Die Chippendales

Aledi

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Die Chippendales

Der Flur lag im Halbdunkel. Nur das Flackern und das leise Knistern vom Feuer im Kaminofen war zu hören. Überheblich schaute die Vitrine auf ihre Artgenossen. „Ach wie war das doch schön, als wir im Salon der Herrschaften in Berlin standen. Dort wurde gefeiert, gelacht und gegessen. Prominente gaben sich die Tür in die Hand. Das waren noch Zeiten.“ Der runde Glastisch mit den Goldbeinchen zischte zurück: „Fang jetzt nicht wieder davon an. Vorbei ist vorbei. Hier ist es doch auch schön.“ „Hört auf, zu streiten!“, rief der Polstersessel. Jetzt mischte sich das vorlaute Beistelltischchen auch mit ein: „Wo ist eigentlich der Sekretär geblieben? Hat den einer gesehen?“ Alle schauten sich um, aber niemand wusste, wo dieser abgeblieben war. Die Vitrine, die alles besser wusste, fing an zu kichern: „Vielleicht ist er schon auf dem Müll gelandet.“ Gerade wollte der Tisch etwas dazu sagen, kam der Hausherr mit zwei Gemälden in den Raum. Diese stellte er an die Wand ab. Die Bilder machten einen betrübten Eindruck. Nach einer Weile hörte man auf der Treppe ein Stöhnen. Der Hausherr und seine Frau trugen den alten Sekretär von Stufe zu Stufe vorsichtig nach unten. Auch dieser wurde zu den anderen gestellt. Fragend schaute der Sekretär in die Runde: „Was ist denn hier los? Was steht ihr da so bedröppelt herum?“ Ängstlich fragte der Beistelltisch: „Warum werden wir hier alle hingestellt? Was passiert mit uns?“ Der Sekretär antwortete: „Nun, mein Kleiner, wenn wir Glück haben behalten sie uns.“ „Wenn nicht?!“, rief der Hocker. Der alte Sekretär räuspert sich, bevor er weitersprach: „Da wir alle schon sehr betagt sind, müssen wir damit rechnen, dass wir als Sperrgut an die Straße gestellt werden.“ „Was ist Sperrgut?“, wollte das Gemälde wissen.
„Das ist, wenn der Hausherr sich einen Abholtermin bei der Müllabfuhr geben lässt. An dem Tag stellt er die alten Sachen vor dem Grundstück ab. Dann kommt der große Müllwagen. Alle Teile, die er aufnimmt, werden gleich in einer Presse geschreddert.“ Stille trat ein. Plötzlich schrie die Vitrine: „Nein, das können die doch nicht mit uns machen!“ Leise fing sie an zu weinen. Der aufgerollte Teppich hatte alles mitangehört. „Mich hat man aus dem Wohnzimmer geholt. Ich habe gehört, wie die Frau gesagt hat, dass sie einige Möbel mit herübernehmen will.“ Neugierig geworden fragte der Beistelltisch: „Wo rübernehmen?“ Etwas verärgert erwiderte der Teppich: „Woher soll denn ich das wissen.“ Die Vitrine hatte sich von ihrem Schock erholt und sagte: „Mich wird man nicht auf den Müll werfen. Ich bin doch so schön.“ Der alte Sekretär fing an zu lachen: „Was bildest du dir eigentlich ein? Schau mal in den Spiegel. Du bist genauso alt wie wir. Das vergisst du immer wieder.“ Die anderen Möbel nickten zustimmend. Langsam wurden alle müde. Es war ein langer Tag gewesen.

In der Früh wurden die Chippendalemöbel durch Stimmengewirr geweckt. Der Hausherr und zwei fremde Männer trugen die Möbel in die Garage. Dort wurden sie auf einen Anhänger geladen. Oben im Flur stand nur noch die Vitrine. Zitternd vor Angst, dass man sie vergessen haben könnte, dachte sie über ihr Verhalten nach. Dann kam der Hausherr mit seiner Frau. Diese fragte ihren Mann: „Warum kommt die Vitrine nicht mit?“ Der Hausherr antwortete: „Der Anhänger ist voll.“ Die Frau kam auf den Schrank zu und begutachtete ihn. „Der muss auch mit. Der passt doch gut zum Sekretär.“ Ihr Mann überlegte: „Meinst du?“ „Ja, wo soll ich denn all die schönen Gläser lassen?“ „Na gut, wenn du meinst. Dann müssen wir noch einmal hier herkommen.“
Somit blieb die Vitrine zurück. Das Alleinsein war für sie eine Strafe. Panik machte sich in ihr breit. Würde man sie abholen? Ein Tag war vorüber. Hatte man sie vergessen? Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie gehässig sie gewesen war. Nach zwei Tagen wurde sie abgeholt.

Im neuen Zuhause wurde die Vitrine nicht gerade freundlich empfangen. Als man sie an die leere Wand stellte, fing der festlich geschmückte Tannenbaum, der vor dem Fenster stand an zu lästern. „Oh, wen haben wir denn da. Noch jemand mit Dackelbeinen.“ Stolz sah die Vitrine den Baum an und sagte: „Wir sind Chippendalemöbel und haben nun mal krumme Beine. Das ist unser Markenzeichen. Wir stammen aus dem 18. Jahrhundert und sind edle Möbel.“ Der Tannenbaum konnte nicht an sich halten und prustete heraus: „So uralt seid ihr schon?“ „Ja“, sagte die Vitrine. „Du wirst nie so alt werden. Du nadelst doch schon nach einer Woche. Danach wirst du entsorgt.“ Daraufhin zog sich der Baum schmollend zurück. Der Sekretär, der ihr gegenüber an der Wand stand, grinste: „Na, hat man dich doch noch geholt? Wir dachten schon, dass du in die Müllpresse gelandet bist.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Verdient hättest du es. All die Jahre hast du dich nur über uns lustig gemacht.“ Demütig senkte die Vitrine ihren Blick. „Du hast ja recht“, erwiderte sie kleinlaut. Der Sessel schwärmte: „Hier ist es viel schöner als in Berlin. Guckt euch doch mal die goldenen Tapeten an. Und erst die schönen luftigen Gardinen.“ Der Teppich, der unter den Möbeln lag, sagte mit Stolz in der Stimme: „Hier kann man sich richtig wohlfühlen.“ Die Vitrine holte zum Reden aus. Die anderen dachten: „Jetzt geht das schon wieder los, mit ihrer Hochnäsigkeit.“ Aber nein. Leise sagte sie: „Ich möchte mich bei euch für mein Verhalten entschuldigen. Als ich so allein im Flur stand, wurde mir klar, dass ihr doch meine Freunde seid.“ Der kleine Beistelltisch kicherte: „Das ist dir aber sehr spät eingefallen.“

Der geschmückte Tannenbaum, der vor dem Fenster stand, strahlte in einem herrlichen Licht. „Freunde!“, rief er. „Es ist Weihnachten. Da wollen wir nicht streiten. Lasst uns feiern.“
 



 
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