Die Bücherstube

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Tim van Laan

Mitglied
Die klirrende Kälte ließ sie schaudern. Und obwohl der Reißverschluss ihres Anoraks schon am Anschlag war, versuchte sie ihn noch ein paar Millimeter nach oben zu ziehen. Eigentlich hatte der Frühling schon begonnen, am letzten Dienstag hatten die Eisdielen geöffnet und die Stadt war völlig überfüllt gewesen mit tobenden Kindern, lächelnden Erwachsenen und dem hektischen Treiben des Marktes. Auch die Familien aus den umliegenden Dörfern waren in die Stadt gekommen, alles war erwacht.

Doch jetzt war es sieben Uhr morgens, aus dem Osten pfiff kalter Wind durch die Straßen, und Frau Röserling beobachtete einen jungen Mann im Anzug dabei, wie er seine Autoscheiben freikratzte. Durch den kleinen Spalt zwischen ihrer Wollmütze und dem Anorak, den sie nun fast bis zur Nase hochgezogen hatte, konnte sie erkennen wie er fluchte und immer wieder gestresst auf die Uhr schaute. Sie nahm sich vor heute Abend ein Buch über Achtsamkeit und Zeitplanung in ihre Tasche zu stecken. Vielleicht würde sie den jungen Mann morgen wieder sehen, dann könnte sie ihm das Buch in die Hand drücken. Als sie bemerkte, dass sie stehen geblieben war und den Mann fast schon anstarrte drehte sie sich zur Seite und ging weiter. Nur noch einige Meter musste sie durch den dünnen weißen Film auf dem Gehsteig stiefeln, bis sie angekommen war. Röserlings Bücherstube stand auf dem weißen Drehschild an der roten Eingangstür mit den Glasscheiben darin. Den Eingangsbereich teilte sie sich mich einer Ohrenarztpraxis, doch wirklich Patienten in die andere Tür gehen sah sie nur selten. Sie hatte sich wenige Male mit dem Arzt unterhalten, er war ein schweigsamer Mann, zog sich gerne zurück und für Bücher schien er sich auch nicht zu interessieren.

Als sie die Tür öffnete, hörte sie die kleine Glocke über dem Eingang vertraut bimmeln. Sie klopfte die kleinen Schneeflocken von ihrer Kleidung und schüttelte die Kälte aus ihren Armen. Den Anorak hängte sie an seinen Platz hinter der Kasse und schlüpfte aus ihren Stiefeln und in die weinroten Pantoffeln, die neben der Tür bereitstanden. Dann blickte sie sich um, atmete drei Mal tief ein und aus und spazierte entspannt quer durch den Raum zu ihrem Schreibtisch auf der Etagere. In einem halben Achteck standen die Bücherregale um ihren Schreibtisch herum. Von ihrem Platz auf dem alten Holzstuhl mit den verzierten Lehnen und dem dunkelgrünen Daunenkissen konnte sie den ganzen Raum überblicken. Zu ihrer linken die Eingangstür, an dem das Schild hing, auf dem von innen geöffnet stand und das noch leicht hin und her schaukelte. Gleich neben der Tür begannen dann die Regale. Vom Boden bis zur Wand schlängelten sie sich an der Wand entlang durch den ganzen Raum. Einzig die Schaufenster hinter der Kasse und ein kleines Fenster zum Hinterhof ließen an guten Tagen ein wenig Sonnenlicht hineinstrahlen, ansonsten lehnte ein Buch an dem Nächsten. In allen Farben und Größen füllten sie den kompletten Raum aus und bildeten ein buntes Mosaik aus Wissen und Fantasie. Frau Röserling ließ ihren Blick über die Bücher schweifen und griff dann zu ihrer Lesebrille. Sie beeilte sich mit ihrer Arbeit, noch vor Ladenöffnung wollte sie die neuen Bücher bestellt und die gelieferten Exemplare kategorisiert haben. Sie blätterte durch Buchempfehlungen, rumpelte im Lager herum und räumte die Kassentheke auf. Pünktlich um 10 Uhr vormittags schlenderte sie dann über den weichen, blauen Teppichboden, drehte das Schild um und schloss die Tür auf. Dann ging sie wieder an ihren Schreibtisch zurück, schnappte sich einen druckfrischen Roman und vertiefte sich in das Leben der kleinen Anne-Marie zu Hofe im späten Mittelalter.

Der Vormittag verging ohne besondere Ereignisse. Sie beriet zwei Senioren zu Gesundheitsratgebern, bestellte ein Schulbuch für eine sehr motivierte junge Mutter, verkaufte einem Mann mittleren Alters gleich drei Bücher über den kalten Krieg und einer jungen Studentin Bücher von Bregmann und Marx. Schließlich schloss sie die Kasse ab und stapfte über die Straße. Der Schnee war längst zu Matsch geworden und die Autos hatten ihn in der Gosse zusammengeschoben. Statt dem schönen Knirschen von heute Morgen unter den Schuhen hörte man jetzt nur noch ein leises Platschen bei jedem Schritt. Auf der anderen Straßenseite überquerte sie einen kleinen Parkplatz und betrat ein kleines Lokal, das von der Straße fast verborgen am Ende des Parkplatzes lag und an die Bahnschienen grenzte. Frau Röserlings ganz persönliches Café am Rande der Welt. Dort grüßte sie die Inhaberin hinter der Theke und ließ sich, wie jeden Mittag, an dem Platz neben der Scheibe links vom Eingang nieder. Wenig später betrat auch Flo das Bistro, schmiss seinen Schulranzen auf den Boden und setzte sich Frau Röserling gegenüber an den Tisch. Jeden Mittag trafen sie sich hier, bestimmt schon zwei Jahre. Eines Tages war Flo in die Bücherstube gekommen und hatte gefragt, ob er ein Buch haben könne. Geld habe er nicht, seine Mutter wolle ihm keines geben, aber das Lesen in der Schule habe ihm so viel Spaß gemacht. Er wolle über Ritter lesen und über Drachen und er habe von verrückten Orten auf der Welt gehört, über die er mehr wissen wolle. Schenken könne sie ihm die Bücher nicht hatte Frau Röserling gesagt, aber leihen könne er sie. Er hatte ihr so leidgetan. Keine 12 Jahre war er damals alt gewesen, in den ausrangierten Kleidern seines Cousins wirkte er noch kleiner als er es war, und die Sorge trug er schon damals in seinen Augen. Nach einigen Tagen stand der Junge plötzlich wieder im Laden und tauschte das Buch gegen ein Neues. Bald kam er jeden Tag, um in den Büchern herum zu schnüffeln und sich unzählige Klappentexte anzuschauen. Manchmal ließ er sich auf dem Sitzsack an dem Fenster zum Hof nieder und verschwand stundenlang in den Geschichten. So friedlich sah er dann immer aus und in dieser Zeit verschwand auch der Schwermut aus seinem Blick. Irgendwann hatte Frau Röserling ihn mit in das Bistro genommen und ihm das Mittagessen bezahlt. Nach einigen Wochen saßen sie jeden Mittag zusammen, aßen und sprachen über die Geschichten, die der Junge las. Er nahm sie mit in seine Welten, ließ sie mit ihm im Zeppelin über die Alpen fliegen, watete mit ihr durch die Schützengräben und zähmte für sie den Drachen von Montegau.

Er teilte sein Leid mit ihr und seine Freuden. Immer sprach er in Geschichten. Oft fiel es Frau Röserling schwer ihm zu folgen, weil er all seine Probleme in fremde Welten bettete. Ihn ärgerte nicht sein Lehrer, der die Hausaufgaben forderte, viel mehr berichtete er von seinem König, dem er den Bericht über die eingetriebenen Steuern vorlegen musste. Er löste mathematische Gleichungen in der Badewanne des Archimedes und lernte Englisch mit Shakespeare. Mit der Zeit verlor er sich in Tagträumen und erzählte von seinen Plänen nach der Schule. Er wollte um die Welt reisen, er wollte andere Welten entdecken und er wollte Literatur studieren. Häufig saß er mittlerweile in seiner Ecke, bis der Laden schloss und es gab Tage, da wusste er nicht mehr, was er lesen sollte, weil er schon alle Geschichten kannte.

Frau Röserling genoss ihren jungen Zeitgenossen. Er störte sie nicht bei ihrer Arbeit und trotz der fast 60 Jahre, die zwischen ihnen lagen, fühlte sie sich ihm sehr nahe. Sie erwartete keine Gegenleistung von ihm, bloß die Gespräche jeden Mittag und die Träume und Naivität des mittlerweile gar nicht mehr so kleinen Jungen.

Eines Tages kam Flo ins Café und schob wortlos zwei Zettel über den Tisch. Traurig blickte er über den Tisch und Frau Röserling erkannte ein Zittern in seinem Arm. Der erste Zettel war sein Abschlusszeugnis. Der andere Zettel hatte festeres, etwas gelbliches Papier und auf dem Briefkopf war ein blaues Logo zu erkennen. Sie kannte diese Uni und sie wusste, wo sie lag. Bei all den Gedanken, die ihr in letzter Zeit durch den Kopf gegangen waren, war sie nie auf die Idee gekommen, dass Flo sie verlassen könnte. Sie war immer davon ausgegangen, dass er für immer in seiner Ecke sitzen und lesen würde. Er gehörte zur Bücherstube und die Bücherstube zu ihm. Es war der Moment in dem Frau Röserling einen Entschluss fasste.

Es war ein warmer Sommerabend als der Tag gekommen war. Drei Bücher hatte sie zusammengeschnürt mit einer roten Schleife darum. Als Proviant stand in ordentlicher Handschrift auf dem kleinen gelben Zettel, der lose an dem Band baumelte. Sie übergab sie an Flo, nahm ihn ganz fest in den Arm und wünschte ihm alles Gute. Er solle sich melden, wenn er angekommen sei, er solle an Sie denken und er solle sie besuchen, sobald er es schafft. Höflich bedankte er sich, wischte sich die Tränen aus den Augen und lief zur Bushaltestelle. Wenige Momente später fuhr er ein letztes Mal von der Bücherstube fort. Frau Röserling wartete, bis sie den Bus nicht mehr sehen konnte, schloss die Tür und dreht den Schlüssel herum. Leise knatschte das alte Schloss und übertönte das Schweren Seufzen in ihrem Atem. Sie drehte sich zur Straße und machte einen Schritt nach vorn. Dann ließ sie den Schlüsselbund am Band über einem der Löcher des Gullis vor der Ladentür pendeln. Beim Ausatmen ließ sie den Bund los und er prallte mit einem Klirren auf den Rand des kleinen Loches, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Ein letztes Mal warf sie einen Blick auf ihre kleine Bücherstube, bevor auch sie zum Bus ging, um andere Welten zu entdecken.
 

Tim van Laan

Mitglied
Hallo zusammen,

Dieser Text hier ist der erste, den ich hier auf der Leselupe.de veröffentliche.
Ich freue mich entsprechend sehr über Rückmeldungen, Tipps und sonstige Anmerkungen von euch! :)

Liebe Grüße
Tim
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Tim,

ja dann mal herzlich willkommen!

Das ist ja mal ein guter Einstand! Du hast einen sehr schönen Stil, in dem man sich gemütlich einrichten kann. Das hätte ewig so weiter gehen können. Aber nein. Da kommt dann doch die Realität um die Ecke. Für meinen Geschmack ist die Pointe ein bisschen viel - und ein bisschen zu überraschend, aber das mögen andere anders sehen.
Ich halte Deine Protagonistin nicht für eine Person, die den Schlüssel ihrer Buchhandlung in den Gully wirft, so à la 'Nach mir die Sintflut' - dafür hast Du sie zu sehr im Einklang mit sich selbst geschildert - woher auch ein Teil des Reizes an der Geschichte kommt - für mich zumindest.
Aber schön geschrieben allemal!

Liebe Grüße
Petra
 

wirena

Mitglied
....ja, petrasmiles, da kann ich mich Deinen Zeilen nur anschliessen, schöne Geschichte, angenehm zu lesen und "Bumm" der Schluss - ein Schrecken - ob das gewollt ist in unserer Zeit, sozusagen ein "Abbild" - dazu müsste Tim Stellung nehmen, wenn er das will - Dichterische Freiheit m.E., die aber auch vorgeschlagene Änderung zulässt....

LG - wirena
 

Tim van Laan

Mitglied
Hallo Petra, Hallo wirena,

Danke für eure Rückmeldung!

Ich sehe es selber ähnlich, mit dem Schluss bin ich noch nicht zufrieden. Als ich die Geschichte vor ein paar Monaten geschrieben habe, wirkte er auf mich wie ein runder Abschluss. Als ich sie aber gestern beim Hochladen selber nocheinmal durchgelesen habe, schien mir das Ende dann doch auch ein wenig plumb. Daran werde ich noch arbeiten müssen :)

Beste Grüße
Tim
 

wirena

Mitglied
Hallo Tim

. Als ich die Geschichte vor ein paar Monaten geschrieben habe, wirkte er auf mich wie ein runder Abschluss. Als ich sie aber gestern beim Hochladen selber nocheinmal durchgelesen habe, schien mir das Ende dann doch auch ein wenig plumb
Das kenne ich nur allzu gut - ich erlebe sogar, dass ich eine Antwort hier für die Leselupe im Word schreibe, damit ich dann nur einkopieren kann - aber eben, denkste, wenn ich es dann hier so lese, kommen wieder Korrekturen - nicht immer, aber immer öfters :) denke, das ist das Los der "Schreiberlinge"

...ich wünsche Dir weiterhin viel Spass und Erfolg beim Schreiben und Lesen hier
LG wirena
 

Tim van Laan

Mitglied
denke, das ist das Los der "Schreiberlinge"
Absolut, ich glaube generell, das Texte nie fertig sind. Ich kann immer wieder neu über meine Texte gehen, oft lasse ich sie dann bewusst mal ein bisschen ruhen und gucke später wieder drauf um neue Perspektiven zu entdecken und Dinge abzurunden.

Und danke für die lieben Worte, dir auch weiterhin viel Spaß!

Meine nächste Geschichte "Belgische Sehnsucht" ist auch schon online und kommt zum Glück ganz ohne hartes Ende daher ;-)

Beste Grüße
Tim
 
Hallo Tim,

ich schicke voraus, dass ich die anderen Kommentare (noch) nicht gelesen habe, um mich nicht beeinflussen zu lassen.

Mir gefällt die Geschichte sehr, trotz kleiner Fehler (ich fange jetzt nicht an, akribisch flüchtig gemachte Rechtschreibungsfehler aufzuzählen), nur das Ende nicht. Das ist doch kein Grund, den Schlüssel wegzuwerfen ... Sie hätte doch mit der Bücherstube auch umziehen können, sogar in dieselbe Stadt, in der sich die Universität befindet.

Aber sonst - sehr hübsche Geschichte!

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Tim van Laan

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

Vielen Dank für dein Feedback!

Wei oben geschrieben, bin ich mit dem Ende auch noch nicht zufrieden. Einen Umzug der Bücherstube finde ich allerdings auch nicht wirklich passend. Für mich geht es in der Geschichte auch ein Stück weit um die Vergänglichkeit der schönen Zeiten und die Notwendigkeit, immer wieder etwas Neues zu beginnen. Daher habe ich mich bewusst dazu entschieden, dass der Lebensabschnitt der Bücherstube mit dem Fortgang des kleinen Jungen endet.

Beste Grüße
Tim
 

petrasmiles

Mitglied
Für mich geht es in der Geschichte auch ein Stück weit um die Vergänglichkeit der schönen Zeiten und die Notwendigkeit, immer wieder etwas Neues zu beginnen. Daher habe ich mich bewusst dazu entschieden, dass der Lebensabschnitt der Bücherstube mit dem Fortgang des kleinen Jungen endet.
Dahin sollte die Reise eigentlich gehen - interessant!
Und ein sehr sehr guter Plan. Ich habe in meinem Leben schon mindestens zweimal die Erfahrung gemacht, dass das Zurückgelassene nicht statisch weiter existiert. Ich hatte jeweils Situationen in einer Komfortzone für ein wichtigeres Ziel verlassen - teils mit wehem Herzen. Aber dann änderte sich etwas an der 'vermeintlichen Idylle' und wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich nicht nur mein eigenes Streben geleugnet, sondern auch den 'Niedergang' des vermeintlich Besseren erleben müssen.
Ich fürchte nur, so ganz ohne Introspektion der Protagonistin kann das nur schwer gelingen, denn das sind ja innere Prozesse, und entweder erzählt die Person dann einer dritten ihre Gedanken, oder Du gehst in ihren Kopf. In gewisser Weise machst Du das ja im vorletzen Absatz, aber es ist noch nicht genug. denn im Absatz zuvor stehen da Sätze wie 'sie hätte nie damit gerechnet, dass er sie eines Tages verlassen könnte' - das ist keine Haltung der Reflektion, dass sein Streben ihr eigens entzündet, sondern dass sie Verlust erlebt.
Und was auch gar nicht dazu passt, ist die Aufforderung an Flo, er solle sich melden und sie besuchen. Wo denn? Vielleicht könnte man in dieser Abschiedsszene einflechten, dass sie ihm sagt, er solle sich aber vorher anmelden, denn sie würde nun auch noch herausfinden wollen, was die Welt ihr noch zu bieten hat. Dann macht sie ihren Laden halt den einen oder anderen Tag zu, oder nimmt auch einmal eine Woche Urlaub. (Ob das realistisch ist und sie sich das überhaupt leisten kann, lassen wir mal außen vor.) Und so hat sie beides: Ihr gewohntes Leben und lockende Abenteuer - nur die etwas melodramatische Szene mit dem Schlüssel funktioniert dann nicht mehr - den man einer 60 + mindestens 19 (Flos Abireife) = 79jährigen nicht so ohne weiteres abnimmt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten