Die Busbekanntschaft

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juliawa

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David saß im Bus und war schrecklich aufgeregt. Vorsichtig blickte er sich um. Die meisten Kinder alberten miteinander herum und lachten dabei ausgelassen. Viele schienen sich bereits zu kennen. Von der Schule oder vielleicht auch nur von vorhin, als sie wenige Minuten gemeinsam an der Haltestelle gewartet hatten. Ihm ging das alles viel zu schnell. Schon jetzt fühlte er sich ausgeschlossen. Eigentlich wollte er gar nicht hier sein. Es war das erste Mal, dass er die Sommerferien nicht zu Hause verbrachte. Lange hatte er mir seiner Mutter diskutiert: "Was ist, wenn ich wieder einen Schub bekomme?"
"Dann holen wird dich sofort ab. Es geht doch täglich nur bis 18 Uhr. Du kannst dich doch nicht immer auf deiner Krankheit ausruhen. Es ist nicht gesund für einen Zehnjährigen, den ganzen Sommer nur im Haus herumzuhängen und zu lesen. Ich wette, sobald du da bist, gefällt es dir dort"
Darauf hatte er nichts mehr erwidert.


Jetzt bemerkte er einen Jungen, der ihm schräg gegenüber saß. Er war an der letzten Haltestelle zugestiegen und schien ähnlich aufgeregt, schaute starr aus dem Fenster und vermied Blickkontakt mit den anderen. David betrachtete sein Gesicht. Er hatte schwarze Haare und braune Augen und sah irgendwie ungewöhnlich aus. Während der restlichen Fahrt beobachtete David ihn heimlich und fasziniert aus dem Augenwinkel. Der Junge löste ein warmes Gefühl in seiner Magengegend aus.


Nach etwa 20 Minuten Fahrt hatten sie ihren Bestimmungsort erreicht und der Bus kam am Ende einer schmalen, einspurigen Landstraße, die in einer Sackgasse im Wald mündete, zum Stehen. Die anderen Kinder stürmten entschlossen und lärmend Richtung Ausgang. David verließ dicht hinter seiner neuen 'Bekanntschaft' als Letzter das Fahrzeug.
"Hier lang, Kinder", rief einer der Betreuer.
Es ging einen etwa 100m langen, stark abfallenden Betonweg hinunter. Dort wurde die Anlage sichtbar: ein schönes, einstöckiges Gebäude zwischen den Bäumen, mit einer großen Rasenfläche davor.
'Ev.Waldheim', las David auf einem Schild.
Hier werde ich also die nächsten 10 Tage verbringen, dachte er, jetzt auf einmal mit leichter Vorfreude.


Ein Frühstück war im Preis der Ferienbetreuung mit eingeschlossen. Der Himmel war zwar bedeckt aber es regnete nicht, daher wurde draußen, auf Klappbänken sitzend, gegessen. David hatte einen Jungen aus seiner Parallelklasse getroffen, mit dem er letztes Schuljahr ein paar Mal die Pausen verbracht hatte. Er hieß Paul und war in seiner Klasse auch eher ein Außenseite. Sie saßen nebeneinander und sprachen einige Sätze über die Schule, aber das Gespräch verlief schleppend und wurde langsam ein bisschen unangenehm.
Schließlich fragte Paul, wohl nur um irgend etwas sagen zu können "Wie schmecken dir eigentlich die Brötchen. Also ich mein, quasi vom Geschmack her?"
Komische Formulierung. Im Grunde schmeckte es David ausgezeichnet, aber um witzig zu sein, antwortete er kauend "Diese Brötchen sind ein Skandal". Den Spruch hatte er in einem Film gehört.
Ein Junge lachte laut auf. David schaute von seinem Teller auf und stellte mit freudiger Überraschung fest, dass seine Busbekanntschaft ihre Unterhaltung anscheinend gehört und seine Bemerkung ausgesprochen witzig fand. Er hatte wegen des anstrengenden Gesprächs seine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis genommen. Als der Junge seinen Blick bemerkte, schaute er sofort weg und konzentrierte sich mit großer Hingabe auf sein Getränk.
Der ist mir total sympathisch, dachte David.
Die Wolkendecke hatte sich inzwischen etwas aufgelockert.


Nach dem Frühstück wartete eine Enttäuschung auf ihn. Die Freizeitaktivitäten waren an Tag 1 nach Altersklassen unterteilt und seine Busbekanntschaft gehörte offenbar zu den Elf-bis Dreizehnjährigen. Den restlichen Tag über hatte er daher keine Gelegenheit mehr, ihn zu sehen.
Der Comic-Zeichen-Kurs, zu dem er eingeteilt worden war, langweilte ihn. Seinen Schulkameraden hatte er unter dem Gewimmel der anderen Kinder inzwischen aus den Augen verloren. Das war ihm eigentlich ganz recht.


Den ganzen Tag über fieberte er 18 Uhr und der Heimfahrt entgegen. Als es endlich so weit war und alle Kinder von den Betreuern zusammengetrommelt wurden, behielt er den Jungen genau im Auge und stellte sich unauffällig in seine Nähe. Mutig hatte er beschlossen, sich im Bus neben ihn zu setzen. Er musste es nur so anstellen, dass es lässig und wie zufällig aussah.
Irgendwo muss man ja schließlich sitzen, oder?, dachte er sich.
Als es dann aber so weit war einzusteigen, wandte sich ein Junge mit blonden Strähnchen in den Haaren an seine Bekanntschaft und fragte: "Tigran, wo sollen wir sitzen?"
Die Antwort wurde von den lärmenden Kindern verschluckt. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung musste David seinen Plan also verwerfen. Immerhin wusste er jetzt, wie der Junge hieß. Tigran.
Was für ein komischer Name
David fand nur noch einen Platz in der letzten Reihe, von wo aus er keine Sicht auf seinen neuen Freund hatte. Während der Fahrt wiederholte er seinen Namen im Kopf und starrte mit leerem Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Bäume wurden von einem Industriegebiet, und dieses wiederum von einer Wohngegend aus hohen Plattenbauten abgelöst. Der Bus hielt. Aufgeregt erinnerte David sich, dass der Junge an dieser Haltestelle zugestiegen war und daher höchstwahrscheinlich auch hier wieder aussteigen würde.
Jetzt schlenderten die abgelieferten Kinder am Busfenster vorbei. Tigran hielt sich etwas hinter ihnen. Als Einziger trug er seinen Rucksack über beiden Schultern.
Für einen kurzen Moment hatte David einen frontalen Blick auf seinen neuen Freund und betrachtete ihn jetzt zum ersten Mal direkt und unverstohlen.
Sein Herz klopfte dabei ungewöhnlich heftig.
Während der restlichen Heimfahrt fühlte sich sein Gesicht merkwürdig taub an.


"Und Schätzchen, war doch bestimmt ganz cool, oder?", fragte ihn seine Mutter, Birgit, während er seine Tasche im Hausflur abstellte.
"Ja, war echt ok. Wir haben Comics gezeichnet. Paul aus meiner Parallelklasse ist übrigens auch da"
"Ja super, dann hast du da ja schon einen Freund", ermutigte sie ihn lächelnd und machte sich dazu bereit, in die Küche zu gehen um das Abendessen zuzubereiten.
David zögerte. Dann fragte er mit betont beiläufiger Stimme: "Mama, was ist eigentlich Tigran für ein Name?"
Er bemerkte überrascht, dass seine Mutter beim Klang des Namens kurz zusammengezuckt war.
"Tigran? Ein armenischer Name, denke ich. Wieso willst du das wissen?" Sie lächelte angespannt.
"Einfach so, ohne Grund". David fühlte sich ertappt.


Während des Abendessens sprach er nur wenig. Seine Eltern und seine Schwester waren ihm heute zu laut.
Da kann doch kein Mensch nachdenken


Später saß er allein auf dem Balkon und begrüßte die einbrechende Dunkelheit. Währenddessen lächelte er breit.
Bald ist es schon wieder morgen
Irgendwo in der Nachbarschaft fauchte eine streunende Katze.
David setzte sich aufrecht hin und warf seine Stirn in leichte Falten.
Aber er ist doch ein Junge! dachte er mit plötzlichem Erschrecken.


Am nächsten Morgen hatte David Panik, den Bus zu verpassen und stand schon zehn Minuten vor Abfahrt an der Haltestelle. Dann suchte er sich einen einzelnen Fensterplatz und stellte seine Tasche auf den Sitz neben ihm, um ihn freizuhalten.
Vor Tigrans Haltestelle wollte er sie schnell auf den Boden stellen.


Doch Tigran kam nicht. Die Bustüren schlugen zu und von ihm fehlte noch jede Spur.
Warum kommt er heute nicht?
Dann dachte David mit aufkommendem Entsetzen: Er kommt bestimmt überhaupt nicht mehr!


Tag 2
war trist und ereignislos.


"Ich kann nicht mehr dahin, ich bin krank", jammerte David, während seine Mutter mühsam versuchte, ihn dazu zu überreden, das Bett zu verlassen.
"Du bist immer krank, wenn es dir in den Kram passt", schimpfte sie. Direkt danach tat ihr die Bemerkung leid.


Das war nicht fair. David war ja tatsächlich oft krank. Die katastrophalen Blutwerte bewiesen es. Sie waren bei so vielen Ärzten gewesen, hatten ihnen seine Symptome genau beschrieben. Schubartig auftretende, heftige Bauchschmerzen und hohes Fieber. Alle hatten irgendwann das Handtuch geworfen. Für das, was David fehlte, gab es schlicht und einfach keinen Namen.


Schließlich hatte Birgit sich durchgesetzt und David stand mit den Händen in der Hosentasche an der Haltestelle. Das er sich hatte überzeugen lassen, hatte noch einen anderen Grund gehabt, als ihre unwiderlegbaren Argumente. Er hatte noch eine leise Hoffnung.


Zwanzig Minuten später stieg Tigran als letztes Kind in den Bus und setzte sich ihm schräg gegenüber. David hätte am liebsten vor Freude gejubelt, gab sich aber große Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.
Nachdem er eine ganze Weile nichts Anderes gewagt hatte, als aus dem Fenster zu starren, begann er vorsichtig, Tigran zu beobachten. Mit Erstaunen stellte er fest, dass der Junge die Angewohnheit hatte, immer wieder kurz seine Oberlippe hochzuziehen und dabei die Stirn in Falten zu legen. Vor etwa einem Jahr hatte David genau den gleichen nervösen Tick gehabt.


Am Nachmittag veranstalteten die Betreuer ein Quiz. Zehn verschiedene Gruppen, die nach Geschlecht und Anfangsbuchstaben des Nachnamens gebildet wurden, sollten gegeneinander spielen. Freudig stellte David fest, dass er und Tigran sich im selben Team befanden. Nach einer Viertelstunde hatte ihre Gruppe, zusammen mit dem Team Mädchen R-Z ,die Nase vorn.
Da begann Davids Bauch weh zu tun. Er kannte diese Art von Schmerzen. Nicht jetzt, dachte er verzweifelt. In solchen Situationen konnte sein Zustand sich rapide verschlechtern.
"Wie nennt man den Träger der Erbinformation?", fragte der Betreuer jetzt die gespannt lauschenden Kinder.
Eine schwierige Frage.
Nach einigen Momenten Stille meldete sich Tigran und sagte schüchtern: "DNA"
Was für eine schöne Stimme, dachte David, während er sich den Bauch hielt. Schweißtropfen liefen ihm jetzt über die Stirn.
"Nicht schlecht, Kleiner, hätte nicht gedacht, dass das jemand weiß. Damit gewinnt das Team Jungen A-F !" , rief der Betreuer mit bester Quizmaster-Stimme.
Die Jungen jubelten. Einige klopften dem verlegen lächelnden Tigran auf die Schulter.
Dann verstummten alle und blickten betreten auf den Boden, wo jetzt David lag und nach Luft ringend stöhnte.


"Mein Gott, Junge, was ist denn los?" fragte ihn der Betreuer und blickte sich nach den anderen Mitarbeitern um.
"Es ist nicht so schlimm", presste David mit schmerzverzerrtem Gesicht durch die Zähne. "Ich hab das manchmal, aber nach ein paar Stunden geht es vorbei. Können Sie meinen Vater anrufen?"
Der Betreuer entfernte sich Richtung Telefon. Die Traube aus Kindern, die sich um den Kranken gebildet hatte, zerstäubte sich langsam.


Was als Nächstes geschah, wirkte auf David, vermutlich wegen seines hohen Fiebers, wie unwirklich und weit entfernt. Tigran kam auf ihn zu und kniete sich neben ihn. Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter und sagte leise "Ich hab das auch oft"
"Hä?", flüsterte David fiebrig. Er hatte den Satz zwar akustisch verstanden, schaffte es aber nicht, seinen Sinn zu entschlüsseln.
"Ich hab oft dasselbe wie du", wiederholte Tigran. "Deshalb war ich auch gestern nicht da". Dann strich er dem Kranken sanft die schweißnassen Haare aus der Stirn, drehte sich um und entfernte sich.


Seit diesem Vorfall waren David und Tigran unzertrennlich. Von der Hinfahrt morgens im Bus bis zum Aussteigen Tigrans an der Plattenbau-Haltestelle sah man die beiden nur noch zu zweit. David hing seinen Eltern jeden Abend in den Ohren und erzählte ihnen alles von seinem neuen Freund. Nur ihr allererstes Gespräch verschwieg er. Auch mit Tigran redete er nie mehr darüber. Im Nachhinein kam ihm die Szene wie ein Traum vor.


"Warum bist du immer so verspannt?", fragte Jens seine Frau, während er ihre nackten Schultern massierte.
Birgit hatte gerade geduscht, während er sich vor dem Badezimmerspiegel rasiert hatte.
Vielleicht weil ich hier immer Alles alleine machen muss?, dachte Birgit gehässig.
"Sorry, heute echt nicht", wehrte sie ab, als Jens seine Hände an ihrem Körper nach unten bewegte.
"Was für eine Überraschung", erwiderte dieser, mit kaum unterdrückter Wut, befreite sein Gesicht vom Schaum und schloss die Badezimmertür hinter sich.
Ich hab eigentlich keine große Lust, morgen da hinzugehen, dachte Birgit. Aber Jens ist sein freier Tag für so etwas natürlich zu schade.
Morgen war "Tag der offenen Tür" in der Ferienbetreuung ihres Sohnes. Die Eltern sollten dort sehen können, wo ihre Kinder zur Zeit ihre Tage verbrachten.
Obwohl ich dann endlich mal Tigran kennenlerne, dachte sie.
David ist so glücklich, er kann von nichts Anderem mehr reden. Ich glaub Jens macht sich langsam etwas Sorgen darüber. Ich finde, man sollte da nicht so viel reininterpretieren. Ich bin einfach froh, dass David einen Freund gefunden hat. Oft ist das ja noch nicht vorgekommen.
Aber was für ein komischer Zufall, dass er ausgerechnet Tigran heißt! Ein so seltener Name. Wie viele elfjährige Tigrans gibt es wohl in Deutschland? Oder kann es sein, dass... nein!




Für einen kurzen Moment hätte jeder die Überraschung in Birgits Gesicht erkennen können, der die Szene beobachtete.
David hatte sie in Richtung seines neuen Freundes und dessen Vater gezerrt.
Schnell beherrschte sie sich und verlieh ihrem Gesicht einen freundlich-harmlosen Ausdruck "Also Sie sind der Vater von Tigran, von dem ich schon so viel gehört habe?"
"Ja...ja...so ist es" antwortete der Mann unsicher.
"Mama, schau mal, was Tigran sich auf den Arm gemalt hat. Das sieht doch aus wie ein echtes Tatoo, oder?", fragte David seine Mutter begeistert.
"Das sieht echt cool aus. Du bist ja ein richtiger Künstler", wandte sich Birgit an den verlegen dastehenden Jungen, ohne das Muster auf dessen Unterarm überhaupt wahrzunehmen.
Hallo Tigran, dachte sie. Du siehst mittlerweile aus wie dein Vater. Als ich dich das letzte Mal gesehen hab, warst du noch ein Baby. Wie ich dich damals gehasst habe.
Tigran wandte sich an David "Ich kann dir das auch draufmalen. Komm mit, da hinten am Tisch sind Filzer"
"Ok, das wär echt geil!", stimmte David begeistert zu. Die Kinder entfernten sich.



"Hallo, Ashot", sagte Birgit mit beherrschter Stimme, nachdem die Kinder außer Hörweite waren.
"Hallo Birgit. Ich konnte es kaum glauben, als ich dich hier gesehen hab"
"Das geht mir genau so. Wohnt ihr etwa auch hier in Sindelfingen?"
Ashot nickte. "Seit drei Monaten. Ich hab hier eine Stelle bei Daimler angenommen. Und du? Was hat dich denn hierher verschlagen? Was für ein komischer Zufall!"
Birgit schwieg.
Einen Moment lang wussten beide nicht, was sie sagen sollten.
Dann lächelte Ashot. "Letztens lief Perfect Skin im Radio. Ich hab das seit damals nicht mehr gehört. Da musste ich gleich an dich denken"
"Sei doch nicht so sentimental", wehrte Birgit ab.
Ashot zog die Augenbrauen zusammen. "Hast du Jens die Sache mit uns eigentlich je erzählt?"
Birgit schüttelte entschieden den Kopf "Für was wäre das gut gewesen? Das könnte er mir nie verzeihen. Kurz danach war ich ja außerdem schon schwanger. Und Petra und du hattet doch euren Tigran. Es ist gut so, wie es ist"
Ashot nickte. Für eine Weile schwiegen beide.
Dann sagte Ashot gerührt: "Dein David ist so ein sympathischer Junge. Ich bin wirklich froh, dass Tigran einen Freund gefunden hat. Er ist sonst ein Einzelgänger. Das liegt wohl vor Allem daran, dass er so selten in der Schule und so oft im Krankenhaus war"
Birgit stutzte "Oh, das tut mir Leid. Was fehlt ihm denn?"
"Das ist so eine lange Geschichte" seufzte Ashot. "Er hat eine seltene Erbkrankheit. Die Ärzte sagen; von mir" Seine Stimme klang verbittert. "Ich hatte doch keine Ahnung, ich hab nur das Gen getragen, ohne es zu wissen. Und ich selbst bin ja nicht krank"
"Das ist doch nicht deine Schuld, Ashot. Was ist das denn für eine Krankheit?", fragte Birgit mit schneller Stimme. Plötzlich war sie nervös.
"Man nennt es familiäres Mittelmeerfieber. Das wird dir nichts sagen, denn in Deutschland existiert diese Krankheit praktisch nicht. Deswegen waren die Ärzte hier auch so ratlos. Vor zwei Jahren haben wir meine Eltern in Armenien besucht. Tigran bekam einen Schub, wir sind mit ihm dort ins Krankenhaus gefahren, haben den Ärzten die Symptome geschildert, und sie wussten sofort Bescheid. Anscheinend trägt ein Siebtel der armenischen Bevölkerung das auslösende Gen. Ich hatte doch keine Ahnung"
Birgit fuhr sich angespannt durch die Haare "Wie sehen diese Krankheitsschübe denn aus?"
"Tigran bekommt immer von jetzt auf gleich die übelsten Bauchschmerzen und hohes Fieber. Nach einigen Stunden verschwindet es von alleine"
Ein bleiernes Gewicht senkte sich auf Birgits Brust. Was zehn Jahre lang nur ein Verdacht gewesen war, wurde ganz plötzlich zur erdrückenden Gewissheit. Sie hatte das Bedürfnis, sich irgendwo hinzusetzen.
Ashot fuhr fort: "Ich mache den Ärzten hier keinen Vorwurf. Wie hätten sie darauf kommen sollen? Aber ich will nicht daran denken, wie viel wertvolle Zeit wir verloren haben"



Birgit wurde schwarz vor Augen.
"Was meinst du denn damit?" fragte sie mit bebender Stimme.
Ashot seufzte schwer. "Bei jedem Krankheitsschub werden Proteine in seine Organe geschwemmt und lagern sich dort an. Unbehandelt stirbt man daran früher oder später"
Birgit fühlte sich taub. Das ist ein Film. Ein schlechter Film.
Zitternd drehte sich sich zu ihrem Sohn um. David saß auf einer der Bänke und lächelte glücklich. Sein Halbbruder war mit der Zeichnung auf seinem Unterarm fertig geworden und legte ihm jetzt freundschaftlich den Arm um die Schulter.
Birgit sammelte ihre Kräfte. Sie wusste, was sie jetzt tun musste.
"Ashot. Kommt doch heute Abend alle zu uns zum Essen. Du und Petra und natürlich Tigran. David würde sich so darüber freuen. Außerdem haben wir viel zu besprechen"
 
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Silvita

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Liebe Juliawa,

die Geschichte hat einen Einstieg. Ich kann mir die Szene bildlich vorstellen und die Neugierde wird geweckt. Immer wieder deutest Du ganz leicht an, das es Geheimnisse gibt, was die Spannung aufrechterhält und mich zum Weiterlesen animiert. Anfangs bist Du recht detailliert, im Verlauf wird der Stil dann etwas abgehackter. David ist mir sehr sympathisch und ich möchte herausfinden, was er für eine Krankheit hat. Auch das Geheimnis um Tigran will ergründet werden. Während des Lesens frage ich mich, ob die beiden Brüder sind? Haben die Eltern einen Jungen zur Adoption freigegeben? Oder ist der Ehemann fremdgegangen und hat ein Kind mit einer anderen?

Perspektivwechsel und Ortswechsel kommen teilweise sehr abrupt.

Dann kommt die überraschende Auflösung des Geheimnisses, mit der ich als Leser nicht gerechnet habe. Sehr gut! Das hast Du super gemacht.
Die Neugierde ist geweckt und ich würde auf jeden Fall weiterlesen.

Anbei einige Dinge, die mir aufgefallen sind und die man verbessern könnte. Sind natürlich alles nur Vorschläge.

Alles in allem gefällt mir Dein Schreibstil. Ist angenehm und flüssig zu lesen.

Liebe Grüße,

Silvita
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Zitat Juliawa: Jetzt bemerkte er einen Jungen, der an der letzten Haltestelle zugestiegen war und der ihm schräg gegenüber saß. Er schien ähnlich aufgeregt, schaute starr aus dem Fenster und vermied Blickkontakt mit den anderen.

Besser: Er bemerkte einen Jungen, der ihm schräg gegenüber saß. Er war an der letzten Haltestelle zugestiegen und wirkte ähnlich aufgeregt, schaute starr aus dem Fenster und vermied Blickkontakt zu den anderen.

Zitat Juliawa: Vorsichtig betrachtete er sein Gesicht. Er hatte schwarze Haare und braune Augen und sah irgendwie ungewöhnlich aus. Während der restlichen Fahrt beobachtete David ihn heimlich und fasziniert aus dem Augenwinkel. Der Junge löste ein warmes Gefühl in seiner Magengegend aus.
„Vorsichtig“ hattest Du grad schon im oberen Absatz. Ich würde einfach weiter fortfahren in der Beschreibung des anderen Jungen, dann wird der Lesefluss nicht gestört.
Besser: …zu den anderen. Der Junge hatte schwarze Haare, braune Augen und sah irgendwie ungewöhnlich aus. Er löste in David ein warmes Gefühl in der Magengegend aus, was dazu führte, dass er den Jungen während der restlichen Fahrt heimlich aus den Augenwinkeln beobachtete.
„Fasziniert“ kannst Du weglassen, das zeigt der Text ja schon. Unnötiges Adjektiv.

Zitat Juliawa: Er hieß Paul und war in seiner Klasse auch eher ein Außenseiter, so hatte sich das ergeben.
„….so hatte sich das ergeben… kannst Du streichen. Das erfährt der Leser aus dem Kontext, somit ist es unnötig.

Zitat Juliawa: Sie saßen nebeneinander und sprachen während des Essens einige Sätze über die Schule, aber das Gespräch verlief schleppend und wurde langsam ein bisschen unangenehm.
„während des Essens“ kannst Du streichen, das ist für den Leser logisch.

Zitat Juliawa: Als der Junge seinen Blick bemerkte, schaute er sofort weg und konzentrierte sich mit großer Hingabe auf seinen Früchtetee.
Woher weiß David, dass es Früchtetee ist? Kann er den Teebeutel sehen?

Zitat Juliawa: Nach dem Frühstück wartete eine Enttäuschung auf ihn. Die Freizeitaktivitäten waren an Tag 1 nach Altersklassen unterteilt und seine Busbekanntschaft gehörte offenbar zu den Elf-bis Dreizehnjährigen. Den restlichen Tag über hatte er daher keine Gelegenheit mehr, ihn zu sehen.
Der Comic-Zeichen-Kurs, zu dem er eingeteilt worden war, war enttäuschend. Seinen Schulkameraden hatte er unter dem Gewimmel der anderen Kinder inzwischen aus den Augen verloren. Das war ihm eigentlich ganz recht.

In 2 Sätzen hintereinander „Enttäuschung“ und „enttäuschend“.

Zitat Juliawa: Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung musste David seinen Plan also verwerfen.
Hier hast Du schon wieder „Enttäuschung.“

Zitat Juliawa: Seit diesem Vorfall waren David und Tigran unzertrennlich. Von der Hinfahrt morgens im Bus bis zum Aussteigen Tigrans an der Plattenbau-Haltestelle sah man die Beiden nur noch zu zweit.
…die beiden… schreibt man klein

Zitat Juliawa:b"Warum bist du immer so verspannt?", fragte Jens seine Frau, während er ihre nackten Schultern massierte.
Birgit hatte gerade geduscht, während er sich vor dem Badezimmerspiegel rasierte.

Wie kann er sich gleichzeitig rasieren und ihre Schultern massieren?
Es müsste heißen: …sie hatte sich geduscht, während er sich rasiert hatte…

Zitat Juliawa: Morgen war nämlich "Tag der offenen Tür" in der Ferienbetreuung ihres Sohnes. Die Eltern sollten dort mal sehen können, wo ihre Kinder zur Zeit ihre Tage verbrachten.
…nämlich würde ich streichen, klingt sehr umgangssprachlich…
…mal sehen…., „mal“ würde ich streichen, da unnötig

Zitat Juliawa: Obwohl ich dann endlich mal Tigran sehe, dachte sie.
„sehen“ hattest Du grad obendran schon
 

juliawa

Mitglied
Hallo Silvita,

Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar! Ich habe mich sehr über deine lobenden Worte gefreut. Deine Anmerkungen sind ausgesprochen hilfreich für mich.

Anfangs bist Du recht detailliert, im Verlauf wird der Stil dann etwas abgehackter.
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Perspektivwechsel und Ortswechsel kommen teilweise sehr abrupt.
Da hast du Recht! Ich wusste aber nicht, wie ich das anders hätte lösen sollen, da der Text bereits jetzt ziemlich lang ist und ich die Geduld des Lesers ja nicht über die Schmerzgrenze hinaus strapazieren will.

Während des Lesens frage ich mich, ob die beiden Brüder sind?
Ich hoffe noch nicht zu Beginn des Textes? Ich hatte geplant den Leser erst am Ende der Geschichte damit zu überraschen und am Anfang nur Hinweise einzustreuen, die sich im Nachhinein zusammenfügen. Aber ich bin mir immer unsicher, wie der Leser den Text wahrnimmt. Ob die Auflösung schon zu früh offensichtlich ist oder ob sie im Gegenteil, zu abrupt kommt und dadurch konstruiert wirkt.


Deine Vorschläge sind alle sehr gut! Vielen Dank dafür! Ich werde den Text in den nächsten Tagen entsprechend anpassen.

Liebe Grüße,
juliawa
 



 
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