Die Busfahrt

Timmmmmmmmy

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An einem Wintermorgen vor vielen Jahren, als ich noch die Schule besuchte (es müsste die 8. oder 9. Klasse gewesen sein), wartete ich an unserer Haltestelle auf den Schulbus. Wie immer kam er pünktlich. Beim Einsteigen in das stickig warme Innere zeigte ich dem Fahrer mein Ticket. „Morgen, Herr Diehsel. Sie sind heute doch glatt eine Minute zu spät.“ Das sagte ich nur, um ihn aufzuziehen (in der Schule war ich der Klassenclown, müssen Sie wissen). Doch natürlich kam sein Bus stets auf die Minute genau an. Wäre unerwartet seine Route durch eine Baustelle blockiert gewesen, und hätte sich auf der eingerichteten Umleitung ein schlimmer Unfall direkt vor ihm ereignet, hätte die anrückende Feuerwehr ihn deshalb in eine Seitengasse umgeleitet, in der gerade eine Demonstration stattfinden würde, wäre dann noch eine totale Sonnenfinsternis der Grund, dass alle Fahrzeuge vor ihm anhielten und deren Fahrer mit aufgerissenem Mund Richtung Himmel starrten, und wäre in diesem Moment noch ein Meteoroid knapp neben ihm eingeschlagen – dann, vielleicht unter diesen Umständen, wäre Herr Diehsel jene eine Minute zu spät gekommen. Aber selbst dann hätte er es wohl geschafft, im täglichen Verkehrschaos unseren Schulbus sicher zu manövrieren: vorausschauend bremsend, wenn ein Mercedesfahrer mit Klorolle auf der hinteren Hutablage (dezent versteckt in dem liebevoll verziertem Häkelhut) mal wieder einen Herzinfarkt erlitt; rechtzeitig ausweichend, wenn ihn mit brüllendem Motorgeschrei ein SUV seitlich schnitt. Gelassen bei all den ausgestreckten Fingern, all den Flüchen, die sich stets nur um die schönste Nebensache der Welt zu drehen schienen (was ich damals noch nicht wissen konnte). Sämtliche dieser Tsunamiwellen, die sich drohend über ihm auftürmten, umschiffte er geschickt.

„Setz Dich hin, Blödmann, und quatsch den Fahrer nicht an!“, pöbelte mich ein Junge aus der Parallelklasse an. Sein Finger, der mich gerade noch in den Rücken gepiekst hatte, zeigte nun auf das Schild über dem Fahrer: Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen. Wie erbärmlich, dachte ich mir. Das müssen so um die 800 Menschen sein, rechnete ich mir aus. 800 Menschen, die er täglich durch diese verrückte Stadt kutschiert. 4000 bei einem Fünftage-Job. Und keiner dieser 4000 Menschen sollte mit ihm sprechen dürfen?

In der zweiten Reihe setzte ich mich rechts vom Gang auf einen freien Platz. Neben mir zuckte Magda aus der Klasse unter mir unweigerlich zusammen. Sie verschränkte ihre massiven Arme, um ihre Fleischmassen nicht auf meine Seite schwappen zu lassen. Falls Magda in einer Woche auch 4000 Menschen begegnen würde, so sähe ihr sicherlich kein einziger davon in die Augen, geschweige denn, spräche mit ihr, malte ich mir grinsend aus.

Das Licht der Morgendämmerung schimmerte mir von Diehsels Halbglatze entgegen. Im Rückspiegel konnte ich erkennen, dass er heute morgen wohl einen Krapfen zum Frühstück hatte: Puderzucker hing an seinem Schnauzer (vielleicht kokst er ja auch nur, dachte ich spöttisch), ein Fleck Pflaumenmus klebte an seinem Hemdkragen. Als sich der Bus in Bewegung setzte, baumelte ein kleines Kreuz an seiner Halskette. Die müden Lichter der Straßenlaternen tanzten benommen durch die Scheiben des Busses: erst langsam, dann schneller, bis wir schließlich auf die Hauptstraße einbogen. Der Motor summte sein einschläferndes Lied, der Sitz unter mir vibrierte sanft. Lediglich die Schlaglöcher verhinderten, dass ich einnickte (und Gott behüte – auf Magdas waberndem Oberarm aufwachen sollte).

Herr Diehsel steuerte den Bus mit ausufernden Bewegungen. Selbst eine kleine Kurskorrektur schien von ihm zu verlangen, dass er das gigantische Lenkrad mehrmals im Kreis drehen musste. Absolute Hingabe. Stets mit beiden Händen am Steuer. Auch wenn ihn der Fahrer eines entgegen kommenden Busses mit einem kollegialen Winken grüßte, quittierte er dies lediglich mit einem Nicken. Der Rückspiegel zeigte mir, dass er dabei nur leicht die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog. Nur soweit, dass der Puderzucker an seinem dekorativen Platz hängen bleiben konnte.

Wie immer blieb ich als letzter im Bus sitzen, nachdem wir den Schulhof erreicht hatten. Lass die Streber doch als erste in die Klasse rennen, dachte ich mir. Außerdem konnte man so am besten erkennen, welches Mädchen heute einen Rock trug, welches die Haare offen hatte, welches sich eventuell kurz zu mir umdrehen würde (nachdem ich sie natürlich alle mit dem Fuß in die Wade zu stupsen versuchte hatte). Gekonnt inszeniert gähnte ich beim Aussteigen und rief ein „Ciao Alter!“ hinterher. Dann sagte Herr Diehsel etwas. Das erste mal, dass ich seine Stimme hörte. Doch er sprach nicht zu mir. „Magda, du siehst heute aber wieder bildhübsch aus. Übrigens: der Krapfen, den du mir gestern geschenkt hattest, war sehr lecker.“ Und Magda antwortete: „Keine Ursache. Freut mich, wenn er Ihnen geschmeckt hat. Hat meine Mama selbst gemacht. Soll ich Ihnen morgen auch mal welche für Ihre Kinder mitbringen? Äh, Sie haben doch Kinder, oder?“ Schweigen. Nochmal Magda: „Alles ok, Herr Diehsel?“ - „Schon gut, das konntest du ja nicht wissen. Es tut nur noch immer so weh.“ - „Was denn?“ Zögerlich, fast flüsternd: „Ich verlor meine Frau und meine kleine Tochter bei einem Unfall. Acht Jahre ist das her. Ich... ich hatte einfach die Kontrolle über den Wagen verloren.“

Sengende Scham stieg in mir auf; eine Faust schien sich tief in meine Eingeweide zu graben. Es war nach jener Busfahrt, dass ich zum letzten mal einen Menschen nur von außen betrachtete.
 

Blumenberg

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Hallo Timmmmmmmmy,

willkommen in der Leselupe. Ich habe mir deinen Text mal vorgenommen. Die Idee der Geschichte finde ich nicht verkehrt und auch der Twist am Ende gefällt mir. Trotzdem finde ich, ließe sich noch etliches daran arbeiten.

Zunächst etwas Grundsätzliches. Die Geschichte wirkt durch deine Wahl der Vergangenheit in Kombination mit einem Ich-Erzähler sehr behäbig. Ich würde mal versuchen das Ganze in die Gegenwart zu verlagern, dann wirken die Empfindungen und Reaktionen deines Erzählers unmittelbarer und der Text wird ein wenig beschleunigt. Der behäbige Eindruck wird durch die ausufernden Satzkonstruktionen noch verstärkt. Ich würde hier deutlich zu straffen versuchen. Gerade bei einer so kurzen Geschichte sollte nicht zu viel unnötiger Ballast an Details den Text aufblähen, versuch lieber weniger, aber dafür präzise Details zu verwenden.

Das gilt auch auf inhaltlicher Ebene Ein Beispiel: Fast der gesamte erste Absatz beschreibt einen einzigen Gedanken. Der steht gleich im zweiten Satz des Abschnitts („Wie immer kam er pünktlich.“). Alles was danach bis zum Absatzende kommt ist mehr oder weniger Wiederholung dieses Inhalts.
Außerdem scheinen mir ein paar Dinge nicht so recht stimmig.

Im zweiten Absatz stößt ihn ein andere junge an und sagt: „Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.“ Als er das sagt, steht der Bus aber an der Haltestelle. Auch der letzte Satz des Abschnitts („Und keiner dieser 4000 Menschen sollte mit ihm sprechen dürfen?“) passt nicht recht, man darf ja zumindest kurz mit dem Fahrer sprechen, und tut das für gewöhnlich auch. Das finde ich an dieser Stelle aber ehrlich gesagt nicht so tragisch, weil mir die Rechenidee gefällt.

„Wie erbärmlich, dachte ich mir. Das müssen so um die 800 Menschen sein, rechnete ich mir aus. 800 Menschen, die er täglich durch diese verrückte Stadt kutschiert. 4000 bei einem Fünftage-Job. Und keiner dieser 4000 Menschen sollte mit ihm sprechen dürfen?“ Hier fehlt für mich für der Ausgangspunkt für das Rechenspiel. Wenn du zum Beispiel ein „ich sah den Mittelgang entlang“ einstreust, verschwindet dieser Ruckler.

„Der Rückspiegel zeigte mir, dass er dabei nur leicht die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog.“ Hier könntest du den Rückspiegel streichen.
„(nachdem ich sie natürlich alle mit dem Fuß in die Wade zu stupsen versuchte hatte)“ Den Einschub braucht´s nicht. Durch die Monologe ist das pubertäre Wesen des Protagonisten bereits deutlich genug.

„Das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte.“ Das ist ein bisschen dick aufgetragen, hier braucht es keine Steigerungsform. Der Satz bzw. die Behauptung erscheint nicht recht glaubwürdig..

„Sengende Scham stieg in mir auf; eine Faust schien sich tief in meine Eingeweide zu graben. Es war nach jener Busfahrt, dass ich zum letzten Mal einen Menschen nur von außen betrachtete.“

Auch die Schlussätze finde ich drüber, vor allem den zweiten. Ich würde darauf verzichten dem Leser noch die Moral von der Geschicht auf die Nase zu binden. Dass der Junge sich schämt, ich glaube darauf kommt der Leser von allein.

Jetzt ist so eine Menge Kritisches zusammengekommen, da will ich wenigstens mit etwas Positiven schließen. Ich finde du hast den pubertierenden Teenie als Ich-Erzähler schon ziemlich glaubwürdig getroffen.

Liebe Grüße
Blumenberg
 

Timmmmmmmmy

Mitglied
Hey Blumberg,

Vielen Dank für die griffige Kritik. Damit kann ich etwas anfangen. Eigentlich muss / darf ich dir in jedem Punkt recht geben: ich habe die Geschichte unnötig zu konstruieren versucht. Der einfache Gedanke (ein pubertierender Jugendlicher schämt sich für seine Oberflächlichkeit) wäre eigentlich fast leichter zu extrahieren gewesen.

Das war einfach nur mal ein erster Versuch für eine Kurzgeschichte, basierend auf einer Lernübung der "Schule des Schreibens" (im Forum gibt es hier noch eine zweite derartige Kurzgeschichte, die Herrn Diehsel, den überpünktlichen Busfahrer in einer alltäglichen Situation beschreiben soll - interessanterweise kommt auch hier als Überraschung das Thema "Tod" hinzu).

Danke nochmals und viele Grüße
 
Hallo Timmmmmy,

mir gefällt deine Geschichte insgesamt, auch wenn ich Blumenberg in den meisten Kritikpunkten zustimme. Trotzdem ist der Text interessant und lässt sich gut lesen.

Was mir aufgefallen ist:

. Das sagte ich nur, um ihn aufzuziehen (in der Schule war ich der Klassenclown, müssen Sie wissen). D
Es ist vielleicht nur eine persönliche Aversion, aber ich mag es nicht, wenn auf einmal der Leser angesprochen wird ("müssen Sie wissen"). Dass der Protagonist Klassenclown ist, kann ruhig erwähnt werden, aber halt nicht so.

LG SilberneDelfine
 

Timmmmmmmmy

Mitglied
Hi SilberneDelfine ,

Auch dir vielen Dank für diesen Punkt.

Meine lessons learned: spendiere mehr Zeit vorab und überlege dir genau, was die Geschichte erzählen soll, und wie man vorgehen muss.

Ich hatte diese Kurzgeschichte immer wieder revidiert: zunächst hatte ich aus der Sicht des Schülers eine banale Busfahrt geschildert. Nicht retrospektiv, sondern unmittelbar. Anfangs war der Erzähler auch neutral, also zumindest nicht unsympathisch. Er empfand Mitleid mit dem Fahrer, mit dem man nicht sprechen sollte. Erst dann kam mir die Idee mit dem oberflächlichen Teenager mit dem großen Lästermaul. Also wurden Passagen umgeschrieben. Dann sagte man mir, dass kein derart geschwollene Ausdrücke verwendet - besser wäre gewesen, die Formulierungen zu straffen und natürlicher erscheinen zu lassen. Stattdessen habe ich den Erzähler einfach älter gemacht und ihn seine Vergangenheit aufbereiten lassen.

Danke nochmals für alle Tipps. Wenn ich Zeit habe, schreibe ich die Geschichte nochmal "from scatch" ordentlich ,
 



 
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