sam,

eine spannend erzählte Geschichte hast du uns hier präsentiert.
Je öfter ich sie lese, desto mehr wird Fiktion zur Realität.
Unter dem Gesichtspunkt des gentechnischen Forschungswahns weist du klar auf die Gefahren hin, doch bezieht man die "Unnormalos" auf derzeit bestehende Randgruppen, zeigt sich sehr schnell, dass dein Werk zeitrealistische Züge besitzt.


with compliments....:eek:)

Julia
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Spannend

…erzählt. Mir gefiel vor allem, wie glaubwüridig du dargestellt hast, dass der Protagonist der Propaganda glaubt(e). Darin aber gründet sich mein Problem mit dem Schluss: Auch wenn acht Stunden lang sind – wer so denkt/fühlt, begreift nicht so schnell, dass er Propaganda aufgesessen war. Wenn er aber schon vorher zweifelte, müsste der erklärende Text (an)zweifelnder sein. Mal davon abgesehen: Wem zu Geier erklärt er die Entwicklung eigentlich? Wer immer den Kassiber bekommt – der lebt doch in dieser Welt, die der Typ da beschreibt (er hätte sich also die Arbeit sparen können, so viel Info auf einen einzelnen Zettel (in Micro-Schrift?) zu notieren.) Es ist schon ein Kreuz mit den Zeigefinger-Texten – sie sind wirklich schwer durchgehend schlüssig zu schreiben. Trotzdem: Die Konstruktion dieser Welt-Entwicklung ist erfrischend strigent und erschreckend möglich.
 



 
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