Die Büchse der Pandora

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Die Büchse der Pandora



Arkham, New England, Donnerstag den 23ten November 1911



Werter Jonathan,

wenn du diesen Brief in Händen hältst, bin ich schon weg, meinem neuen Pfad folgend. Es tut mir leid, dass das so plötzlich kommt, doch manchmal kann ein einzelnes Ereignis, wenn es einschneidend genug war, einen Menschen komplett aus der Bahn werfen, so wie es mich aus der Bahn geworfen hat. Da ich möchte, dass du mein Handeln verstehst, will ich dir etwas von meinem bisherigen Leben erzählen. Ich habe dir bis jetzt wenig über mich erzählt, doch das ändere ich hiermit. Ich denke, dass du meine Entscheidung dann etwas besser nachvollziehen kannst.

In meiner Kindheit bin ich sehr behütet aufgewachsen. Eine liebende Familie, zwar kein Reichtum, aber auch keine Armut. Doch war ich ein merkwürdiges Kind mit einer regen Fantasie, zu rege für meine Eltern, Lehrer und andere Kinder. Manchmal machte ich ihnen mit meinen Ausführungen Angst, als ob ich aus einem dunklen Reservoir unendlichen Wissens schöpfen könnte, oder ein höheres Wesen durch mich sprechen würde. Doch rein äußerlich und körperlich bin ich immer gesund gewesen, außer den gelegentlichen Fieberträumen, die mich in meiner späten Kindheit häufiger befielen, und meine Schulzeit verlief normal und erfolgreich. Nur andere Gleichaltrige mieden mich meistens, deswegen hatte ich auch nie wirklich Freunde.
Also verkroch ich mich stets in meinen Bücherwelten. Vor allem die Archäologie liebte ich sehr. Schon damals hatte ich ein Ziel vor Augen und bin unaufhörlich geradeaus darauf zugesteuert, ohne davon abzuweichen. Auch wenn mein Körper in letzter Zeit immer häufiger durch Krankheit schwächelte und es immer schwieriger wurde, meinen Studien nachzukommen. Dennoch fühlte ich mich mein Leben lang falsch, als wäre ich fragmentiert, als würde ich zwischen den Dimensionen kriechen und trotzdem war mir nie in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht einen anderen Pfad gehen könnte. Und so landete ich an der Archäologie-Fakultät der Miskatonic, zusammen mit dir.
Ich war dir gegenüber sehr verschlossen, doch habe ich dich von Anfang an sehr geschätzt. Ich betrachte dich als einen meiner besten Freunde, deswegen berichte ich Dir. Ich weiß zwar nicht genau, was real war und was nicht. Alles ist wie unter einer Traumkuppel verborgen und will sich nicht gänzlich offenbaren. Aber der Traum war realer als mein ganzes Leben zuvor. Ich bin realer als je zuvor.
In meinem Unterbewusstsein wusste ich stets, dass ich auf einer Bühne stehe. Ich hatte nur keine Ahnung von dem, was hinter dem Vorhang ist und wollte es auch nie herausfinden. Doch dachte ich oft darüber nach, einen Blick durch den Spalt zu riskieren. Ich dachte, kein Mensch wäre dazu in der Lage, die Wahrheit, die hinter allem Sein steht, zu verkraften. Den Horror der Unendlichkeiten, des Chaos. Alles, von dem ich in jenem schrecklichen Traum erfuhr, ohne bereit dafür gewesen zu sein. Doch muss ich dir von meinem Traum berichten, auch wenn ich nicht weiß, wie die Welt damit umgehen wird, oder du es verkraftest. Ich kann auch nicht wissen, ob es die richtige Zeit ist, um es der Welt zu offenbaren. Doch ist es Zeit für mich, die Wahrheit zu erzählen und die letzte Wahrheit zu finden. Ich kann nicht verhindern, dass mich die Gesellschaft verachtet oder mich einfach nicht versteht, mich gar für verrückt hält. Doch hoffe ich, dass wenigstens Du mir Glauben schenken wirst. Auch wenn es schwer zu begreifen ist, wenn man es nicht auf die Art erfahren hat wie ich. Also nimm meine Ausführungen bitte an.

Es war ein trister Morgen, als ich heute aufwachte. Der Regen fiel aus grauen Wolken auf eine graue Stadt. Der November schloss mich zu Hause ein, wie jeden anderen Arkhamer. Vor allem wenn er sich von dieser Seite zeigte, einer kalten und unerbittlichen. Nasser, eisiger Nebel brandete an den Fassaden, umfloss die Häuser und lechzte an den verschlossenen Türen nach Einlass in die dunklen Stuben, jeden Winkel erforschend. Doch noch trister als der allgegenwärtige Dunst vermochten wohl nur die Herzen der Arkhamer zu sein, deren Heimat eine Stadt war, deren geheimnisvolle dunkle Gassen in verbotene Realitäten führen. Nicht einmal der Kälte würden diese misstrauischen Leute ihre Geheimnisse offenbaren.
Ich fühlte mich wie gerädert. Ich war geschwächt vom Fieber, doch war es über Nacht abgeklungen und eine gewisse Klarheit umfing mich. Alles was ich versäumt hatte, musste ich nachholen, meine ganzen Aufgaben, die über meine Bettlägerigkeit hinweg liegen geblieben waren, wie meine Hausarbeit, die bis Januar fertig geschrieben sein musste. Ich zwang mich, einen dieser wenigen klaren Tage der letzten Monate zu nutzen, um die Fristen einhalten zu können. Mein Geist wollte das jedenfalls so, auch wenn mein Körper sich dagegen aufbäumte.
Ich schaute einige Minuten lethargisch aus dem Fenster in die Dämmerung, die langsam am unheilvollen Himmel aufzog und haderte mit mir. Gerade an einem der wenigen fieberlosen Tage, war die Stimmung noch bedrückender als sonst. Vielleicht, weil mein Verstand von Müdigkeit umfangen war. Müdigkeit hin oder her, ich musste dringend in die Stadtbibliothek, um mir ein Buch auszuleihen für meine Hausarbeit. Letzte Woche versuchte ich ein Exemplar zu leihen, doch waren schon alle ausgeliehen. Ich hatte nicht mehr allzu viel Zeit und musste mein Glück noch einmal versuchen. Das Buch erfreute sich einer verwunderlich großen Beliebtheit, jedenfalls bei so einem dubiosen Titel wie: „Die dunklen Artefakte New Englands“ Eines der wenigen Bücher über New Englands Archäologie, die ich noch nicht gelesen hatte. 1852 wurde dieses Werk von keinem Geringeren als Gwydion Lewis geschrieben. Du magst wohl nur seine großen Werke zur Archäologie New Englands kennen. Aber dieses Buch hat er während er dem Wahnsinn anheim fiel geschrieben, deswegen erregte es kein Aufsehen in der redlichen Welt der Archäologie. Doch es wird gemunkelt, dass dort Artefakte beschrieben sind, die bis jetzt nirgendwo sonst beschrieben wurden.
Nach einiger Zeit der Prokrastination beim Gedanken daran, ob es für so ein Buch überhaupt wert war, den Weg auf sich zu nehmen, gab ich mir einen Ruck, nahm meinen Mantel und schritt durch die Pforte hinaus in das dunstige Morgengrauen, alle Zweifel hinter mir lassend. Der Weg zur Bibliothek war ja auch nur wenige Minuten lang. Ich könnte ihn im Schlaf gehen, da ich ihn zum Glück in- und auswendig kannte. Ich könnte mir auch Zeit nehmen und der Weg führte bergab. Doch diesmal war etwas anders als sonst. Es war, als würden mich meine Füße, einem unsichtbaren Pfad folgend, von alleine zum Zielort tragen. Ein Fuß vor den anderen setzend, im Takt von unhörbaren Trommelschlägen.
Geistesabwesend oder vielmehr nur im Geist anwesend, ließ ich es geschehen, ohne auf das ungute Gefühl, das sich in meinem Innersten zu manifestieren begann, hören zu können. Meine Gedanken kreisten fiebrig. In sie versunken lief ich Schritt für Schritt für mehrere Minuten. Sie kreisten um das Thema meiner Hausarbeit. Angeblich standen kaum bekannte Details zu gefundenen Zeremonienobjekten der Massachusett in diesem Buch mit zweifelhaften Namen. Wie viel man davon halten sollte, konnte ich erst wissen, wenn ich das Buch in meinen Händen halten und begutachten könnte. Unerklärlicherweise zog mich dieses düstere, geheimnisvolle Buch an. Was wird diese alte walisische Koryphäe der Archäologie darin verfasst haben? Welche unbekannten Funde und Geschichten sind aufgeführt?
Eine schneidende Böe blies mir kalten Nieselregen in das Gesicht und riss mich aus meinen Gedanken. Zu meiner Verwunderung, oder vielleicht eher Entsetzen, war ich wohl nicht zur Bibliothek gegangen, sondern in eine mir vollkommen unbekannte Gegend der Stadt. Mein ungutes Gefühl wurde stärker und ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich war doch höchstens zwanzig Minuten gelaufen, wie konnte ich denn an einen mir so fremden Ort landen in einer mir so gut bekannten Stadt. Die Straßen waren wie leergefegt. Der immer stärker werdende Regen rann durch die dunklen Seitengassen, die Unheil versprachen. Kein Licht brannte in den Häusern, die wie unbewegte, schwarze Monolithe an der Straße standen. Immer tiefer neigten sie ihre schwarzen Ziegelhäupter, bis sie wie verhutzelte alte Hexen wirkten.
Inzwischen war der immer stärker werdende Regen zu Bindfäden geworden. Mein einfacher Mantel bot mir nur noch wenig Schutz und ich hielt Ausschau nach einem Unterstand. In einer der Seitengassen erregte eine Laterne mit ihrem orangenen Schein meine Aufmerksamkeit. Das war die erste und einzige Lichtquelle die hier in der Gegend zu brennen schien. Ich entschloss mich, mein Glück zu versuchen und in diesem Haus Unterschlupf zu suchen, auch wenn die Gegend hier nicht sonderlich einladend war und mein Unterbewusstsein sich vor Angst sträubte, wie die instinktive Angst der Ratte vor der Schlange. Und dennoch zog mich diese nicht hörbare Melodie wie ein Sog zu diesem Haus.

Die Tür war eine schlichte schwarze Holztür mit einem silbernen Klopfer, der die sich ewig selbst verschlingende Schlange Ouroboros darstellte. Ich nahm ihn in die Hand und schlug zweimal beherzt gegen die Tür. Ich wartete nur für einen kurzen Augenblick, als ich Bewegung auf der anderen Seite wahrnahm. Der Türknauf drehte sich, die Tür knarrte und begann langsam aufzuschwingen. Aus dem Haus schien ein gelber Streifen Kerzenlichts auf das dunkle Straßenpflaster. In der hell erleuchteten Tür erschien die Silhouette eines gebrechlichen alten Mannes. Der Mann hatte ein sehr gepflegtes Äußeres. Seine Haltung war leicht gebückt. Er hatte eingefallene Wangen und Augen, die mit den dunklen Augenringen fast wie leere Augenhöhlen wirkten. Doch das dunkle Braun seiner Augen hatte eindeutig den Funken des Lebens inne. Ich wunderte mich nur, wie schnell dieser Alte an der Tür gewesen war, oder hatte er mich schon erwartet?
Mit einem intensiven Blick und einem Schmunzeln um die Lippen fragte er mich: „Was wollen Sie an so einem unfreundlichen Novembertag in dieser Gegend?“.
Er hatte einen leichten Akzent. Ich erklärte ihm meine Situation und dass ich doch einen Unterschlupf vor dem starken Regen benötigte. Mit einem Lächeln, das etwas schelmisches hatte, doch nicht unfreundlich wirkte, gewährte er mir Einlass. „Dafür habe ich natürlich Verständnis. Kommen Sie nur herein. Hängen sie ihren Mantel dort auf, stellen sie ihre nassen Schuhe einfach dorthin und folgen mir dann hinein", sagte er mit leicht zittriger Stimme.
Ich betrat den Flur nur zögerlich und entledigte mich meines Mantels und meiner Schuhe. Das Haus hatte eine schöne Holzvertäfelung, doch roch es etwas staubig und muffig. Der Mann führte mich den langen Flur entlang. „Nur zu, einfach durch bis ganz hinten.“ winkte er mich hinter sich her. Am Ende des Flurs war eine Tür, die in die Wohnstube führte. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes befand sich ein großer Kamin, der ein prasselndes Feuer beherbergte. Die Wände des Raumes waren mit allerlei Vitrinen zugestellt. In ihnen waren allerhand Artefakte und Reliquien aus aller Herren Länder ausgestellt. Einige von ihnen konnte ich aufgrund meines Wissens im Feld der Archäologie zuordnen. Doch einige kamen von keiner Zivilisation oder Epoche, die mir bekannt gewesen wäre.
Er bot mir einen Platz in einem der beiden roten Ohrensessel an, die in der Mitte standen und nahm anschließend im anderen Platz. Der Kamin tauchte unsere Gesichter in schummriges Licht. Vereinzelte Schatten huschten über sie und die staubigen Vitrinen, jedesmal, wenn das Kaminfeuer aufgeregt flimmerte. Ich ließ meinen Blick im Raum umherschweifen. Er blieb an der Vitrine zur Rechten der Tür hängen. "Sie ist ihnen aufgefallen.", merkte mein Gastgeber freudig an.
Mein Blick ruhte auf einer schwarzen Schatulle, die als einziges Exponat in dieser Vitrine stand. Sie bestand aus einer Art Metall oder Gestein, was ich zuvor noch nie gesehen hatte. Sie war von einem undurchdringbaren Schwarz, dass sie in einem unnatürlichen Licht schimmern ließ. Auf ihrem Deckel waren viele kugelförmige Ornamente angebracht, die auf den ersten Blick an eine silberne Weinrebe erinnerten.
Bei genauerer Betrachtung schienen sie jedoch keine Farbe zu haben, die ich mit meinem Verstand zu greifen vermochte, sie schillerten auf einer anderen Ebene des Seins. Ich tat das aber ab und schob es auf das Zwielicht, was meinen Augen zweifellos einen Streich spielen musste. An der Vorderseite war sie mit einem silbernen Schlüsselloch versehen, um das sich wieder Ouroboros schlängelte.
Sie schien nach mir zu rufen, ja geradezu darum bettelnd sie zu öffnen. Eine Besorgnis erregende Begierde begann in meinem Herzen aufzukeimen. Ich konnte meinen Blick von ihr nicht abwenden. Es war, als würden meine Gedanken in sie gesogen werden. Immer schneller strömten sie zur Schatulle und strömten und strömten.
"Ist sie nicht wunderschön?", riss mich die Stimme des Besitzers aus meiner Trance. "Ich weiß. Diese Schatulle ergreift die Aufmerksamkeit des Betrachters und lässt sie nicht mehr los. Aber ich finde ja, sie hat diese auch verdient, finden Sie nicht auch? Bei dieser transzendenten Schönheit." Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihm in die Augen. Ein manisches Feuer brannte in ihnen. Sein Gesicht schien hell auf vor Begeisterung, während er in die Glut des Kamins starrte.
Er begann langsam aufzublicken. Meine Frage stand anscheinend schon in mein Gesicht geschrieben, denn als sich unsere Blicke trafen, fing er sodann an zu antworten. "Nun, ihnen können die Ornamente nichts zu ihrer Herkunft sagen. Sie kommt aus keiner Epoche oder Kultur, die sie kennen würden, doch machen sie sich keine Sorgen, das geht den meisten so. Wollen Sie etwas über ihre Geschichte hören?”, ich nickte. ”Sie wurde von ahnungslosen Siedlern aus einer Begräbnisstätte der hier ursprünglich lebenden Menschen gestohlen. Selbst wenn sie diese Schatulle nicht gebaut haben, war sie dennoch seit Jahrtausenden in ihrem Besitz gewesen. Sie wurde wohl nicht von Menschenhand geschaffen, würde ich behaupten. Doch ist sie vielen Kulturen bekannt.
Ob in der arktischen Tundra, den weiten Steppen Nordamerikas und Asiens, den Hochebenen des Himalaya, bis hin zu den Dschungeln im Herzen Südamerikas und Afrikas, oder der Wüste im Mittelpunkt Australiens, haben schon eine Handvoll Wesen über Jahrtausende hinweg von ihr geträumt und die Tore durchschritten. Die Griechen kannten sie als die Büchse der Pandora und das ist wohl auch der Name, unter dem Sie sie kennen." Der alte Mann schien seinen Verstand verloren zu haben, oder jedenfalls fiel es mir sehr schwer, ihm seine Phantasmen zu glauben. Er schien zu merken, dass ich ihm nicht glaubte, denn er wechselte das Thema. "Nun gut, das ist nicht die einzige Rarität, die sich in meinem Besitz befindet und zu jeder kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen.” Ich hatte große Schwierigkeiten, meinen Blick von dieser rätselhaften Büchse abzuwenden. Mit großer Freude zeigte er auf die verschiedenen Vitrinen und fing an, zu jedem der Gegenstände die jeweilige Geschichte zu erzählen. Er erzählte von seiner Zeit als Archäologe. Er sprach von namenlosen Ruinen in der arabischen Wüste, von denen schon der wahnsinnige Dichter Abdul Alhazred im Necronomicon um Siebenhundert nach Christus geschrieben haben soll, einem angeblich unvorstellbar dämonischen Zauberbuch. Er sprach von älteren Wesen, grotesken Mischwesen, halb Fisch, halb Mensch und tief unter der Erde oder im Ozean leben sollen, von den Großen Alten und dass man diese anrufen könne und von Toren, die hinter unsere Realität führen, wo die letzte Wahrheit weile. Während er mir davon erzählte, redete er sich in freudige Rage. Ein manischer Ausdruck breitete sich in seinem Gesicht aus. Sein Zustand wurde immer besorgniserregender. Auch wenn er mich mit urtümlicher Furcht erfüllte, so konnte ich doch nicht aufhören ihm zuzuhören.
Stundenlang hing ich an seinen aufgeregt zitternden Lippen, während er mir mit angespannter Stimme die Geheimnisse des Kosmos offenbarte. Bilder von dunklen Ruinen zogen an meinem inneren Auge vorbei. Ich stellte mir unsägliche Rituale vor. Widerwärtige Tänzer, die zu kosmischen Instrumenten, die blasphemische Melodien spielten, ihre unansehnlichen Körper bewegten und von dunklen Wirbeln. War ich letztlich doch in die Büchse gesogen worden?

Ich schrak auf, als ich auf meiner Schulter eine knochige Hand spürte. "Sie scheinen sich nicht gut zu fühlen, es ist schon spät und der Regen ist immer noch stark, dazu stürmt es. Sie sollten ins Bett gehen und schlafen. Ich habe ein Gästezimmer mit einem frisch gemachten Bett. Ich biete Ihnen gerne meine Gastfreundschaft an.", sagte er mit ausdrucksloser Miene und deutete bestimmt Richtung Flurtür. War wirklich schon so viel Zeit vergangen, seit ich seinen düsteren Ausführungen folgte?
Ich nickte, versuchte aufzustehen und schwankte bei dem Versuch. Er hatte recht damit, dass ich mich nicht besonders gut fühlte. Es war auf einmal so, als hätte ich hohes Fieber und mein Körper würde mir nicht mehr richtig gehorchen. Ich folgte ihm in den Flur. Wir gingen die Stufen zum 1. Stock nach oben. Das Treppenhaus begann sich so stark zu drehen, dass ich mich an das Geländer klammern musste, um nicht zu stürzen. Oben angekommen, gingen wir den dunklen Gang entlang zum Gästezimmer. Er öffnete mir die Tür und ich fiel sofort schweißgebadet in das frisch gemachte Bett.
Ich starrte an die Decke. Der Schwindel hatte nachgelassen, doch mein Herz raste noch immer. Unter diesen Umständen hatte ich befürchtet, dass der Schlaf auf sich warten lassen würde, doch kam der Schlaf schnell. Ich hatte einen unruhigen Schlaf, denn die Visionen von zuvor holten mich immer wieder ein. Diffuse Bilder reihten sich vollkommen chaotisch aneinander, die Abstände immer kürzer werdend, bis sich ein klares Bild zu manifestieren begann.
Ich stand auf einer toten Welt, in einem toten Areal des Universums. Eine finstere Wüste breitete sich vor meinen Füßen aus. Schwarze Felsen und schwarzer Sand soweit das Auge reichte. Kein Strauch oder Tier war zu sehen. Es war, als wäre dieser Planet vor Äonen verbrannt. Die Szenerie wurde nur durch bunt schillernde kosmische Nebel erhellt. Blaue, rote, grüne, ja alle Farben und sogar Farben, die ich nicht zu beschreiben vermag, noch nie erblickt von Menschenaugen. In Schnörkeln zogen sie über den schwarzen Himmel, drehten sich ineinander, verwirrten sich, bildeten Spiralen, entwirrten sich wieder und verloren sich in der lichtlosen Unendlichkeit. Ich ließ meinen Blick über den Horizont schweifen. - Immer noch kein Zeichen von Leben weit und breit. - Und dort sah ich einen einzelnen Berg über den Horizont ragen, der sich wie eine schwarze Zinne vor einem Sternenhaufen abzeichnete. Die einzige Erhebung, die ich am Horizont erblicken konnte. Ich wanderte über den verdorrten Boden auf ihn zu. Ich kletterte über verbrannte Felsen und sprang über bodenlose Felsspalten. Wie eine Brandleiche trieb dieser Planet im gähnenden Weltenall. Kosmische Winde bliesen mir Asche ins Gesicht. Kein Ton drang an meine Ohren. Doch mir war so, als ob gerade noch so unter der Oberfläche meines Bewusstseins Flöten eine dünne Melodie spielten und Trommeln einen unwirklichen Rhythmus schlugen. Ich ging für eine Ewigkeit und dennoch schien ich mich meinem Ziel nicht zu nähern, egal wie weit ich auch lief. Mein Zeitgefühl hatte sich bereits vollends verabschiedet und ich war wohl zu einem ewigen Marsch verurteilt.
Plötzlich stolperte ich in Richtung einer der vielen Felsspalten. Ich schrie vor Todesangst. Ich fand mich schreiend, rücklings auf dem Boden liegend wieder und starrte an eine hölzerne Decke, meine Hände schützend vor das Gesicht haltend in der Luft. Ich war aus meinem Albtraum aufgewacht und lag auf dem Zimmerboden kurz vor der Tür. Ich musste schlafgewandelt und dabei gestürzt sein. Zum Glück hatte ich mich nicht verletzt. Ich fragte mich, ob ich versucht hatte, aus der Tür zu gehen. Es wäre wohl schlecht, wenn ich durch ein fremdes Haus ziehen würde, vor allem mitten in der Nacht und bei so einem schauerlichen Haus. Ich setzte mich auf die Bettkante und strich mir mit den zitternden Fingern übers schweißgebadete Gesicht. Anscheinend hatte das Fieber noch nicht nachgelassen, doch konnte ich immerhin wieder einigermaßen klar denken. Ich sah aus dem Fenster. Draußen war noch rabenschwarze Nacht. Ich wusste weder wann ich ins Bett gegangen war, noch wie lange ich geschlafen hatte. In meinem Raum befand sich auch keine Uhr, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen, also entschloss ich mich einfach weiter zu schlafen. Kaum war ich eingeschlafen, kehrte ich auch schon wieder auf die fremde Traumwelt zurück.
Ich setzte mich auf und sah einen Hügel hinauf. Die Spuren in der schwarzen Asche deuteten darauf hin, dass ich wohl den ganzen Hügel hinunter gefallen sein musste. An die hundert Meter. Ich stand auf und klopfte den Staub aus meinen Kleidern. Ich ging ungefähr die Hälfte des Hügels wieder nach oben, um mir einen Überblick vom Gebiet zu verschaffen. Es war mühsam, doch geriet ich nicht außer Atem. Angekommen, ließ ich meinen Blick zum Horizont gleiten und erblickte erneut den einsamen Berg. Diesmal erschien er mir deutlich näher als zuvor. Ich erkannte Strukturen, die an seinem Fuß errichtet worden waren, doch konnte ich noch nicht sagen, um was es sich dabei handelte.
Ich brach auf. Ich ging den Hügel hinunter, durch ein kleines Tal, einen kleinen Hügel hinauf, an einer Felsformationen vorbei und gerade auf den Berg zu. Nach einer Weile verlor ich ihn aus den Augen, da ich mich in einer weitläufigen Senke befand. Ich lief, wer weiß wie lang, unter dem unendlichen schwarzen Himmel, der gelegentlich von dem ein oder anderen abnormalen Farbenspiel unterbrochen war, über die Ebene. Der Boden begann langsam, doch stetig an Steigung zu gewinnen. Oben angekommen, lagen überall mannshohe Findlinge herum und große Felsspitzen ragten teilweise mehr als dreißig Meter aus dem Boden. Wie Finger, die seit Äonen verzweifelt den Kosmos zu greifen versuchten. In Reihen liefen diese auf den Berg am Horizont zu. Ich lief einer dieser morbiden Alleen folgend immer weiter.
Dem Berg immer näher kommend, wurden die Spitzen auf einmal zu schwarzen Säulen, die im perfekten Abstand zueinander standen. Dieser Säulengang musste zu einer Art Tempelanlage führen, die sich am Fuß des Berges ausbreitete. Am Ende der Allee befand sich ein großer runder Platz, der wie aus einem einzigen riesigen Stück schwarzen Marmors gehauen zu sein schien. Er war umringt von denselben Säulen. Von ihm gingen mehrere Reihen ab, die sternförmig von ihm wegführten. In seiner Mitte war eine riesige schwarze Kugel mit einem Durchmesser von ein paar Dutzend Metern. Sie schien zu schweben. Genau auf der gegenüberliegenden Seite von der auf der ich stand, befand sich die bedrohlich in den Himmel ragende finstere Zinne. Eine breite, nach oben hin zulaufende Treppe führte, gesäumt von weiteren Säulen, nach oben. Ich stieg die Stufen hinauf. Oben kam ich auf einem Plateau am Fuße der gigantischen Felsformation heraus, auf dem mehrere ketzerische Tempel standen. Während ich über das Plateau schritt, erlaubte ich mir einige verstohlene Blicke in das Innerste dieser seltsamen Gebäude. In ihnen standen große frevelhafte Statuen, die dämonische fremde Götter darstellten.
Ein paar von ihnen schienen, obwohl sie Tentakel und die verschiedensten anderen tierischen Merkmale hatten, noch etwas Menschliches an sich zu haben. Die meisten aber waren nahezu formlos. Teilweise wie bloße Konzepte aus unserer Realität. Und andere verkörperten mir völlig unbegreifliche Konzepte. Ich verweilte nicht lange auf dem Platz, sondern ging unbeirrt auf mein Ziel zu. Als ich im Schatten der Felswand ankam, erblickte ich eine gigantische Pforte, die in den undurchdringlich schwarzen Stein gehauen war. Sie erinnerte mich an die Felsenstadt Petra im Emirat Transjordanien. Links und rechts neben der Pforte waren riesige Felsreliefe in der mehrere hundert Meter langen Wand eingearbeitet. Sie zeigten riesige Wirbel, um die unzählige Wesenheiten tanzten. Ich erkannte unter ihnen ein paar der abscheulichen Götter wieder, die ich bereits zuvor in den Tempeln gesehen hatte. Ein stygischer Wind sog lose Asche durch die Pforte in die düsteren und unvorstellbar weitläufigen Eingeweide des Planeten und so auch mich. Als ich den Fuß über die Schwelle ohne Wiederkehr setzte, erschauderte ich und alles wurde pechschwarz.
Ich erwachte wieder im windschiefen Haus mit dem Rücken zur Tür, die sich am Ende des Flurs im 1. Stock befand. Mit der rechten Hand an der Türklinke und im Begriff einen Schritt von ihr wegzutreten. Mein Herz begann vor Angst zu rasen, als ich begriff, dass ich durch ein wildfremdes Haus schlafwandelte. Womöglich hatte ich Räume betreten, in denen ich nichts zu suchen hatte. Langsam und um kein Aufsehen zu erregen, auf jeden Schritt achtend, ging ich den Flur zurück zum Gästezimmer. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich mit einem Seufzer wieder auf den Rand des Bettes. Ich zwang mich, Ruhe zu bewahren und versuchte deswegen meinen Atem zu kontrollieren. Ich atmete für mehrere Minuten tief ein und aus, in immer größer werdenden Abständen. So langsam begann ich mich zu beruhigen. Ich war noch nie zuvor in meinem Leben schlafgewandelt. War mein Fieber so stark, dass ich ein für mich so abnormales Verhalten an den Tag zu legen begann? Sollte ich die Tür besser abschließen, damit ich nicht wieder aus dem Zimmer gelangen würde? Ich entschloss mich, nach dem Schlüssel für die Tür in der verblichenen Kommode zu suchen. Als ich mit der rechten Hand versuchte, die erste Schublade zu öffnen, fiel mir auf, dass ich einen schmalen, kalten und metallischen Gegenstand in dieser zu halten schien.
Es war ein silberner Schlüssel. Ich versuchte mit ihm die Zimmertür abzuschließen, doch es funktionierte nicht. Ich zuckte bei dem Gedanken, einen Schlüssel aus dem anderen Zimmer entwendet zu haben, zusammen. Alle Vorsicht fahren lassend, rannte ich zur Tür des anderen Raumes. Als ich sie zu öffnen versuchte, musste ich mit Erschrecken feststellen, dass sie verschlossen war. Vergeblich versuchte ich, sie mit dem Schlüssel aufzuschließen. Ich wollte meinen unheimlichen Gastgeber unter keinen Umständen erzürnen. Ich eilte zurück in mein Zimmer, schloss die Tür und schob die Kommode davor. Ich nahm den Stuhl am Tisch, um den Schlüssel auf den hohen Kleiderschrank zu legen. Danach stellte ich ihn zurück, setzte mich aufs Bett und blickte aus dem Fenster. Es war noch immer Nacht.
Um nicht wieder durchs Haus zu streifen, versuchte ich bis zum Morgen wach zu bleiben, um nach Hause gehen zu können. Ich würde meinen fiebrigen Zustand in meinem eigenen Bett auskurieren. Krampfhaft versuchte ich meine Augen offenzuhalten, doch der Schlaf holte letztlich meinen vom Fieber geschwächten Geist zu sich.

Ich wurde von der undurchdringlichen Finsternis empfangen. Ich erwiderte ihre kalte Umarmung und ließ mich an der Hand in das schwarze Herz des Planeten führen. Ohne etwas zu sehen, begann ich die Reise in den Abgrund. Ich sah zwar nichts, dennoch wusste ich genau wo ich meine Füße zu setzen hatte, um nicht zu fallen. Ein tiefes jammern kam aus dem Erdenrachen. Der unerbittliche Sog verwandelte das Planetengerippe in ein riesiges Instrument. Die tiefgreifenden Schluchzer ließen nur erahnen, wie gigantisch die Katakomben waren und wie viele Geheimnisse im Sand der Zeit verronnen sind. Es stimmte mich beinahe wehmütig, dass niemand diese Geheimnisse je lüften würde, da jedes Wesen dieser Aschewelt vor unvorstellbar langer Zeit aus dem Bewusstsein der Existenz gefallen war. Es war so, als würde der Planet um seinen eigenen Tod weinen, zusammen mit den rachevollen Schatten der Bewohner.
Wie kleine Gänge eines Ameisenhügels führten die schmalen Treppen immer tiefer in den Fels. Ich kam an unzählig vielen Abzweigungen vorbei und wusste stets, welchen Weg ich zu gehen hatte. Es war, als wäre ich diesen Weg schon unzählige Male gegangen. Ich musste ihn in- und auswendig kennen. Es war, als würden mich meine Füße, einem von Millionen Schritten vor mir ausgetretenen Pfad folgend, von alleine zum Zielort tragen. Ein Fuß vor den anderen setzend, im Takt von kaum hörbaren Trommelschlägen, die die dünne Membran zwischen den Realitäten zu durchstoßen begannen. In meinem Geist gefangen, lief ich ohne auf den hintergründigen Schrecken, der mich umfing, achten zu können. Meine Gedanken strömten. Ich folgte ihnen immer weiter. Sie strömten dem Sog folgend in den Abgrund.
Inzwischen war ich im finsteren Herzen des Planeten angelangt. Ich durchschritt einen gedrungenen Durchgang am Ende der Gänge, in eine Felsaushöhlung von zyklopischem Ausmaß. Die riesige Kuppel funkelte vor lauter Gemmen, wie der unendlich finstere Himmel, der sich über den toten Ascheebenen ausbreitete, vor Sternen. Es war so, als hätte sich eine zweite Welt aufgetan. Als ich weiter auf mein Ziel zu ging, kam ich an vielen Hausruinen vorbei. Es musste sich ein riesiges System von Höhlen unter der Oberfläche ausbreiten, in dem eine gigantische Metropole stand, oder vielmehr die Überreste dieser. Genau unter der Mitte der titanischen Kuppel stand ein riesiges Bauwerk. Es stand auf einer Erhöhung, auf die eine Treppe führte.
Es erinnerte an einen griechischen Tempel, da es von denselben Säulen aufrechterhalten wurde, die zuvor schon zum Berg hin führten. Ich lief die Treppe nach oben und überschritt die Linie, die die doppelten Säulenreihen zogen, in das Unheiligtum. Unter dem Giebeldach befanden sich keine Vorhalle oder unterteilte Räume. Nur genau in der Mitte stand ein steinerner Sarkophag. Als ich langsam auf ihn zuging, zog ein dichter Nebel auf, der immer dichter wurde, je näher ich kam. Eine unheilvolle Vibration ging vom Sarkophag aus, die mit jedem Schritt intensiver wurde. Der hintergründige Schrecken, der schon die ganze Zeit auf mir lastete, rückte in den Vordergrund. Alles in mir sträubte sich vor dem steinernen Kasten. Doch alles in mir sehnte sich nach der schaurigen Antworten auf noch schaurigere Geheimnisse, die unter seinem Deckel nur auf mich warteten.
Auf dem Deckel und den Seiten waren wieder diese düsteren Wirbel dichten Chaos’ abgebildet, zusammen mit diesen frevelhaften fremden Göttern. Ich legte die Hand auf den Deckel, der Nebel wurde undurchdringlich und die unnatürliche Vibration erschütterte die Tiefen meines Körpers, meiner Seele und meines Seins. Wie in Trance schob ich ihn vom Unterbau. Mit einem Poltern glitt er zur Seite und offenbarte die absolute Dunkelheit. Inzwischen waren die dämonische Melodie und die fieberhaften Trommelschläge deutlich zu hören. Ich blickte in das Nichts hinein. Der stygische Sog war zu einem unentrinnbaren Zerren geworden, das unerbittlich an meiner Seele zog. Ich fing an zu kämpfen, da endlich die Angst und die Vernunft über die törichte Neugierde obsiegten. Ich stemmte mich verzweifelt dagegen, mit aller Kraft, doch vergebens. Dann fiel mein Bewusstsein kraftlos, ohne ein letztes Aufbäumen in die realitätsverhöhnende Unendlichkeit zwischen den Welten.
Ich wurde zusammen mit den in allen Farben schillernden Sternennebeln, strauchelnd durch die absolute Finsternis gezogen. Ich wurde entzwei gerissen, zusammengefügt, langgezogen, gestaucht, verdreht und entwirrt, immer und immer wieder, abwechselnd und gleichzeitig. Bevor und nachdem ich war. Hinter aller Existenz, in den unbeleuchteten Kammern jenseits von Raum und Zeit, inmitten des ohrenbetäubenden Kreischens unheiliger Flöten und den widerwärtigen, dumpfen Schlägen von Wahnsinn speienden Trommeln, die an den nach innen gekrempelten Kanten des Gewebes der Realitäten, in einer immer lauter werdenden Kakophonie unendlich reflektierten. Am Grunde der nach außen gestülpten Singularität, im Zentrum aller Unendlichkeiten, residierte das wirbelnde Chaos, das brodelnd und sprudelnd verging, bevor es wurde und wurde, nachdem es verging, für alle Ewigkeit. In einem unendlichen, blasphemischen Kreislauf von Werden und Vergehen, erträumt es die Realität und träumt sein Selbst in diese hinein, wie ein blinder Träumer im Delirium. Ich fiel mit unmessbarer Geschwindigkeit auf es zu und wurde sogleich doch auch genauso schnell abgestoßen. Es war, als würde mehr Raum zwischen mir und dem grundlegenden Chaos entstehen, als ich durchquerte. Ich konnte nicht zu ihm gelangen, egal wie lange ich fiel. Es war mir nicht möglich, das geordnete Universum zu verlassen.
Inzwischen hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Ich war allein, allein mit meinen entsetzlichen Gedanken in meinem zermarterten Verstand und hatte unendlich Zeit, während ich vom ultimativen Chaos immer weiter davon trieb. Entlassen aus der kosmischen Strömung mit meinem Totenfloß. Eine entsetzliche Gewissheit machte sich in mir breit. Wenn alles was ist, was sein wird und jemals war aus dem sich selbst verschlingenden ultimativen Chaos heraus erzeugt wurde und zu ihm zurückkehrt, gab es dann ein Wesen, das einen gutgemeinten Plan für die Menschheit erdacht hatte? Hatten die einzelnen Leben der unzähligen Menschen dann einen Sinn? Wenn das Fundament des Turms, mit jedem Stein den wir auf es legen, tiefer in die Erde sinkt? Wenn alles, was wir machen, in Flammen aufgeht und zu schwarzer Asche verbrennt, wie der tote Planet, den ich zurückließ? Was waren unsere Existenz, unser unentwegtes Streben nach mehr und unsere schweren Mühen, um das zu erreichen, dann wert? War das die letzte Wahrheit, die es zu erfahren galt? Die Wahrheit hinter allem Sein? Wenn dem so seien sollte, dann wünschte ich mir nichts sehnlicher, als die süße Umarmung des Vergessens zu erfahren.
Eine niederschmetternde Leere breitete sich in meinem Innersten aus und legte sich wie ein Totentuch auf mein Ich und jeden Winkel meines Bewusstseins. Alles, was meine Existenz ausgemacht hatte, begann in meinem katatonischen, zum Sarg erstarrten Körper zu verrotten. Jeden Lebenswillen verloren, driftete ich im zu Dunkelheit erstarrten Nichts, ohne eine geistige Regung. Nach unzähligen Zeitaltern war vom Chaos nichts mehr zu sehen und ein schillernder Nebel umfing mich. Schließlich verschwand mein Verstand in den gähnenden, weiten, schwarzen Ebenen zwischen den einsam funkelnden Sternen, die genauso in der Ewigkeit der Zeit verschwinden würden wie ich. Bis nur noch der idiotische fremde Gott in der Mitte aller Unendlichkeiten, jenseits von Raum und Zeit, am Grund von allen Möglichkeiten und außerhalb des geordneten Universums übrig bleiben würde, um ein weiteres bedeutungsloses Universum in die Existenz zu träumen, immer und immer wieder bis in alle Ewigkeit zum eintönigen Pfeifen von verfluchten Flöten und dumpfen Schlägen von Wahnsinn speienden Trommeln.

Ich stand in der Schwärze. Zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass ich mich in der Wohnstube des Alten befand. Ich stand an der Tür, meine Arme vor mich haltend. Ich hielt die Büchse der Pandora in Händen. Mit der linken hob ich sie vor mein Gesicht und mit der rechten hatte ich den seltsam verzierten Silberschlüssel in das Schloss gesteckt und sie einfach aufgeschlossen, während ich schlief. Der exquisit gearbeitete Deckel war geöffnet und ich blickte in die Schatulle, in der sich nichts mehr befand. Licht flackerte den Flur entlang und die Dielen knarrten. Mein Gastgeber kam ausgerechnet jetzt den Flur herunter. Geistesgegenwärtig versuchte ich den verzierten Kasten an den angestammten Platz zu stellen, doch die Vitrine war abgeschlossen. Um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, musste ich wenigstens die Büchse schließen und den Schlüssel in die Hosentasche stecken, doch der Schlüssel bewegte sich kein Stück. Er steckte fest.
Ich würde dem Hausherrn einiges erklären müssen, auch wenn ich nicht wusste, wie ich das bewerkstelligen sollte. Ich streckte meinen Kopf durch die Wohnzimmertür in den Flur, um nach ihm zu sehen. Eine Vision von einem menschenähnlichen Wesen, das in amorphe Laken gewickelt war, blitzte vor meinem inneren Auge auf, als ich ans Ende des Flurs blickte. Ich blinzelte und erkannte an der Stelle dieses Wesens den alten Herren des Hauses, der mit einer Kerze in der Hand lächelnd in meine Richtung blickte, während er langsam auf mich zukam. Eine innere Stimme versicherte mir, dass mir kein Unheil geschehen würde und ich fing an, mich zu beruhigen.
Seine Lippen bewegten sich, als er mit mir sprach, doch kam es mir so vor, als würde ich seine Stimme nicht mit den Ohren hören, sondern alleine mit meinem Verstand "Du brauchst keine Angst zu haben. Ich denke, dass du einige Fragen haben wirst, nach deiner Reise. Wir sollten uns in die Stube setzen und ich werde versuchen, alle deine Fragen zu deiner Zufriedenheit zu beantworten."
Eine Art Glühen umgab ihn, während er das Feuer im Kamin und einige Kerzen im Zimmer anzündete. Er und das Licht flackerten synchron. Ich beobachtete ihn dabei, von einem der beiden roten Ohrensessel aus, mit einem leeren Blick. Nachdem er mit dem Anzünden fertig war, nahm er im anderen Sessel Platz. Hier saß ich nun, nur noch ein Häufchen Elend, nur noch ein Schatten meiner selbst. Mein Ich zerrieben zwischen den Mühlsteinen der Unendlichkeit und Finsternis. Ein Echo in meinem Kopf rüttelte mich etwas wach.
"Du hast die Wahrheit über dein Universum erfahren. Kein Wesen hat dich aus Liebe geschaffen, kein Wesen hat dich als etwas besonderes geschaffen, kein Wesen hat sich einen Plan für dich überlegt. Du bist nur ein Teil des Traumes, den das ultimative Chaos träumt. So wie ich. Selbst für ein unendliches, transzendentales und interdimensionales Wesen wie mich gilt das. Sogar für Azathoth, der inmitten allen Chaos thront, selbst."
Schreckliche Bilder aus meinen Träumen begannen mich heimzusuchen. Sich drehende Chaoswirbel, groteske Göttertänzer und die finstere Ewigkeit. Mein verwirrter Geist suchte mit meinen Augen die seinen. Halt suchend. Als ich in sie blickte, verschwanden die Traumbilder und ich hatte eine Vision. Der Schimmer dieser fremden, unvorstellbaren Farben, der ihn umgab, strahlte immer und immer stärker. Plötzlich flammte ein heller Lichtblitz auf. Ich sah unzählbare mehrdimensionale Sphären, die in noch mehr dieser Farben schillerten. Wenn man in die Tiefen dieser blickte, sah man unzählige weitere, die sich wie Fraktale unendlich ineinander falteten. Die Masse an Kugeln wirkte wie ein Bewusstsein, das wabernd zwischen den Dimension kriecht.
Das Wesen sprach in meinen Gedanken zu mir mit mannigfaltigem Echo. "Du bist bei Verstand geblieben, was den wenigsten deiner Art gelingt beim Anblick vom ultimativen Chaos. Um das letzte Tor zu durchschreiten, muss man diese Prüfung bestehen, denn nur wer von der Wahrheit des Universums weiß, kann die letzte Wahrheit begreifen, die jenseits des Universums weilt. Die Frage ist nur, ob du diese letzte Wahrheit erfahren möchtest? Noch kannst du umkehren, deine Seele heilen und alles nur als einen Fiebertraum abtun. Weiter die komfortable Lüge der arroganten Affen leben, an liebevolle Götter glauben und an einen Plan, der für sie alleine erdacht ist, im naiven Glauben, das Universum drehe sich nur um sie. Doch dreht es sich um das grenzenlose Chaos.
Alle intelligenten Wesenheiten unterziehe ich dieser Prüfung, oder eher einige wenige Exemplare. Ihr habt gerade erst euer Selbst in der Pfütze auf dem Boden erkannt, gerade erst den anderen der neben euch hinein blickt, gerade erst die Sterne und Galaxien die auf ihrer Oberfläche zwischen euren Gesichtern funkeln und die Konturen des Planeten um euch. Ihr habt das alles nur noch nicht in Verbindung gebracht. Ihr denkt, ihr habt alles durchschaut, dennoch versteht ihr nichts. Deine Art versteht nichts. Sich selbst nicht und die Wirklichkeit um sich nicht. Was soll eure Zukunft sein? Wirst du die ersten Schritte durch das Unterholz des Unwissens gehen, die ersten auf dem Trampelpfad Richtung Zukunft. Ein Trampelpfad, den Millionen Schritte nach dir zur Straße machen werden? Was wird eure Zukunft bringen? Ich sehe die Zukünfte in unendlichen Facetten der Dimensionen und Realitäten schillern. Welche davon ist eure?”
Das Echo wurde etwas schwächer und machte meinen Gedanken Raum, doch der Schock von den Strapazen meiner Traumreise steckte mir noch immer tief in den Knochen. Ich konnte das alles noch nicht glauben, geschweige denn begreifen. Waren Menschen überhaupt dafür gemacht, hinter dem Schleier aller Unendlichkeit die Wahrheit zu erblicken? “Kein Wesen ist dafür gemacht, oder für etwas anderes. Ob es in eurer Natur liegt? Natürlich, selbst wenn ihr es vergessen habt. In die Zukunft zu schreiten, erfolgt mit dem Blick auf die Wurzel, den Anfang. Doch ist Zeit eine Illusion. Die Menschen sind nur eine Facette des Ganzen, eine der unendlich vielen Möglichkeiten. Unzählbar viele Wesenheiten vor euch sind zu Asche zerfallen, noch mehr werden es nach euch tun. Was unterscheidet euch vom Sandkorn in der Sahara? Was unterscheidet euch von den anderen Körnern? Wie werdet ihr bestehen? Wie werdet ihr auf dem unendlichen Ozean der Möglichkeiten, die chaotischen Wellen navigieren, um zum Land des Fortbestehens zu gelangen. Ich biete euch nur ein Licht. Suche die Passage, wenn du bereit bist.”

Die Vision verflimmerte. Die Stube, der alte Mann und Ich verwirbelten, alles in meinem Kopf begann sich zu drehen. Lichtschlieren mischten sich in die dunklen Wirbel.
Ich schlug die Augen auf und erwachte an meinem Schreibtisch im Wohnheim. Sogleich fing ich an, diesen Abschiedsbrief zu verfassen, denn ich weiß jetzt, dass ich einen anderen Pfad zu beschreiten habe, einen Pfad, der mich zur Passage hinführt und durch das letzte Tor hindurch, zur letzten aller Wahrheiten hinter allem Sein. Es tut mir leid, dass ich dich allein lasse und dir diese belastende Aufgabe hinterlasse. Bitte behalte mich als deinen Freund in Erinnerung



Dein treu ergebener Freund Aldon Turner


Dieser Abschiedsbrief und ein groteskes Gedicht waren das letzte, was ich von meinem Mitbewohner las. Diese schaurige Geschichte ist, was mir bleibt. Und dieses zwielichtige Buch “Die dunklen Artefakte New Englands”, das er bevor ich ging, Tag ein Tag aus gelesen hatte und aus dem das Gedicht gefallen ist. Zwei Monate war ich in der Heimat gewesen. Ich hätte meinen Freund nicht alleine lassen sollen. Er war zuletzt immer häufiger krank gewesen und wirkte manisch, doch hatte er mir versichert, dass es ihm gut ginge und ich mich um den Notfall zu Hause kümmern solle. Er sagte, er würde an seinem Durchbruch arbeiten und ich solle mir keine Gedanken machen. Im Gegenteil, ich solle mich auf meine Rückkehr freuen, darauf seine Hausarbeit lesen zu können. Seinem wissenschaftlichen Durchbruch als erstes beizuwohnen. Doch habe ich nur seinen abrupten Fall in den Wahnsinn mit ansehen müssen. Seine Hausarbeit war mit ihm verschwunden, oder hatte er je eine geschrieben? Nur der Abschiedsbrief und das wirre Gedicht ließ er zurück.




Nebel fließt wabernd durch Straßen dunkler Kluft,
Sickert aus dem Boden, stetger’ Chaosduft.
Die triste Stadt, ein Kessel voll Hexenbräu;
Die grauen Stadtbewohner, misstrauisch, scheu.

Fremder, dunkler Traum liegt lang schon in der Luft,
Führt er mich Hand in Hand, folge ich ihm treu,
Nach unten, durch ein Tor gesäumt von Efeu.
Dort liegt Azathoth allein in seiner Gruft.


Die dunklen Wahrheiten im Universum.
Das Chaos träumt sie endlos, ewig und dumm.
Silbern Schlüssel öffnet nicht nur steinern Tor.

Das zeigte Pandoras’ Büchse schon zuvor.
So lehrt ’s seit Äonen König Yog-Sothoth.
So lehrt ers’ noch, unser allumfassend Gott.



Jedes Mal wenn ich an das Gedicht und den Brief denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Von Aldon hörte ich seit damals nie wieder etwas, weder direkt von ihm, noch etwas über seinen Verbleib. Es war, als hätte er nie existiert. Seither haderte ich mit dem Gedanken, der Welt diese schaurige letzte Nachricht zu offenbaren. Nach zwanzig langen Jahren habe ich mich nun endlich dazu durchgerungen, die Welt daran teilhaben zu lassen. Sollen die anderen entscheiden, ob sie ihr Glauben schenken oder sie als Wahnsinn abtun. Ich kann dieses Wissen nicht mehr alleine mit mir herumtragen. Ich möchte mein Leben endlich von diesem Joch befreien.
 
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Ubertas

Mitglied
Hallo @Benjamin Gerdes ,
herausragend! Phantastisch! Brillant!
Ich betone es hier extra nochmals, damit es sichtbar bleibt.
Mit einer so großen Liebe zum Detail geschrieben, da reichen Worte nicht aus: ich bin begeistert, restlos begeistert.
Danke für dieses Leseerlebnis! Ganz großartig.
Liebe Grüße ubertas
 
Ich bin schon stolz auf meine Geschichte, aber ich habe nicht mit so viel Lob gerechnet. Meinem Umfeld hat die Geschichte auch gefallen, aber da gibt es eigentlich niemanden, der Horror liest (oder Kurzgeschichten generell) und dazu ist das meine erste Geschichte überhaupt. Da ist das mit dem Einschätzen so ne Sache. Deshalb war ich mir unsicher, wie das Feedback hier aussehen würde. Darum freu ich mich sehr.
 



 
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