"Offenbar schrien die Kinder fast eine ganze Nacht lang, als der Äther sie heimrief. Ich halte das für dummes Geschwätz. Die Leichen waren derart zugerichtet, dass von einer so brachialen Gewalteinwirkung ausgegangen werden kann, dass keines lange überlebte. Du kannst dir das nicht vorstellen, Aleksis. Bei fast allen waren die Brustkörbe aufgerissen, einigen fehlten sogar die Eingeweide. Und dann die Schädel! Ein unnatürlicher Anblick. Entstellt, als wären sie auf unnatürliche Weise verformt worden, unmenschlich. Die Köpfe wirkten, als hätte sie jemand mit heißem Wasser aufgegossen, durchzogen mit roten Schwellungen, herangewachsen auf die fast doppelte Normalgröße. Die Augen komplett durchzogen mit geplatzten Adern. Irgendetwas hat einen kolossalen Druck auf die Köpfe ausgeübt. Ich kann es gar nicht beschreiben, was auch immer dahintersteckt, die Kinder ... "
Mein Husten unterbrach den hysterischen Bericht meines Präfekten, Lem. Die stickige Luft des Sonderzuges setzte mir zu. Ich entschuldigte mich, stand auf und öffnete ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Die salzige Seeluft half gewöhnlich bei meinen Anfällen. Der Windzug war heftig, und erst da wurde mir bewusst, mit welch unglaublicher Geschwindigkeit wir über die Dachstraße glitten. Diese lange, schienenbesetzte Brücke verband das Festland mit der Insel Rostblatt – ein technisches Wunder aus der Vorkriegszeit. Mir wurde schwindelig und in einem kurzen Moment der Anspannung sah ich auf mein Taschentuch. Kein Blut. Erleichterung.
"Was war mit den Kindern?", deutete ich an Lem, damit er mit dem Bericht fortfuhr.
"Die Kinder, wie gesagt, was auch immer mit denen passiert ist, ihre Leichen, Aleksis, sie schauen aus wie kleine Monster. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Selbst die Toten am Leinesberg haben hübscher ausgesehen und das will was heißen, sage ich dir, wir sind ... "
Der Bericht von Lem schien plötzlich abzubrechen, als er wieder in Erinnerungen abschweifte. Die Schrecken von Leinesberg waren bekannt und eines der großen Traumata der Schlachten gegen die Altfordernden. Doch dieser Fall war etwas anderes. Eine Kälte durchzog mich, als ich daran dachte, dass diese Kinder einem grausamen Schicksal zum Opfer gefallen waren, einem Schicksal, das wir noch nicht begreifen konnten.
Lem begann wieder hektisch zu blinzeln als er weiter in seinen Erinnerungen versank, sein Geist war jetzt wieder im großen Krieg. Wie so oft fiel er zurück in jene Zeit der Verachtung, die unser aller Geißel ist. Er fing an von der Kleysschlacht zu erzählen und hetzte gegen die nach seiner Sicht unfähigen Kommandanten seines Korps. Ich selbst hatte nur Bilder von den Toten am Leinesberg gesehen. Ein Zeugnis menschlicher Grausamkeit. Obwohl die Besatzung mehrmals versucht hatte, aufzugeben, wurden sie vom Feind in die Bergfeste eingeschlossen. Wer es irgendwie schaffte, aus der Anlage zu entkommen, wurde von den feindlichen Linien sofort erschossen. Anschließend räucherten die Soldaten der Altfordernden die Trupps mit Schalgranaten aus, welche das teuflische Gas aus den Fabriken von Koherendt enthielten. Die Haut der gefallenen Soldaten wurde komplett zersetzt, die Leiber konnten nur noch an den Uniformen und den Dienstmarken identifiziert werden.
"... über zwei Tage mussten wir warten, bis wir die Leichen bergen konnten. Stell dir das mal vor! Wir hatten drei Pumpen, die das Gift aus den Bunkern saugten, normalerweise dauert so etwas keine Stunde! Doch diese elende Liga! Die wollten die Festung nicht einnehmen, sage ich dir, diese Perversen wollten nur unsere Jungs zersetzen! Sogar gelacht haben sie, während unsere Meute elendig verreckt ist! Und das alles wegen dem scheiß Buch, wenn ich ... ", redete sich Lem in Rage.
"Lem", unterbrach ich ihn.
"Ja, Aleksis?", antwortete er, etwas verdutzt.
"Du wolltest mit deinem Bericht fortfahren, über die verstorbenen Kinder und der Galerie", erinnerte ich ihn.
"Aja, entschuldige, Aleksis, ich war gerade wieder am Leinesberg. Die Kinder, also sie waren jedenfalls furchtbar entstellt und der offiziellen Version der Wortresidenz glaube ich kein Wort, sicher nicht", antwortete Lem.
"Wo sind die Leichen jetzt? Wer kümmert sich um sie?", erkundigte ich mich.
"Sie wurden nach Zetha gebracht und dort ordentlich seziert. Die Detailergebnisse findest du in dieser Mappe. Das geschriebene Geschwurbel verstehe ich nicht. Der Arzt erklärte mir jedoch, dass in den meisten Fällen keine eindeutige Todesursache festgestellt werden konnte. Es gab zu viele Schäden. Bei den meisten führten wohl die Gehirnblutungen zum Tode. Super Einsicht, dachte ich mir, da wäre ja jeder Narr daraufgekommen", spottete er.
"Was hat man den Angehörigen gesagt? Die Presse schreibt, ein Unfall wäre für die Todesfälle verantwortlich. Angeblich soll Miritium aufgrund eines uralten Baufehlers aus den Werkstätten in die Belüftung gekommen sein", hielt ich fest.
"So ein Blödsinn! Ja, Mitrium wird schwer unterschätzt, doch würden die Leichen nicht so aussehen. Die Angehörigen haben übrigens die Körper nie zu Gesicht bekommen, sie wurden nach der Obduktion sofort eingeäschert. Wäre das ein Skandal gewesen, hätte es Aufnahmen gegeben! Ist auch recht so. Keine Eltern sollten ihre Kinder so sehen. Sie sind verreckt, das ist alles, was die schließlich wirklich wissen müssen. Der Rest ist jetzt Staatsache! Viel Glück wünsche ich uns!", antwortete Lem.
Er unterbrach unseren Augenkontakt und sackte etwas im Sitz zusammen. Er blickte aus dem Fenster und hatte Tränen in den Augen. Ich hatte sofort bemerkt, dass die ganze Sache mit den Kindern ihm stark zusetzte. Sein ruppiges Wesen, angereichert mit einer guten Dosis Zynismus, wirkte auf viele seiner Mitmenschen geschmacklos. Generell löste Lem Unbehagen bei den Leuten aus, er hatte seinen linken Arm bei einer Granatenexplosion eingebüßt und sein Gesicht war durchzogen mit Narben. Wir waren fast im gleichen Alter, um die vierzig, doch wirkte er deutlich älter. Es waren ihm fast keine Haare mehr geblieben und er hatte ständig irgendwo Tabak auf seiner Kleidung, der aus der Dose kam, die er angeblich schon als Kind bei sich trug.
Ich traf ihn gleich nach dem großen Krieg, als er noch als Unteroffizier bei einem der Freikorps angeheuert war. Er hatte sich mit seinen Vorgesetzten überworfen, da diese einige seiner Kameraden aus der Truppe schmeißen wollten. Die Verkrüppelten wären zu teuer geworden und das einstige Mitleid verwandelte sich in Abscheu und Verachtung. Die Kameradschaft, die in den Schützengräben das Überleben der Männer sicherte, wich der Profit- und Machtgier der höheren Ränge. Lem wollte dies nicht hinnehmen und wurde aktiv. Er fing an, den höheren Rängen nachzustellen und lauerte ihnen bei den regelmäßigen Kneipen- und Puffbesuchen auf. Mit der Hoffnung auf kompromittierendes Material, wollte er sie ausspionieren und anschließend erpressen, um eine Absicherung für seine invaliden Kameraden zu garantieren. Ein dann doch eher zweifelhafter Plan und keineswegs durchdacht, aber Lem erkannte ein Unrecht und begann zu handeln.
Ob er bei seinem Unternehmen Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück hatte, liegt wohl im Auge des Betrachters. Die Kommandeure trafen sich nämlich nicht zum Zechen oder Rumhuren, sondern planten die lokalen Gewerkschaften feindlich zu übernehmen. Als Lem dies erfuhr, ging er dann recht einfältig zu den Arbeiterführern, um sie zu warnen. Mit der Hoffnung, dass sie ihm diese Information mit einer Absicherung für seine invaliden Kameraden vergüten würden, verriet er sein Korps. Sie schickten ihn selbstverständlich ohne Kompensation fort. Doch die Arbeiterführer nahmen seine Warnung sehr ernst und marschierten direkt zur Kaserne. Dies führte zu einigen standrechtlichen Erschießungen und provozierte fast einen zweiten Bürgerkrieg in Pieth. Wir mussten einschreiten, damit ein Blutbad verhindert werden konnte. Nachdem das Korps aufgelöst war und wir die Rädelsführer des Lynchmobs liquidiert hatten, konnten wir uns mit den Gewerkschaften und Arbeiterführern einigen und sie überzeugen, von weiteren Aktionen abzusehen. Diese ganze Angelegenheit kostete ein Vermögen und bescherte mir und meinen Vorgesetzten einige schlaflose Nächte. Alle erzählten von dem komischen Vogel, der dies zu verantworten hatte. Ich wollte den Mistkerl finden.
Als ich Lem fand, hauste er bereits zwei Monate in einem Schuppen und kümmerte sich dort um seine invaliden Kameraden. Er hatte das ganze Chaos genutzt, um einige der Kriegsanleihen seines ehemaligen Korps zu stehlen und in Geld zu tauschen. Die im Kriege verwundeten Kameraden konnten jetzt auf eine zumindest bescheidene Zukunft hoffen. Lem ging davon aus, dass man ihn jetzt ausfindig machen würde und ihm seinen gerechten Prozess zukommen lassen würde. Sein Mordprozess, wie er es formulierte. Ein weiser Mann würde seine Strafe akzeptieren, so dachte er. Er wollte lieber in den Tod gehen, als sich weiter mit einer angeblich schuldigen Gesellschaft herumzuschlagen. Einen besonders weisen Mann konnte ich in ihm nicht sehen, doch sah ich ein Talent und Werkzeug, welches ich zu nutzen wollte. Außerdem hatte ich die Vorgehensweise meines Ministeriums, die Gewerkschaften mit den Freikorps durch feindliche Übernahme zu bändigen immer stark kritisiert. Daher sprach ich mit ihm und legte ihm sein Versagen dar, doch ich gab ihm auch eine Perspektive. Ich musste ihn nicht überzeugen, er überlegte nur eine kurze Weile. Mit dem Versprechen, dass ich seine Kameraden nach Übersee schicken würde, nahm er mein Angebot an. So wurde er zu meinem neuen Präfekten ernannt, da ich dringend einen neuen benötigte. Es war nur gerecht – schließlich war sein Vorgänger wegen ihm auf offener Straße in Pieth erschlagen worden.
„Wir müssen uns auf jeden Fall diese Zita genauer anschauen“, fuhr Lem fort, nachdem er sich wieder gefasst hatte. „Sie war ja immerhin die Schirmherrin der Kinder! Diese Frau hat sie definitiv nicht mehr alle! Hast du mal ihre Schriften gelesen? Das ist reines Geschwurbel! Hetzt gute, anständige Männer zum Desertieren auf!“, klagte er.
„Es geht hier nicht um persönliche Befindlichkeiten“, entgegnete ich Lem scharf.
„Ich sage ja nur, hast du jemals eines ihrer Bücher gelesen? Dieses pazifistische Gejammer und dann noch diese seltsame Esoterik. Wie ging das nochmal? Alle Materie ist beseelt? Pah, wenn das stimmt, müsste ich jeden Tag meine armen Schuhe um Vergebung bitten!“, lachte Lem.
„Nicht nur deinen Schuhen“, entgegnete ich ihm mit einem Lächeln und blickte demonstrativ auf seine zerschlissene Militärhose, die er am liebsten trug.
„Hah! Nicht jeder kann so ein vorbildlich seriöser Kerl sein wie du, Aleksis. Aber keine Sorge, ich habe alles dabei, um den perfekten Schlipsträger zu spielen!“ grinste er. „Obwohl, bei dieser Virnbrand wären Stahlkappen die bessere Wahl, glaube mir. Aber keine Angst, ich werde dich schon nicht vor der hohen Dame blamieren!“
Zita Virnbrand, zu jener Zeit einer der bekanntesten und umstrittensten Künstlerinnen unserer Zeit, war eine feste Größe der Wortresidenz, dem ältesten Kulturzentrum der Nordmark. Dort trafen sich die kreativsten Köpfe mit ihren Gönnern und Bewunderern. Das Anwesen selbst war gigantisch, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, darunter die besten Werkstätten für Bildhauerei, eine riesige Tanzhalle und die berühmte Felliet Konzerthalle. Im Zentrum befand sich das sogenannte Kunsthaus, ein fast religiöser Ort für aufstrebende Maler, denn hier wurde entschieden, welche Werke als große künstlerische Errungenschaften zu betrachten sind. Eine Empfehlung der Wortresidenz konnte einen einfachen Handwerker in einen Großkünstler der Reiche verwandeln. Gleichzeitig war die Residenz für ihre Isolation bekannt, nur wenigen wurde Zutritt gewährt. Ihre angebliche Neutralität und Förderung von Künstlern aller Konfessionen, Nationalitäten und Rassen machte sie zum Zentrum vieler Verschwörungstheorien. Selbst im großen Krieg kamen die verfeindeten Eliten hier zusammen, um dem Spektakel zu frönen. Aufgrund ihrer schwer erreichbaren Lage galt die Rostinsel als einer der sichersten und exklusivsten Orte der Welt.
„Wir sollten uns nicht von Vorurteilen leiten lassen, Lem. Es stimmt, Virnbrand war die Schirmherrin, aber sie ist erst seit kurzem in der Residenz. Wir kennen die Abläufe nicht. In so einer frühen Phase der Ermittlungen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist immer ein Fehler“, erklärte ich ihm.
„Ich habe ja nicht gesagt, dass sie durchgedreht ist und dafür verantwortlich ist. Aber solche Leute ziehen doch oft die verrücktesten Sonderlinge an! Ich verstehe auch nicht, wie eine Schriftstellerin in das Gremium der Galerie kommt.“
„Es liegt an ihrer Vielseitigkeit,“ erklärte ich. Zita Virnbrand brillierte auf mehreren Gebieten. Ihre Zusammenarbeit mit dem gefeierten Maler Viktor Benegramm brachten beeindruckende Werke hervor. Benegramm verstand es, ihre Sprachbilder in Gemälde zu übersetzen, die eine hypnotische Wirkung entfalten. Diese Arbeiten, inspiriert von Virnbrands Schriften über eine Existenz jenseits der menschlichen Sinne, sollten eine neue Daseinsebene andeuten. Gerüchten zufolge war Benegramm regelrecht besessen von ihr und hatte geschworen, nur noch unter ihrer Direktion künstlerisch zu wirken. Manche behaupteten, das sei nur ein simpler Vermarktungstrick, aber nach dem, was ich von ihren Gemälden gesehen habe, war ich überzeugt, dass mehr dahintersteckte. Doch die grausam entstellten Kinderleichen in der Galerie warfen unheimliche Fragen auf: Ein Ritualmord? Ich durfte noch keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Ich versuchte, Lem weiter zu erklären, warum die Galerie Zita aufgenommen hatte, und erwähnte erneut ihre Zusammenarbeit mit Benegramm.
„Für mich macht das trotzdem keinen Sinn, sie malt ja nicht selbst. Aber egal. Übrigens, du musst noch meine Ausreiseerlaubnis unterzeichnen. Nicht, dass mich Rostblatt sofort wieder rauswirft. Siehst du, Lem kann eben doch Bürokratie!“, lachte er und reichte mir ein zerknittertes Stück Papier.
Ich war überrascht; ich hatte bereits selbst ein unterzeichnetes Exemplar in meiner Tasche. Nie hätte ich gedacht, dass Lem es selbst organisiert hatte. Rostblatt, unter dem Schutz der Silfstaaten, war zu jener Zeit noch unabhängig, jedoch unter dem politischen Einfluss der Altfordernden. Aufgrund seiner kulturellen Bedeutung war es jedoch grundsätzlich schwierig, Druck auf diese Institution auszuüben. Zahlreiche Versuche, die Wortresidenz vollkommen auf eine Seite zu ziehen, scheiterten, da die Gremien kluge Diplomaten waren, keine verträumten Künstler. Es hatte einiges an diplomatischem Geschick erfordert, dass zwei Mitarbeiter des nornischen Innenministeriums einreisen durften.
Lem und ich nutzten die restliche Zeit der Fahrt, um unser Vorgehen weiter abzustimmen. Es würde schwer werden, brauchbare Informationen zu bekommen. Nur drei der sieben verstorbenen Kinder waren Staatsbürger von Nornien, zwei Mädchen und ein Junge, alle zwischen 7 und 9 Jahren alt. Unsere Befugnis reichte nur für die Untersuchung dieser Kinder. Das Innenministerium hätte die fragwürdige Version der Wortresidenz wohl akzeptiert, wäre eines der Mädchen nicht die Tochter des Vicomtes von Schubert gewesen. Es galt als unklug, unnötige Konflikte mit der Residenz zu provozieren. Doch Schuberts lauter Protest über die Kremierung seiner Tochter wegen angeblichen Miritium-Rückständen zwang uns zum Handeln. Trotz der Risiken war ursprünglich davon überzeugt, dass die Verschleierung des Zustands der Leichen richtig gewesen war.
Ich las den Obduktionsbericht der Kinder, den ich von Lem bekommen hatte; es war wirklich schrecklich. Der leitende Arzt hatte als Todesursache innere Blutungen angegeben, ausgelöst durch Verletzungen am Schädel. Weitere Verletzungen waren post-mortem entstanden. Das Interessanteste stand jedoch am Schluss: Eine Miritium Vergiftung konnte kategorisch ausgeschlossen werden. Ein anderes bekanntes Toxin, das solche Verletzungen verursachen könnte, war dem Arzt nicht bekannt. Er verwies lediglich auf das Gift von sogenannten Höhnen, einer Bärenart aus Oliestien, die hunderte Meilen von der Residenz entfernt lebt. Höchstunwahrscheinlich. Außerdem erklärte dies nicht die verstörenden Verformungen der Kinderschädel.
Die Veröffentlichung dieser Daten hätte einen Skandal ausgelöst und uns gezwungen, offen gegen die Residenz vorzugehen, was unsere Position gegen die Altfordernden weiter geschwächt hätte. Doch Schuberts Prestige und öffentliches Leiden waren bedrohlich genug, dass das Ministerium aktiv wurde. Niemand wollte unnötige Unruhen. Der Adel konnte immer noch gefährlich werden.
Endlich hielt der Sonderzug an, wir hatten unser Ziel erreicht. Der Bahnhof von Rostblatt spiegelte den künstlerischen Anspruch der Wortresidenz wider. Die hohen Gewölbedecken und kunstvollen Verzierungen verliehen dem Raum eine erhabene Aura. Die Säulen, die den Empfangsbereich flankierten, schienen endlos in die Höhe zu wachsen. Die Wände waren mit kunstvollen, rötlichen Malereien geschmückt, und im Zentrum des Bahnhofs prangte eine verglaste Leinwand, auf der sich viele berühmte Besucher mit ihren Unterschriften und Insignien verewigt hatten. Die gewaltige Dimension des Gebäudes und die Tatsache, dass wir bei unserer Ankunft die einzigen Menschen auf der Station waren, ließen uns wie unerwünschte Eindringlinge erscheinen, als ob uns unsichtbare Schemen zurück ins Meer werfen wollten. Lem fluchte, murmelte etwas von Dekadenz und Verschwendung, doch auch auf ihn übte die zivilisatorische Leistung ihren Zauber aus. Er wurde wortkarger, blickte mehrmals hektisch zur gigantischen Decke und erkundete schließlich mit fast kindlicher Neugier das architektonische Wunder.
„Die Station selbst ist erst um die 50 Jahre alt, es handelt sich um einen Umbau des alten Werfts, darum ist auch die Decke so hoch. Der Grundriss des Gebäudes ist aber schon über 200 Jahre alt, falls es dich interessiert, Lem“, erklärte ich ihm.
„Es ist schon schön, kann man nichts sagen“, antwortete er etwas abwesend und erforschte weiterhin die markanten Verzierungen der Decke.
Als ich selbst die Decke weiter erkundigte, umgab mich plötzlich ein sehr eigenartiges Gefühl. Mein Körper spannte sich an, und ich verspürte ein starkes Bedürfnis, meinen Kopf einzuziehen. Es war, als würde mich jemand anschreien. Mir wurde übel, mein Magen schien die Anspannung nicht zu ertragen. Zudem nahm ich einen mir bis dahin unbekannten Sinn wahr – eine Art metaphysischer Gestank. Ein subtiler Eindruck durchdrang meinen ganzen Körper. Ich wollte mich verstecken, eine unheilvolle Bedrohung schien mir näher zu kommen. Ich fühlte Schuld. Waren es die vielen Wesen, die hier umgekommen sind? Die Seelen der getöteten Meeresbewohner, die mich anklagten? Mir wurde schwindelig, meine Sicht vernebelte sich, und die Mauern schienen zu leben, die Verzierungen waren die Schuppen lebender Dinge. Es war, als stünde ich in einem pulsierenden Organismus. Eine Entelechie, die …
„Werden wir jetzt abgeholt, oder müssen wir uns selbst über die Insel schleppen?“, fragte mich Lem und riss mich aus dem sonderbaren Moment heraus. Mein Zustand hatte nur wenige Sekunden gedauert. Ich konnte mich wieder etwas entspannen, mein geschwächter Körper schien bereits meinen Geist zu beeinflussen. „Hey Aleksis, geht es dir gut? Du bist wieder so blass, dieses Scheiß-Scherbengewitter! Komm, lass uns setzen“, sagte er und wollte mich zu einer nahegelegenen Sitzgelegenheit führen. „Nein, es ist gut, danke. Ich gehe schnell zur Toilette. Wir sollten übrigens abgeholt werden, offenbar hat man das übersehen. Warte bitte hier, ich bin gleich wieder da“, erklärte ich Lem und entschuldigte mich kurz.
Im Spiegel sah ich ein blasses Gesicht mit eingefallenen Wangen. Ich sammelte Speichel in meinem Mund und spuckte ins Waschbecken. Es hatte sich kein Blut in der Ausscheidung gesammelt. Normalerweise beruhigte mich dieser Umstand, doch hätte das wenigstens eine Erklärung für die unheilvolle Episode auf der Station sein können. Die schlechte Verfassung meines Körpers schien jetzt bereits meinen Geist zu beeinflussen. Mein längeres Haar und mein dichter Bart würden hoffentlich meinen gesundheitlichen Zustand vor Fremden verbergen. Die weißen Flecken in meinem Gesicht hätten sonst zu viel verraten. Ich nahm vorsichtshalber eine halbe Beruhigungstablette und einen Magenschutz, damit ich den Tag gut überstand. Ich würde wohl noch einige Kraft brauchen.
Als ich zurückkehrte, fanden wir am Bahnhof immer noch niemanden, der uns abholte oder unsere Dokumente kontrollierte. Wir waren stark verwundert; ich hatte mit strengen Kontrollen unserer Dokumente gerechnet und ging davon aus, dass unser Gepäck durchsucht werden würde. Jetzt wussten wir nicht, wie wir zur Residenz kommen sollten. Wir verließen den Bahnhof, und vor uns erstreckte sich eine lange Straße. Ein schwacher Wind wehte über die Insel, und die weite, ebene Landschaft ermöglichte einen ungehinderten Blick von einem Ende zum anderen. Die frische Seeluft durchflutete meine Lunge – eine überraschend intensive Wohltat. Am Horizont war der gigantische Bau der Wortresidenz zu erkennen.
„Haben die Sesselkleber im Ministerium etwas versaut?“, fragte Lem.
„Ich denke nicht. Ich wundere mich eher, dass niemand uns kontrolliert. Vielleicht will das Gremium uns etwas demütigen? Es sieht nämlich so aus, als müssten wir zu Fuß zur Residenz gehen“, fasste ich zusammen.
„Was?! Da sind wir mit dem scheiß Gepäck mehrere Stunden unterwegs! Und du bist krank…“, wollte Lem fortfahren, doch ich unterbrach ihn. „Lass bitte gut sein, ich kann noch laufen, und es geht mir schon viel besser. Außerdem hilft mir die Bewegung an der frischen Luft, die stickigen Ministeriumszimmer machen mir eher zu schaffen.“ Lem nickte mir zu und nahm schweigend seinen Koffer, während er sich auf den Weg zur Residenz machte. Er sagte nichts mehr, um meinen Stolz zu schützen. Da er schon in der Vergangenheit mit Kriegsinvaliden zu tun gehabt hatte und selbst oft mit Mitleid konfrontiert wurde, wusste er, wann er Ruhe geben sollte. Ich nahm ebenfalls mein Gepäck, und die beiden verlorenen Kriegskrüppel schlenderten zur Wortresidenz.
Wir waren langsam. Sehr langsam. Ich konnte meinen Koffer nur schwer transportieren, da meine Lunge bei jedem Hauch einer Überanstrengung krächzte. Lem hatte ebenfalls Schwierigkeiten, seinen gewaltigen Trosssack zu transportieren. Der fehlende Arm schränkte seine Mobilität ein, und ich wollte gar nicht wissen, was er alles bei sich trug. Ich hätte über uns gelacht, wenn mich nicht ein leises Gefühl der Demütigung begleitet hätte. Nach zwei Stunden, in denen uns die Residenz nur geringfügig größer erschien, erspähte Lem einen Wagen aus der Ferne, der uns direkt entgegenkam. War das unser verspäteter Transport? Oder schickten sie ein Sicherheitsorgan, um die zwei Sonderlinge zurück ins Meer zu werfen? Wir waren jedenfalls erleichtert. Die Wolken hatten sich bereits verdunkelt, und der Wind wurde stärker – es würde wohl bald regnen. Ich setzte mich auf meinen Koffer und wartete auf unsere erste Begegnung mit der Wortresidenz.
Wir wunderten uns über das Fahrzeug. Das Modell wirkte zwar elegant, aber mit höchst sonderbaren Proportionen. Der Wagen war ungewöhnlich lang und wurde nach vorne hin immer breiter. Die Karosserie hatte bis auf die Motorhaube eine schwarze Lackierung, die zwar weiß aussah, aber eigenartig vergilbt war. Ein Heretzio? Diese waren für ihre unkonventionellen Bauarten bekannt, doch schien mir eine solche Konstruktion eher marktuntauglich zu sein, zumindest für den Massenmarkt. Lem und ich teilten einen verwirrten Blick und einigten uns stillschweigend darauf, dass wir wohl beide keinen Sinn für die uns dargebotene Ästhetik hatten. Der Wagen beschleunigte abrupt und hielt dann mit einer Vollbremsung vor uns. Minuten später öffnete sich die Tür, und vor uns stand ein unfassbar hässlichster Zeitgenossene und einer der größten Männer, die ich je gesehen hatte. Das wenige Haar, das er noch hatte, fiel seitlich ins Gesicht und zeigte auf ein träges Auge. Er schielte leicht, und in Kombination mit einer viel zu großen Nase wirkte sein Gesicht wie in zwei Hälften getrennt, als würden sie unabhängig voneinander existieren.
„Was macht ihr hier? Wer seid ihr?“, fragte uns der Riese hektisch, mit einer für seine Statur unangenehm hohen Stimme. Wir erklärten ihm, wer wir waren und warum wir hier waren. „Das kann nicht sein, die Nornischen Gesandten kommen erst morgen. Ihr seid zu früh!“, fauchte er uns an. Ich entnahm aus meinem Gepäck das Gesandtenvisum, das uns direkt vom Gremium ausgestellt worden war. Das Freigabedatum zur Betretung der Insel war genau an diesem Tag. Der Fremde begutachtete das Dokument und brauchte auffallend lange, um das Schreiben zu studieren. Als er das Datum las, schreckte er auf und entschuldigte sich eindringlich bei uns. Man habe ihm wieder nichts gesagt, und offenbar war ein Bernie an der ganzen Sache schuld. Die Administration sei in der Zwischensaison immer schlecht, meinte er, die guten Leute wären dann alle in Übersee. Ich beobachtete Lem, während wir mit Ausreden und Rechtfertigungen bombardiert wurden, und konnte nicht einschätzen, ob er sich zusammenreißen musste, um nicht laut loszuschreien oder laut loszulachen. Jedenfalls übernahm unser neuer Freund das Gepäck und versprach, uns sofort zur Residenz zu bringen. Ich bedankte mich, und kurz nachdem wir im Fahrzeug des Inselriesen saßen, hörte ich bereits den Regen gegen das Fenster prasseln.
Lem schniefte und räusperte sich, als er sich seinen Tabak aus der Dose nahm. Er hatte sich auf den Beifahrersitz neben unseren Fahrer gesetzt und unterhielt sich bereits seit einigen Minuten mit ihm. Der große Mann erzählte, dass er für die Residenz als Abholservice und Sicherheitsmitarbeiter angestellt war. Und nein, dieser Wagen war kein offizieller Abholwagen, sondern seine „Privatkavallerie“, wie er es nannte. Er hatte ihn selbst zusammengebaut, mit extra viel Raum für seine langen Füße. Er heiße Manfred. Auch selbst bemalt hatte er ihn. Außerdem sei er ein Fischer, der beste auf der ganzen Insel, sagen alle. Lem stellte bewusst immer mehr Fragen und fand unseren einfältigen Fahrer offenbar recht komisch. Doch plötzlich wechselte Lem abrupt das Thema und wurde ernst: „Konntest du die Leichen sehen? Die der verstümmelten Kinder?“
Ein Ruck ging durch den Wagen. Manfred, der sich offenbar vor Schreck verschalten hatte, antwortete mit einer unangenehm hohen Stimme: „Nur die Leichensäcke, also nein, schlimmer Unfall“, sagte er, sichtlich nervös. Wir waren nur noch eine kurze Strecke von der Residenz entfernt. „Du hast doch sicher etwas gesehen oder mitgekriegt? Du wurdest als Zeuge in den Berichten genannt“, insistierte Lem. Ein Bluff. Ich hatte bereits erkannt, dass unser Fahrer wohl nicht der intelligenteste Zeitgenosse war und sein gesamtes Verhalten, seine Schreckhaftigkeit, deutete auf eine gewisse Unterwürfigkeit hin. Lems eindringlicher, ja aggressiver Ansatz war hier ausnahmsweise völlig richtig. Manfred schien zu verstummen und gab uns mehrere Sekunden lang keine Antwort. Er versuchte, so zu tun, als hätte er die Frage nicht gehört, und schien angestrengt nachzudenken. Die ganze Situation war für ihn hoch unangenehm.
„Ich denke nicht, dass ich in den Berichten genannt wurde“, entgegnete Manfred plötzlich sehr bestimmt. „Ihr befindet euch hier auf dem Gebiet der Wortresidenz. Die Richtlinienkompetenz, die regelt, wie ihr eure Ermittlungen durchzuführen habt, obliegt in der Rechtsgebung des Gremiums. Ich stehe euch gerne zu einer geordneten Befragung zur Verfügung, sobald die geltenden Zuständigkeiten dies anordnen und der Ablauf definiert wurde“, sagte Manfred monoton, als würde er aus einem Buch vorlesen.
Der Wagen hielt an, die kurze Fahrt war vorbei. Manfred stieg sofort aus und begann, unser Gepäck herauszuholen. Lem und ich schauten uns kurz verdutzt an und stiegen ebenfalls aus. „Meine Herren, ich heiße Sie nun offiziell in der Wortresidenz willkommen. Dort oben ist der Haupteingang. Sie können direkt zum Empfang gehen, und dort wird alles Weitere abgewickelt. Ich möchte mich nochmal um den fehlerhaften Transport entschuldigen. Doch jetzt muss ich wieder weiter, ich habe noch einen dringlichen Termin. Ich wünsche guten Tag!“, teilte uns Manfred mit dem Anschein von unterdrückter Wut in der Stimme mit, dann stieg er wieder in seine „Privatkavallerie“ und fuhr schnell davon.
„Das hat man ihm aufgeschrieben, sag ich dir, die haben sich darum gekümmert, dass uns hier niemand etwas sagen wird! Sogar diesen Trottel haben sie vorberietet!“, ärgerte sich Lem.
Nach einer kurzen Begrüßung am Empfang geleitete uns eine recht elegante Dame zu unserem Quartier. Obwohl es erst Spätnachmittag war, würde sich heute niemand mehr mit uns auseinandersetzen können. Ein vom Gremium bestellter Ausschuss würde uns am nächsten Morgen alle Fragen beantworten und durch die Werkstatt führen. Das hieß, dass es uns nicht erlaubt werden würde, eine eigenständige Investigation durchzuführen. Diese Aussicht erfüllte mich mit Wut, doch hatte ich bereits damit gerechnet.
Der Abend brach schnell herein und uns wurde Steak mit Bratkartoffeln aufs Zimmer gebracht. Dazu reichten sie uns zwei Flaschen erlesenen Wein aus Altrussa. Lem verschlang das Essen und genoss den Alkohol in vollen Zügen. Ich hingegen konnte kaum etwas essen. Die Episode am Bahnhof, dieser eigenartige Moment einer unheilvollen Bedrohung, schien immer noch auf meinen Magen zu schlagen. Ich zwang mich, etwas Fleisch und ein paar Kartoffeln zu essen, und nahm einen Schluck Wein, der mir sofort Übelkeit bereitete. Ich war müde.
Als wir bereits im Bett lagen, fragte ich mich eindringlich, was eigentlich unsere Mission auf dieser Insel war. Mein Vorgesetzter hatte mir nur ein Dossier übergeben und den Auftrag erteilt, die Angelegenheit mit größter Diskretion zu behandeln. Von einer wirklichen Investigation oder Aufklärung war nie die Rede. Wir hatten im Grunde nur einen politischen Auftrag, es ging nicht darum die einzelnen Todesfälle aufzuklären. Heute bin ich überzeugt, dass das beste Ergebnis, das Lem und ich für das Ministerium hätten erzielen können, darin bestanden hätte, die offizielle Version der Wortresidenz nach unserer Ankunft einfach zu bestätigen. Hauptsächlich, damit der lästige Aristokrat, dieser Schubert, endlich Ruhe gab. Und das Schicksal der Kinder? Tragisch. Doch waren keine sechs Jahre zuvor, am Ende des Krieges, allein in Nornien etwa 25.000 bis 30.000 Minderjährige an der Wreskrankheit gestorben. Es schien unklug, ja geradezu als nationaler Verrat, innere Unruhen oder einen Nachteil gegenüber den Altfordernden zu riskieren, nur um die Kindermorde einiger schwer gestörter Künstler aufzudecken. Auf moralischer Ebene war dieser Ansatz sicher der falsche, aber was hatten wir, die Generationen meiner Zeit, im Namen einer höheren Moral und absoluter Ideale an Elend produziert? Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde das Erwartbare erfüllen. Mit einem Gefühl der Bitterkeit schloss ich meine Augen und gab mich meiner Erschöpfung hin.
Die Träume lauerten im Schlaf. Ich verstand nicht. Sonderbare Formen, physikalische Körper, Zylinder und kegelartige Schemen umgaben mich. Sie bewegten sich und verharrten nur kurz, um verschiedenste Konstellationen zu zeigen. Seltsam. Eine eigenartige Stille umgab mich. Die Objekte bewegten sich gleichförmig zueinander in geoordneten Choreografien. Während ich dieses merkwürdige Spektakel beobachtete, war ich mir meiner selbst voll bewusst. Es gab immer wieder Momente, da wusste ich, dass ich träumte, und dann vergaß ich es wieder. Wie ein leises Echo, ein subtiler Sinneseindruck, den ich nicht in meinen Geist zu übersetzen vermochte, durchzog den gesamten Traum. Die Körper bewegten sich immer schneller und der Boden unter mir schien zu weichen. Ich hatte Angst. Eine unheilvolle Präsenz kam immer näher. Das Entsetzen einer sterbenden Seele, die nicht dem Untergang zu entfliehen vermag, verband sich mit meinem Wesen. Ein panischer Selbsterhaltungstrieb umklammerte mich, und ich hatte das Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden, während die sonderbaren Objekte immer schneller mit mir hinab tanzten. Immer schneller. Immer intensiver. Doch plötzlich war ich angekommen. Am Boden. Ich war immer noch in einem schwer zu begreifenden Nichts, doch spürte ich eine kalte Geborgenheit. Ich war alleine. Außer mir gab es nur noch Trauer und Schuld. Ich versuchte zu weinen, doch war ich in meiner selbst gefangen, unfähig meinem Leiden Luft zu machen.
Am nächsten Morgen weckte mich das Licht der aufgehenden Sonne, das durch die weißen Vorhänge fiel. Lem war bereits auf und stand am Fenster, den Blick starr nach draußen gerichtet. Er schien tief in Gedanken versunken, doch als ich mich regte, drehte er sich zu mir um.
„Wir müssen heute vorsichtig sein,“ flüsterte er.
Ich nickte stumm, noch immer benommen von dem gestrigen Traum und dem unruhigen Schlaf.
„Ich meine es ernst. Ich bin heute Nacht unserem neuen Freund Manfred wieder begegnet,“ drängte Lem.
„Was? Wo denn? Wo warst du?“ fragte ich ihn alarmiert und richtete mich auf.
„Hör bitte auf dich gleich aufzuregen, ich habe keinen Blödsinn gemacht, während du geschlafen hast. Ich musste in der Nacht raus und bin aus Versehen durch die falsche Tür gegangen. Plötzlich war ich im Flur, und da stand der dumme Riese vor mir. Er war sichtlich erschrocken, mich zu sehen, und verschwand schnell wieder die Treppe hinunter. Ich sage dir, der hatte einen Revolver am Gürtel!“ erklärte er etwas hysterisch.
„Der ist Wache gestanden, die hatten Angst, dass wir nachts herausschleichen. Sie wollen definitiv nicht, dass wir unseren Job machen“, schlussfolgerte ich.
Lem nickte mit Abscheu. "Pah, wer weiß, ob dieser Idiot nur Wache gestanden hat. Vielleicht hatte er einen ganz anderen Auftrag. Auf jeden Fall gehe ich nicht unbewaffnet aus diesem Zimmer." Mit diesen Worten zog er seine P87 aus dem Gepäck und verstaute sie in der Innentasche seines dunkelbraunen Mantels, der neben der Tür hing.
„Lem, ich bezweifle, dass dein nächtlicher Rundgang ein Mordkommando verhindert hat. Ich hoffe doch, dass sie noch genug Anstand haben, um zumindest nicht so einem Dilettanten den Auftrag zu geben, sollten sie zwei Mitarbeiter des nornischen Ministeriums ermorden wollen“, sagte ich mit leicht zynischem Unterton. „Nimm deine Waffe mit, aber bitte, stell nichts Dummes an – nicht wie damals in Sternigen, als...“
Lem unterbrach mich abrupt: „Nicht schon wieder diese Geschichte! Ich hätte der alten Witwenhexe niemals den Kopf weggeschossen, woher sollte ich wissen, dass sie sofort ohnmächtig wird, sobald die eine Waffe sieht? Keine Sorge, ich werde mich benehmen, auch wenn ich schon spüre, dass die Schweine die Kinder ermordet haben!“ Seine Stimme war traurig und verärgert.
Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Ich weiß, dass dir die Sache nahegeht, aber wir können uns hier keine Skandale leisten. Die Residenz ist für uns zu wichtig, um unüberlegt zu handeln. Wir müssen ihren Mummenschanz anhören und es absegnen. Kannst du das, Lem? Andernfalls bitte ich dich, hier zu bleiben.“
„Was?! Ich lasse dich sicher nicht allein hier herumlaufen! Und stell mich nicht als sentimentales Anhängsel dar. Ich werde meinen Mund halten, auch wenn es eine Schande ist. Ich hasse es, wenn Kinder unter die Räder kommen“, erwiderte er entschlossen.
„Ich weiß,“ antwortete ich mit gedämpfter Stimme, „mir geht es genauso.“
Lem sah mich kurz an, dann wandte er den Blick wieder ab, als würde er in der Ferne nach etwas suchen, das er längst verloren hatte.
„Ich glaube, ich habe dir schon mal von meinem Stiefbruder erzählt? Ich war, glaube ich, sehr betrunken, ich weiß es nicht mehr genau.“
„Hast du,“ entgegnete ich ruhig. „Und ja, du warst ziemlich betrunken. Es ist jetzt, glaube ich, schon ein Jahr her. Im Gasthof bei Gerlendorf, oder war es noch in Rarstein?“
Er lachte leise, ohne Freude. „Ja, das klingt nach mir.“
Ich nickte, die Bilder und die Emotionen der vergangenen Nacht tauchten kurz vor meinem inneren Auge auf. „Jedenfalls hast du damals gesagt, sie haben ihn zu Unrecht angeklagt. Und dann... hingerichtet.“
Lem schwieg einen Moment, als hätte er meine Worte nicht gehört oder als ob die Erinnerung plötzlich zu schwer auf ihm lastete. Er schloss die Augen, atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Er war gerade mal 16. Es stimmt so nicht ganz, zu Unrecht wurde er nicht angeklagt. Ein dummer Fehler... Er hatte ein paar Ladungen Zigaretten geklaut, sie auf dem Schwarzmarkt verkauft. Normalerweise bekommt man dafür ein paar Jahre Festungshaft.“ Seine Stimme brach kurz, aber er fing sich wieder. „Aber die Firma, von der er gestohlen hat... Sie war einflussreich und waren die vielen Glücksritter die sich an ihrem Eigentum vergriffen satt.“
Ich schluckte und hielt seinen Blick. „Ich kann mir denken, was passiert ist. Sie haben den Richter bestochen, nicht wahr?“
Lem nickte. „Ja. Sie wollten ein Exempel statuieren, zeigen, dass ja keine jungen Burschen wieder auf die Idee kamen, auf diese Art in ihrem Geschäft herumzupfuschen. Der Richter war käuflich, und mein Bruder...“ Lem hielt kurz inne, seine Stimme bebte leicht, als er weitersprach. „Weißt du, Aleksis, wir hatten nie wirklich jemanden. Kein Vater, der sich um uns kümmerte oder uns wenigstens zusammenschlagen würde, wenn wir etwas Dummes anstellten. Wir mussten eben allein klarkommen. Tag für Tag. Das ging oft schief. Wir kamen dann schon immer irgendwie durch, aber oft fehlte es uns an den grundlegendsten Dingen.“
Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, als ob er in den Erinnerungen dieser harten Jahre versank und fing wieder an hektisch zu blinzeln. „Es war nicht nur das Geld, das fehlte. Es war alles – neue Kleider, warmes Essen, selbst die einfachsten Sachen. Mein Stiefbruder... er hatte es wahrscheinlich noch schwerer. Im Viertel wurde er als Stinker verschrien. Man verspottete ihn und die Gleichaltrigen jagten ihn oft durch die Straßen, als wäre er ein Tier. Er konnte sich nicht wehren und ich interessierte mich nicht dafür. Ich hielt mich ja für was Besseres, da ich es in die Armee geschafft hatte!“
Lem atmete tief durch und sah mir direkt in die Augen. „Und wer, Aleksis, wäre ein besseres Bauernopfer als er? Ein verwaister Junge, der nie etwas sauberes zum Anziehen hatte, wo die Leute grundsätzlich dankbar wären, wenn man ihn loswerden würde? Das sag ich dir, für meinen Stiefbruder, den Stinker, hätte niemand den Kopf hingehalten. Ich konnte ihm auch nicht helfen, ich hatte zu jener Zeit mir dem Militärgericht wegen meiner Sauferei zu schaffen und hatte meinen Ausgang verspielt.“
Ich spürte, wie sich ein Knoten in meiner Brust zusammenzog, doch ich sagte nichts, ließ ihn einfach reden.
„Als er dann ein paar Ladungen Zigaretten gestohlen und verkauft hat... ich denke, das war seine einzige Chance, jemals etwas zu haben. Etwas, mit der sich zumindest eine kleine Gaunerexistenz schaffen konnte. Aber nein – er war nicht nur der junge Zigarettendieb, er war der Junge, der wie ein stinkender Hund regelmäßig durchs Viertel getrieben wurde!“ Lem schüttelte den Kopf, Bitterkeit lag in seiner Stimme. „Und genau deswegen... war er das perfekte Opfer. Niemand wollte ihn beschützen. Niemand wollte sich für ihn einsetzen. Ein einfacher, elender Bursche, der nichts hatte und nie etwas haben sollte.“
Er verstummte, und die Schwere seiner Worte hing in der Luft wie eine Last, die uns beide niederdrückte.
Eine Stille legte sich über uns, schwer und erdrückend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber Lem fuhr fort, als müsste er die Geschichte endlich zu Ende bringen. „Es ging so schnell. Keine richtige Verhandlung, keine Verteidigung. Zwei Tage nachdem sie ihn geschnappt hatten sprach man das Urteil, keine Stunde später führte man ihn zum Galgen. Und dann... war es vorbei.“
„So etwas... darf nicht passieren,“ sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zu ihm.
Lem lächelte bitter. „Es passiert jeden Tag, glaube mir. Diejenigen, die was anzubieten haben, schreiben halt die Regeln. „Und wir... wir verlieren die letzten Menschen, die uns geblieben wären, und wenn wir nicht in den Schützengräben verrecken, dann bleibt uns nichts anderes, als für schwer gestörte Künstler den Dreck wegzuräumen!“ sagte er energisch, ein zynisches Lächeln auf den Lippen.
Ich spürte den Kloß in meiner Kehle und suchte nach Worten, aber nichts schien dem gerecht zu werden, was er durchgemacht hatte. „Es tut mir leid,“ murmelte ich schließlich.
„Danke,“ antwortete er, ohne den Blick von der Ferne zu lösen. „Aber nichts wird das ändern.“
Wir machten uns dann schließlich fertig und gingen zum Empfang. Die elegante Dame vom Vortag war nicht mehr zu sehen; stattdessen stand ein schlanker, älterer Herr vor uns. Wir fragten nach, wann genau wir mit dem Ausschuss des Gremiums sprechen könnten, da wir nicht länger als nötig auf der Insel verweilen wollten. Der Mann führte einige Telefongespräche und sprach mit beinahe übertriebenem Respekt mit den Personen am anderen Ende der Leitung. Während er hastig Notizen machte, fiel uns auf, dass das Telefonkabel sehr kurz war. So mussten wir zusehen, wie er ständig das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, um zwischen Schreiben und Sprechen zu wechseln.
„Meine Herren, ich darf Ihnen mitteilen, dass Sie in etwa einer Stunde abgeholt werden. Anschließend treffen Sie die ausgewählten Mitglieder des Ausschusses. Ich darf ankündigen: Es werden Herr Alfred von Großberg, Vorsitzender des Gremiums, Zita Virnbrandt, Schirmherrin der leider verstorbenen Kinder, und Igor von Sag anwesend sein, um all Ihre Fragen zu beantworten. Danach laden wir Sie zu einem kleinen Mittagessen in unser Kasino ein. Am Nachmittag werden Sie von Experten durch die Werkstätten geführt, die Ihnen den genauen Ablauf des Unfalls für Ihre Dokumentation detailliert erklären werden. Abschließend wird unser guter Manfred, den Sie bereits kennengelernt haben, Sie zu einem speziell angeordneten Sonderzug begleiten, damit Sie Ihre Reise beenden können“, trug er in feierlichem Ton vor.
Dann führte er uns in ein Nebenzimmer, wo uns ein recht karges Frühstück aus Brot und Käse serviert wurde. Der Raum war ebenso bescheiden dekoriert; er hätte die Warmstube eines Zollbeamten sein können. Während wir aßen, entschuldigte sich der alte Herr für den fehlenden Transport am Vortag. Tatsächlich wäre Manfred für diese Aufgabe verantwortlich gewesen, nur leider hatte der große Mann ein schlechtes Gedächtnis und er selbst hatte vergessen seinen Kollegen daran zu erinnern. Er bat uns, ihn einfach Bernie zu nennen—eigentlich mussten wir es sogar, da er seinen Nachnamen nie erfahren hatte, er war immerhin eines der Mondkinder von Serkes. Er versicherte uns außerdem, dass er die Leichen der Kinder nie gesehen habe und sie ohnehin auch lebendig nur zwei- oder dreimal zu Gesicht bekommen habe. Die ausgewählten jungen Talente des Gremiums hätten einen so strengen Zeitplan gehabt, dass sie neben den Mahlzeiten und Schlaf praktisch keine freie Zeit gehabt hätten. Bernie verließ uns daraufhin, da er noch weitere Pflichten zu erfüllen hatte.
„Ist dir aufgefallen, wie viele Künstler sich hier herumtreiben?“, fragte mich Lem nachdenklich.
„Was meinst du? Wir haben doch bisher nur drei Leute gesehen,“ antwortete ich leicht verwirrt.
„Eben. Hättest du nicht erwartet, dass hier viel mehr los ist? Ich sage dir, die haben absichtlich fast alle Menschen von der Insel weggeschickt, die irgendetwas wissen könnten. Und noch etwas: Ich glaube, die Abholung an der alten Werft, die gestern ausblieb, war kein Versehen. Das war Absicht. Sie wollen, dass wir denken, man hätte uns schon halb vergessen. Als hätten sie absolut nichts zu befürchten. Schlauer Haufen!“ Lem schnaufte kräftig und nahm einen tiefen Zug aus seiner Tabakdose.
„Lem,“ sagte ich mit einem Anflug von Frustration, „du bist schon wieder paranoid. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden – es hält uns schließlich am Leben. Aber du neigst dazu, überzureagieren, sobald du das Gefühl hast, verfolgt zu werden. Es gerade Zwischensaison. Das mag dir fremd und als Unwahrscheinlich erscheinen, doch haben auch Künstler einen Sinn für Heimat. Die meisten sind wohl einfach in Übersee oder sonst wo.“
„Warte ab, du wirst schon sehen. Ich habe einfach ein verdammt schlechtes Gefühl“, erwiderte er und sprang hektisch auf, als unsere Eskorte vor uns stand.
Wir wurden in einen Tanzsaal geführt, der im dritten Stock war und offenbar üblicherweise lediglich als Proberaum genutzt wurde. Die Wände waren aus einem dunklen Holz, dass ich nicht zuordnen konnte und es roch intensiv nach einer Art Desinfektionsmittel. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem wir Platz nahmen und warteten. Uns wurde versichert, dass der Ausschuss bald eintreffen würde, doch die Minuten verstrichen, und fast eine ganze Stunde verging. Lem wurde zunehmend nervöser, während mich eine lähmende Müdigkeit überkam.
Wir warteten bereits wieder eine Stunde. Lem wurde immer unruhiger und ich nachdenklicher, denn ich war überrascht, wie klar ich mich an meinen letzten Traum erinnern konnte – die merkwürdigen Objekte, die Angst, die Trauer. Am schlimmsten hatten mich die tiefen Schuldgefühle getroffen. Es war beunruhigend. Wahrscheinlich würde ich wieder mit meinem Therapeuten sprechen müssen, sobald dieser groteske Mummenschanz ein Ende gefunden hatte. Der Gedanke frustrierte mich. Seit meiner Erkrankung durch das Scherbengewitter und dem verlorenen Krieg hatte ich mit tiefgreifenden Problemen zu kämpfen. Ich hatte gehofft, dass sich zumindest mein psychischer Zustand in den Jahren nach dem großen Krieg stabilisiert hätte. Aber die Trauer und die Schuldgefühle, die mich letzte Nacht überfielen, zeigten mir das Gegenteil.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und das Gremium trat ein. Obwohl ich mit einer tiefen Erschöpfung zu kämpfen hatte, musste ich mich zusammenreißen.
Alfred von Großberg, der Leiter und Vorsitzende des Gremiums, war ein sonderbarer Mann. Trotz seines jungen Alters hatte er es geschafft, die einflussreichste Position der Wortresidenz von Rostblatt zu erlangen – ein Aufstieg, der von vielen im Ministerium als rätselhaft betrachtet wurde. Sein Vorgänger hatte sich aufgrund der Wreskrankheit zurückziehen müssen, und plötzlich stand dieser bis dahin recht unbekannte Künstler, aus bescheidenem Adel stammend, mit gerade einmal dreißig Jahren an der Spitze des Gremiums. Offenbar hatte er seinem Vorgänger als Assistent gedient und galt als durchaus talentierter Porträtmaler, allerdings ohne nennenswerte Bekanntheit. Seine künstlerischen Fähigkeiten wurden zwar geschätzt, doch es war nicht sein Ruf als Maler, der ihm den Aufstieg in die höchsten Ränge der Wortresidenz beschert hatte. Vielmehr schien es, als ob sein Einfluss hinter verschlossenen Türen gewachsen war – ein stiller, aber entschlossener Aufstieg, der von vielen mit Misstrauen beobachtet wurde. Auf den ersten Blick wirkte von Großberg elegant: sein Auftreten und seine Haltung waren tadellos. Doch bei genauerem Hinsehen offenbarten sich merkwürdige Details. Einige seiner Zähne fehlten, was seinem breiten Lächeln einen unheimlichen Zug verlieh. An seinem marineblauen Wams fehlten Knöpfe, und sein Haar war zerzaust, als hätte er es seit Tagen nicht gepflegt. Diese Gegensätze zwischen äußerlicher Eleganz und subtiler Vernachlässigung verliehen seiner stolzen Erscheinung eine etwas abstoßende, doch durchaus faszinierende Ausstrahlung.
„Meine Herren, ich heiße sie herzlich willkommen und danke Ihnen, dass Sie sich des Unfalls persönlich annehmen und unser Rostblatt besuchen,“ sagte er mit einem breiten Lächeln als er mir und Lem die Hand schüttelte.
„Ich kann euch versichern, ich hatte noch nie in meinem Leben solche Zweifel an unsere Institution“, fuhr er mit trauriger Stimme fort und bemühte sich, seinem Bedauern Ausdruck zu verleihen, “wie ein solcher Konstruktionsfehler, ein solches Unglück, über eine solch lange Zeit unbemerkt bleiben konnte. Es ist mir leider auch jetzt noch ein Rätsel. Ich möchte mich daher auch offiziell im Namen der Residenz und der gesamten Belegschaft demütigst entschuldigen. Selbstverständlich gewähren wir vollste Aufklärung, damit die Angehörigen, gerade die armen Eltern, Frieden finden können“.
Er sprach so schleimig und gekünstelt, dass ich angewidert war. Lem bewegte sich immer unruhiger auf seinem Sitz.
„Ich darf Ihnen Herrn von Sag vorstellen, der mit der Untersuchung betraut wurde. Er ist der Werkstattleiter und somit die kompetenteste Ansprechperson, was den spezifischen Ausbruch des Miritiums betrifft. Igor wird Ihnen gleich einen detaillierten Vortrag präsentieren und auch einen schriftlichen Bericht überreichen. Im Anschluss stehen wir Ihnen selbstverständlich für sämtliche Fragen zur Verfügung."
Er lächelte breit, bevor er hinzufügte: „Am Nachmittag wird Herr von Sag Sie dann durch die betroffenen Werkstätten und Kammern führen." Seine gespielte Freundlichkeit machte die Atmosphäre nur noch unerträglicher.
Lem erstarrte plötzlich auf seinem Sitz. Mit einer ruhigen, aber unterschwellig aggressiven Stimme fragte er: „Und Frau Virnbrand? Wann können wir sie befragen? Sie war schließlich die Schirmherrin und verantwortlich für die Kinder. Die wurden unter ihrer Aufsicht vergiftet. Da könnte sie ja wenigstens den Anstand haben, hier aufzutauchen!“
Sein Blick war fest auf von Großberg gerichtet, und die Spannung im Raum war plötzlich greifbar. Lem hatte noch seine Ruhe, doch jeder spürte die Wut, die hinter seinen Worten steckte.
Großberg zog leicht die Augenbrauen hoch, als Lem seinen harschen Ton anschlug. Für einen Moment schien der Vorsitzende aus dem Konzept gebracht und man konnte für einen Moment blanke Verachtung erkennen, doch er fing sich schnell wieder. Mit einem leicht gezwungenen Lächeln antwortete er: „Ich verstehe Ihren Unmut, meine Herren, wirklich. Niemand von uns will weniger als die volle Wahrheit ans Licht bringen. Unsere Schirmherren stehen in voller Verantwortung für ihre Schützlinge, in körperlicher und auch geistiger Hinsicht. Doch glauben Sie mir, Frau Virnbrand ist in ihrem Zustand derzeit nicht zu einem Gespräch fähig. Sie befindet sich unter ärztlicher Aufsicht. Sollte sich ihr Zustand verbessern, werde ich persönlich dafür sorgen, dass sie Ihnen Rede und Antwort steht. Doch ich kann mir kaum vorstellen, dass dies noch während Ihres Aufenthaltes passieren wird“
„Herr von Großberg,“ begann ich und merkte, dass mir das Sprechen zunehmend schwerfiel, „uns wurde am Empfang mitgeteilt, dass Frau Virnbrand am Ausschuss teilnehmen wird. Wir verstehen selbstverständlich, dass der Tod der Kinder sie schwer belastet hat, doch wir müssen dennoch auf ihre Aussage bestehen. Der Herr Vicomte von Schubert wird darauf beharren.“
Großberg verzog das Gesicht leicht, als ich den Namen von Schubert erwähnte. „Die arme Freya,“ erwiderte er mit einem Anflug von Traurigkeit, doch seine Stimme klang hohl und desinteressiert. „Ich kannte selbstverständlich die Tochter des Vicomte von Schubert persönlich. Sie war ohne Zweifel das talentierteste Kind in diesem Jahrgang. Es bricht mir das Herz – diese sichere, feinfühlige Umgang mit dem Pinsel und ihre liebliche Gesangsstimme!“ Er wich meinem Appell geschickt aus, als würde er versuchen, die Schuld auf eine emotionale Ebene zu lenken.
Doch dann fuhr er mit einem ernsteren Ton fort: „Doch meine Herren, so wie Frau Virnbrand als Schirmherrin für die Kinder verantwortlich war, so trage ich die Verantwortung für die Gesundheit aller Mitglieder des Gremiums. Schmerzlich muss ich zum jetzigen Zeitpunkt ablehnen. Es ist möglich, dass Sie in einigen Wochen zurückkehren könnten, wenn sich ihr Zustand verbessert hat.“
Lem, der zunehmend mit wachsendem Unmut auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war, explodierte förmlich: „Das ist eine offizielle Investigation!“ donnerte er mit aggressivem Unterton. „Frau Virnbrand hat bei der Befragung zu erscheinen!“
Ich wollte etwas sagen, um Lem zur Mäßigung zu bewegen, doch spürte ich wieder einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und versagte zu sprechen.
Alfred von Großbergs Gesicht verfärbte sich, und seine Augen funkelten wütend. Die Fassade der Höflichkeit begann zu bröckeln, und seine Stimme wurde kalt und scharf, während er die Zähne zusammenbiss: „Ich wiederhole es noch einmal, meine Herren! Ich verstehe den Unmut Norniens und bedauere die Situation zutiefst. Doch Frau Virnbrand wird nicht in der Lage sein, in absehbarer Zeit auszusagen. Außerdem,“ seine Stimme wurde noch frostiger, „muss ich Sie leider daran erinnern, dass Sie beide nur auf Einladung der Residenz hier sind. Ihre Untersuchung ist inoffiziell.“
Lem funkelte ihn an, doch bevor er etwas erwidern konnte, trat Herr von Sag, der bislang im Hintergrund geblieben war, einen Schritt vor. Mit seiner tiefen, ruhigen Stimme versuchte er, die angespannte Stimmung zu glätten: „Meine Herren, wir dürfen nicht vergessen, dass der Fokus unserer Untersuchung darauf liegt, die Ursachen des Miritium-Ausbruchs zu verstehen. Mir war es in den vergangenen Wochen das wichtigste Anliegen, die genauen Abläufe der Miritiumvergiftung zu erfahren. Frau Virnbrand ist hier kein wichtiger Faktor, die Kinder sind nicht während ihrer Aufsicht verstorben, sondern in den Unterkünften. Ich schlage vor, dass wir uns zunächst die technischen Details anschauen, um den Vorfall besser zu verstehen. Danach können wir weitere Schritte überlegen. Wenn es den Herren gefällt.“
Lem kniff die Augen zusammen, sichtlich unzufrieden, doch er nickte schließlich widerwillig. „Von mir aus,“ sagte er knapp, „aber glaubt ihr ja nicht, dass wir Frau Virnbrand aus den Augen verlieren. Sie wird uns Antworten geben.“
Großberg nickte sichtlich erleichtert, während von Sag bereits eine dicke Mappe hervorzog und begann, die Einzelheiten des Unglücks in ruhigem, sachlichem Ton darzulegen. Doch während er sprach, fiel es mir immer schwerer der Konversation zu folgen. Die Erschöpfung wurde stärker.
Herr von Sag begann mit gefasster, sachlicher Stimme den Ablauf des Ereignisses, das er als das „Jahrhundertunglück“ bezeichnete, im Detail zu schildern. „Die Ursache,“ erklärte er, „liegt weit in der Vergangenheit, in Konzeptions- und Konstruktionsfehlern, die bereits vor über hundert Jahren begangen wurden.“ Seine Worte trugen das Gewicht dieser langen Geschichte in sich, als ob das Unglück unvermeidlich gewesen wäre – ein schleichendes Desaster, das über Jahrzehnte unbemerkt herangereift war.
Zunächst sprach er von der Natur des Miritiums, dieser gefährlichen, zersetzenden Substanz, die sich heimlich in den Strukturen festsetzt. „Das Miritium, das bei uns hauptsächlich in den Werkstätten für die Veredelung von Gemälden, Requisiten und Bühnenbauten genutzt wird, ist in seiner flüssigen Form besonders gefährlich,“ erklärte er. „Um es zu verwenden, muss es zuerst geschmolzen werden, und dabei entstehen extrem giftige Dämpfe.“ Diese Dämpfe, so fügte er hinzu, seien zwar bekanntlich gefährlich, doch in geschlossenen Systemen wie Lüftungsanlagen entfalten sie eine noch weitaus verheerendere Wirkung.
Von Sag gab uns einen Überblick darüber, wie das Miritium, das zuerst in den Werkstätten bearbeitet worden war, langsam in die Stahlträger des Rohrschachts eindrang. „Über die Jahrzehnte,“ fuhr er fort, „setzte sich das Miritium in den Bindungen des Stahls fest und begann langsam, aber stetig, die Struktur zu zersetzen. Was von außen stabil und solide wirkte, war innen bereits längst zerstört.“ Diese schleichende Korrosion hatte sich unbemerkt über die Jahre hingezogen. Die Rückstände des Miritiums sammelten sich genau an einer Schwachstelle im Schacht, wo sich der Stahl langsam auflöste, bis die Träger schließlich nicht mehr in der Lage waren, dem Druck standzuhalten.
In jener verhängnisvollen Nacht durchbrach das Miritium schließlich die letzten, geschwächten Stellen der Stahlträger. Mit einem Mal war die Substanz frei, sich ungehindert durch den Lüftungsschacht auszubreiten.
„Das Miritium bahnte sich in hochkonzentrierter Form den Weg in den Abschnitt der Lüftung, der direkt zu den Kammern der armen Kinder führte,“ sagte von Sag mit bedrückender Ruhe. „Die Vergiftung fand langsam und stetig statt. Es war keine plötzliche Katastrophe, sondern ein schleichender Tod, der über Stunden hinweg wirkte.“
Die Kinder, so erläuterte er weiter, hätten anfangs kaum Symptome bemerkt. Doch nach und nach begannen sie unter Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit zu leiden, während die Dämpfe unaufhaltsam in ihre Atemwege eindrangen. Als sie schließlich vor Schmerzen schrien und nach Hilfe riefen, war es bereits zu spät. Das Miritium hatte ihren Körpern bereits irreparablen Schaden zugefügt. „Niemand konnte ihnen mehr helfen,“ sagte von Sag mit einer kühlen Endgültigkeit. „Als der erste Notruf abgesetzt wurde,“ wiederholte er, „war die Vergiftung bereits zu weit fortgeschritten.“ Er machte eine kurze Pause und fügte mit ernster Miene hinzu: „Die extremen Wunden und die grotesken Verformungen der Leichen resultieren aus der plötzlichen Freisetzung von hochkonzentriertem Miritium. Als die Substanz die letzten Stahlträger durchdrang, entwich sie in einer unkontrollierten Menge in die Lüftungssysteme und erreichte die Kammern der Kinder.“
Seine Erklärung nahm einen schauerlichen Ton an, als er die Folgen dieser Freisetzung beschrieb. „Das Miritium, das zuvor über Jahre hinweg langsam zersetzend wirkte, kam nun in einer konzentrierten Form frei, was zu sofortigen, verheerenden Effekten führte. Es ist nicht nur die Toxizität, die zum Tod führte, sondern auch die zerstörerische Wirkung auf das Gewebe. Die Substanz zerfraß die Atemwege, die Haut und das Fleisch der Kinder auf brutale Weise. Daher stammen die schlimmen Wunden und die schrecklichen Verformungen der Körper, die Sie gesehen haben.“
Die Stille, die nach dieser Erklärung folgte, schien den Raum zu erdrücken.
Während von Sag seinen Bericht langsam abschloss und den Ablauf der angeblichen Miritium-Vergiftung in all seinen düsteren Details schilderte, begann sich etwas Merkwürdiges in mir zu regen. Es war, als ob seine Worte in den Hintergrund traten und meine Wahrnehmung sich von der Umgebung ablöste. Ein leises Klopfen, kaum wahrnehmbar und doch unaufhörlich, machte sich in meiner Brust bemerkbar. Es war kein Geräusch, das über meine Ohren zu mir drang, sondern etwas Tieferes, Unerklärliches – ein Puls, der von innen kam.
Zunächst dachte ich, es sei einfach mein Herz, das auf die nervenaufreibende Situation reagierte. Doch schnell wurde mir klar, dass es das nicht war. Mein Herzschlag war nicht schneller geworden, wie es bei Anspannung üblich ist. Ganz im Gegenteil, mein Puls blieb seltsam ruhig, fast bedrohlich gleichmäßig, als ob mein Körper in einen Zustand der Schwäche überging. Die Kraft schwand aus meinen Gliedern, und meine Wahrnehmung der Umgebung begann zu verschwimmen, doch das Klopfen blieb. Es war kein Zeichen von Panik, keine Reaktion auf Angst. Vielmehr fühlte es sich wie ein innerer Rhythmus an, der sich nicht stoppen ließ.
Das Klopfen begann sich auszubreiten, von meiner Brust hinunter in meinen Bauch und weiter in meine Arme und Beine. Es war, als ob ein pulsierender Strom durch meinen Körper floss, sanft, aber unaufhaltsam. Ein Gefühl, das mich einerseits schwächte und andererseits eine seltsame, schwer zu beschreibende Ruhe mit sich brachte. Keine Angst, keine Eile – nur dieses langsame, stetige Pulsieren.
Das Seltsamste daran war das, was dieses Gefühl in mir auslöste. Trotz der Schwäche, die mich überkam, fühlte ich etwas Unerwartetes: eine fast tröstende Entschlossenheit. Es war, als ob dieses Klopfen eine Art inneren Frieden in mir weckte, eine Gewissheit, die Schuld und Trauer, die mich all die Jahre verfolgt hatten, endlich abstreifen zu können. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit, das sich in mir ausbreitete, war befremdlich, aber auch beruhigend. Ich spürte eine Verbundenheit, als würde mich etwas Unsichtbares rufen und mir sagen, dass der Kampf, den ich so lange innerlich geführt hatte, ein Ende finden könnte.
Der Drang, loszulassen, war stark. So stark, dass es mich in einen Zustand des Halbschlafs versetzte, in dem alles um mich herum nur noch schemenhaft erschien. Von Sag sprach noch immer, aber seine Worte drangen kaum noch zu mir durch. Alles, was übrig blieb, war dieses rhythmische Klopfen, wie ein Ruf aus der Ferne, dem ich nicht entkommen konnte – oder vielleicht auch gar nicht wollte.
„Aleksis,“ hörte ich plötzlich Lem sagen. Seine Stimme klang gedämpft, als käme sie aus weiter Ferne. Er stupste mich sanft an, versuchte meine Aufmerksamkeit zu erregen. Als ich meinen Kopf leicht drehte, sah ich in seine besorgten Augen. „Hast du noch Fragen?“, fragte er, doch ich brauchte einen Moment, um die Worte zu verstehen. Mein Geist war wie in Watte gehüllt, verschlungen von diesem merkwürdigen inneren Pulsieren, das mich immer tiefer in einen Zustand der Entfremdung gezogen hatte.
Ich blinzelte, verwirrt und desorientiert. Was war gerade passiert? Von Sag hatte offenbar bereits seinen Bericht beendet. Der Raum lag still, die Luft schien vor Spannung zu flimmern. Alle Augen waren auf mich gerichtet – Lem, der mich durchdringend musterte, als ahne er, dass etwas nicht stimmte, und Großberg, dessen scharfer Blick mich unverhohlen beobachtete, als hätte er etwas Verdächtiges bemerkt.
Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Die Worte blieben mir im Halse stecken, als ich mich bemühte, wieder ins Hier und Jetzt zu finden. Meine Brust zog sich zusammen, als hätte sich eine unsichtbare Hand um mein Herz gelegt. „Äh…“ war alles, was ich herausbrachte. Der Geschmack von Eisen drang plötzlich an meinen Gaumen – Blut. Ich hustete hart und spürte, wie ein Schwall dieses metallischen Geschmacks meinen Mund füllte. Panik stieg in mir auf. Etwas war ernsthaft falsch.
Ich versuchte, mich aufzurichten, wollte aus dieser beklemmenden Situation herauskommen, doch meine Beine gaben nach. Mein Körper fühlte sich taub an, als würde er mich im Stich lassen. Die Welt um mich herum begann zu schwanken, die Gesichter der anderen verschwammen vor meinen Augen. Alles drehte sich. Ich hörte Lem, wie er etwas rief, spürte seine Hände, die mich festhielten, als ich zur Seite kippte. Er versuchte mich aufzufangen, doch es war zu spät.
Mein Kopf berührte den kalten Parkettboden, und ein dumpfer Schmerz zog sich durch meinen Schädel. Ich nahm hektische Bewegungen wahr – Großberg sprang von seinem Platz auf, von Sag machte einen erschrockenen Schritt nach vorne. Lem rief nach Hilfe, doch alles um mich herum wurde immer dumpfer, als ob eine dicke, unsichtbare Barriere zwischen mir und der Welt wuchs.
Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, aber meine Sinne entglitten mir. Die Geräusche wurden leiser, die Bilder vor meinen Augen verschwommen. Inmitten dieser Dunkelheit, die mich immer tiefer hinabzog, tanzten erneut die schemenhaften Figuren aus meinem Traum. Diese fremden, unheimlichen Objekte, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hatten, begannen vor meinem inneren Auge zu flimmern. Sie drehten sich, zogen Kreise, formten Muster, die ich nicht begreifen konnte.
Weit in der Ferne, jenseits dessen, was ich bisher als Realität kannte, bemerkte ich eine seltsame Präsenz. Es schien wie am Rand eines metaphysischen Horizonts zu schweben, unfassbar weit weg und doch in seltsamer Nähe zu meinem Bewusstsein. Es war kein Ding, das sich in Worten beschreiben ließ – weder geometrisch noch natürlich. Es war mehr eine Andeutung, ein Schatten dessen, was es sein könnte.
Ich wusste nicht, was es war, und dennoch wuchs in mir eine unheimliche Ahnung. Etwas in mir, ein fremdartiger Instinkt, drängte mich, meine Aufmerksamkeit auf dieses Wesen zu richten. Je mehr ich meinen Fokus bündelte, desto deutlicher wurde das Gefühl. Es war, als ob mein Verstand eine längst vergessene Erinnerung oder mehr eine uralte Angst hervorholte, die tief in mir verborgen gewesen war.
Und dann, ganz plötzlich, schlug die Kälte zu. Sie war nicht nur in meinem Körper, sondern drang tief in mein Innerstes ein, ließ mein Blut in den Adern gefrieren, während mein Herz sich zusammenzog, als wolle es aufhören zu schlagen. Die Wärme und Lebendigkeit, die mich noch eben durchströmt hatten, wurden durch eine beißende Leere ersetzt. Diese Kälte war nicht einfach ein physisches Empfinden – sie war das Fehlen von allem, was Leben ausmachte, und zugleich die Manifestation eines überlegenen Bewusstseins: Die Elipse.
Es beobachtete mich. Nicht mit Augen, denn es hatte keine, aber mit jener verstörenden Bewusstheit, die tief und klar in meine Seele hineinreichte. Es sah mich, nicht nur wie man eine Person ansieht, sondern es durchdrang mich, durchbohrte jede Schicht meines Wesens.
"Was ist mit seinem Auge?" hörte ich Lem plötzlich panisch schreien. Seine Stimme war durchdringend, voller Verzweiflung und Furcht. "Was passiert hier?" Seine Worte klangen fern und doch direkt neben mir, als wäre ich in zwei Welten zugleich gefangen.
Noch bevor ich etwas realisieren konnte, drang auch Großbergs panische Stimme durch das Chaos, das um mich herum ausbrach: "Hilfe! Holt Hilfe!" Er klang nicht mehr arrogant oder kontrolliert wie zuvor, sondern plötzlich schwach, zerbrechlich – von echter Angst ergriffen.
Doch all das war nur ein fernes Echo, das immer mehr verblasste, je tiefer ich in die Dunkelheit gezogen wurde. Die Stimmen, die Bewegung um mich herum, all das verschwand in der Kälte, die sich um mein Bewusstsein legte. Die Präsenz – die Elipse – war das Letzte, was ich spürte, bevor alles verstummte.
Dann fiel ich endgültig in die Bewusstlosigkeit, wie in einen tiefen, bodenlosen Abgrund. Alles, was mich ausmachte, versank in der Schwärze.
Mein Husten unterbrach den hysterischen Bericht meines Präfekten, Lem. Die stickige Luft des Sonderzuges setzte mir zu. Ich entschuldigte mich, stand auf und öffnete ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Die salzige Seeluft half gewöhnlich bei meinen Anfällen. Der Windzug war heftig, und erst da wurde mir bewusst, mit welch unglaublicher Geschwindigkeit wir über die Dachstraße glitten. Diese lange, schienenbesetzte Brücke verband das Festland mit der Insel Rostblatt – ein technisches Wunder aus der Vorkriegszeit. Mir wurde schwindelig und in einem kurzen Moment der Anspannung sah ich auf mein Taschentuch. Kein Blut. Erleichterung.
"Was war mit den Kindern?", deutete ich an Lem, damit er mit dem Bericht fortfuhr.
"Die Kinder, wie gesagt, was auch immer mit denen passiert ist, ihre Leichen, Aleksis, sie schauen aus wie kleine Monster. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Selbst die Toten am Leinesberg haben hübscher ausgesehen und das will was heißen, sage ich dir, wir sind ... "
Der Bericht von Lem schien plötzlich abzubrechen, als er wieder in Erinnerungen abschweifte. Die Schrecken von Leinesberg waren bekannt und eines der großen Traumata der Schlachten gegen die Altfordernden. Doch dieser Fall war etwas anderes. Eine Kälte durchzog mich, als ich daran dachte, dass diese Kinder einem grausamen Schicksal zum Opfer gefallen waren, einem Schicksal, das wir noch nicht begreifen konnten.
Lem begann wieder hektisch zu blinzeln als er weiter in seinen Erinnerungen versank, sein Geist war jetzt wieder im großen Krieg. Wie so oft fiel er zurück in jene Zeit der Verachtung, die unser aller Geißel ist. Er fing an von der Kleysschlacht zu erzählen und hetzte gegen die nach seiner Sicht unfähigen Kommandanten seines Korps. Ich selbst hatte nur Bilder von den Toten am Leinesberg gesehen. Ein Zeugnis menschlicher Grausamkeit. Obwohl die Besatzung mehrmals versucht hatte, aufzugeben, wurden sie vom Feind in die Bergfeste eingeschlossen. Wer es irgendwie schaffte, aus der Anlage zu entkommen, wurde von den feindlichen Linien sofort erschossen. Anschließend räucherten die Soldaten der Altfordernden die Trupps mit Schalgranaten aus, welche das teuflische Gas aus den Fabriken von Koherendt enthielten. Die Haut der gefallenen Soldaten wurde komplett zersetzt, die Leiber konnten nur noch an den Uniformen und den Dienstmarken identifiziert werden.
"... über zwei Tage mussten wir warten, bis wir die Leichen bergen konnten. Stell dir das mal vor! Wir hatten drei Pumpen, die das Gift aus den Bunkern saugten, normalerweise dauert so etwas keine Stunde! Doch diese elende Liga! Die wollten die Festung nicht einnehmen, sage ich dir, diese Perversen wollten nur unsere Jungs zersetzen! Sogar gelacht haben sie, während unsere Meute elendig verreckt ist! Und das alles wegen dem scheiß Buch, wenn ich ... ", redete sich Lem in Rage.
"Lem", unterbrach ich ihn.
"Ja, Aleksis?", antwortete er, etwas verdutzt.
"Du wolltest mit deinem Bericht fortfahren, über die verstorbenen Kinder und der Galerie", erinnerte ich ihn.
"Aja, entschuldige, Aleksis, ich war gerade wieder am Leinesberg. Die Kinder, also sie waren jedenfalls furchtbar entstellt und der offiziellen Version der Wortresidenz glaube ich kein Wort, sicher nicht", antwortete Lem.
"Wo sind die Leichen jetzt? Wer kümmert sich um sie?", erkundigte ich mich.
"Sie wurden nach Zetha gebracht und dort ordentlich seziert. Die Detailergebnisse findest du in dieser Mappe. Das geschriebene Geschwurbel verstehe ich nicht. Der Arzt erklärte mir jedoch, dass in den meisten Fällen keine eindeutige Todesursache festgestellt werden konnte. Es gab zu viele Schäden. Bei den meisten führten wohl die Gehirnblutungen zum Tode. Super Einsicht, dachte ich mir, da wäre ja jeder Narr daraufgekommen", spottete er.
"Was hat man den Angehörigen gesagt? Die Presse schreibt, ein Unfall wäre für die Todesfälle verantwortlich. Angeblich soll Miritium aufgrund eines uralten Baufehlers aus den Werkstätten in die Belüftung gekommen sein", hielt ich fest.
"So ein Blödsinn! Ja, Mitrium wird schwer unterschätzt, doch würden die Leichen nicht so aussehen. Die Angehörigen haben übrigens die Körper nie zu Gesicht bekommen, sie wurden nach der Obduktion sofort eingeäschert. Wäre das ein Skandal gewesen, hätte es Aufnahmen gegeben! Ist auch recht so. Keine Eltern sollten ihre Kinder so sehen. Sie sind verreckt, das ist alles, was die schließlich wirklich wissen müssen. Der Rest ist jetzt Staatsache! Viel Glück wünsche ich uns!", antwortete Lem.
Er unterbrach unseren Augenkontakt und sackte etwas im Sitz zusammen. Er blickte aus dem Fenster und hatte Tränen in den Augen. Ich hatte sofort bemerkt, dass die ganze Sache mit den Kindern ihm stark zusetzte. Sein ruppiges Wesen, angereichert mit einer guten Dosis Zynismus, wirkte auf viele seiner Mitmenschen geschmacklos. Generell löste Lem Unbehagen bei den Leuten aus, er hatte seinen linken Arm bei einer Granatenexplosion eingebüßt und sein Gesicht war durchzogen mit Narben. Wir waren fast im gleichen Alter, um die vierzig, doch wirkte er deutlich älter. Es waren ihm fast keine Haare mehr geblieben und er hatte ständig irgendwo Tabak auf seiner Kleidung, der aus der Dose kam, die er angeblich schon als Kind bei sich trug.
Ich traf ihn gleich nach dem großen Krieg, als er noch als Unteroffizier bei einem der Freikorps angeheuert war. Er hatte sich mit seinen Vorgesetzten überworfen, da diese einige seiner Kameraden aus der Truppe schmeißen wollten. Die Verkrüppelten wären zu teuer geworden und das einstige Mitleid verwandelte sich in Abscheu und Verachtung. Die Kameradschaft, die in den Schützengräben das Überleben der Männer sicherte, wich der Profit- und Machtgier der höheren Ränge. Lem wollte dies nicht hinnehmen und wurde aktiv. Er fing an, den höheren Rängen nachzustellen und lauerte ihnen bei den regelmäßigen Kneipen- und Puffbesuchen auf. Mit der Hoffnung auf kompromittierendes Material, wollte er sie ausspionieren und anschließend erpressen, um eine Absicherung für seine invaliden Kameraden zu garantieren. Ein dann doch eher zweifelhafter Plan und keineswegs durchdacht, aber Lem erkannte ein Unrecht und begann zu handeln.
Ob er bei seinem Unternehmen Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück hatte, liegt wohl im Auge des Betrachters. Die Kommandeure trafen sich nämlich nicht zum Zechen oder Rumhuren, sondern planten die lokalen Gewerkschaften feindlich zu übernehmen. Als Lem dies erfuhr, ging er dann recht einfältig zu den Arbeiterführern, um sie zu warnen. Mit der Hoffnung, dass sie ihm diese Information mit einer Absicherung für seine invaliden Kameraden vergüten würden, verriet er sein Korps. Sie schickten ihn selbstverständlich ohne Kompensation fort. Doch die Arbeiterführer nahmen seine Warnung sehr ernst und marschierten direkt zur Kaserne. Dies führte zu einigen standrechtlichen Erschießungen und provozierte fast einen zweiten Bürgerkrieg in Pieth. Wir mussten einschreiten, damit ein Blutbad verhindert werden konnte. Nachdem das Korps aufgelöst war und wir die Rädelsführer des Lynchmobs liquidiert hatten, konnten wir uns mit den Gewerkschaften und Arbeiterführern einigen und sie überzeugen, von weiteren Aktionen abzusehen. Diese ganze Angelegenheit kostete ein Vermögen und bescherte mir und meinen Vorgesetzten einige schlaflose Nächte. Alle erzählten von dem komischen Vogel, der dies zu verantworten hatte. Ich wollte den Mistkerl finden.
Als ich Lem fand, hauste er bereits zwei Monate in einem Schuppen und kümmerte sich dort um seine invaliden Kameraden. Er hatte das ganze Chaos genutzt, um einige der Kriegsanleihen seines ehemaligen Korps zu stehlen und in Geld zu tauschen. Die im Kriege verwundeten Kameraden konnten jetzt auf eine zumindest bescheidene Zukunft hoffen. Lem ging davon aus, dass man ihn jetzt ausfindig machen würde und ihm seinen gerechten Prozess zukommen lassen würde. Sein Mordprozess, wie er es formulierte. Ein weiser Mann würde seine Strafe akzeptieren, so dachte er. Er wollte lieber in den Tod gehen, als sich weiter mit einer angeblich schuldigen Gesellschaft herumzuschlagen. Einen besonders weisen Mann konnte ich in ihm nicht sehen, doch sah ich ein Talent und Werkzeug, welches ich zu nutzen wollte. Außerdem hatte ich die Vorgehensweise meines Ministeriums, die Gewerkschaften mit den Freikorps durch feindliche Übernahme zu bändigen immer stark kritisiert. Daher sprach ich mit ihm und legte ihm sein Versagen dar, doch ich gab ihm auch eine Perspektive. Ich musste ihn nicht überzeugen, er überlegte nur eine kurze Weile. Mit dem Versprechen, dass ich seine Kameraden nach Übersee schicken würde, nahm er mein Angebot an. So wurde er zu meinem neuen Präfekten ernannt, da ich dringend einen neuen benötigte. Es war nur gerecht – schließlich war sein Vorgänger wegen ihm auf offener Straße in Pieth erschlagen worden.
„Wir müssen uns auf jeden Fall diese Zita genauer anschauen“, fuhr Lem fort, nachdem er sich wieder gefasst hatte. „Sie war ja immerhin die Schirmherrin der Kinder! Diese Frau hat sie definitiv nicht mehr alle! Hast du mal ihre Schriften gelesen? Das ist reines Geschwurbel! Hetzt gute, anständige Männer zum Desertieren auf!“, klagte er.
„Es geht hier nicht um persönliche Befindlichkeiten“, entgegnete ich Lem scharf.
„Ich sage ja nur, hast du jemals eines ihrer Bücher gelesen? Dieses pazifistische Gejammer und dann noch diese seltsame Esoterik. Wie ging das nochmal? Alle Materie ist beseelt? Pah, wenn das stimmt, müsste ich jeden Tag meine armen Schuhe um Vergebung bitten!“, lachte Lem.
„Nicht nur deinen Schuhen“, entgegnete ich ihm mit einem Lächeln und blickte demonstrativ auf seine zerschlissene Militärhose, die er am liebsten trug.
„Hah! Nicht jeder kann so ein vorbildlich seriöser Kerl sein wie du, Aleksis. Aber keine Sorge, ich habe alles dabei, um den perfekten Schlipsträger zu spielen!“ grinste er. „Obwohl, bei dieser Virnbrand wären Stahlkappen die bessere Wahl, glaube mir. Aber keine Angst, ich werde dich schon nicht vor der hohen Dame blamieren!“
Zita Virnbrand, zu jener Zeit einer der bekanntesten und umstrittensten Künstlerinnen unserer Zeit, war eine feste Größe der Wortresidenz, dem ältesten Kulturzentrum der Nordmark. Dort trafen sich die kreativsten Köpfe mit ihren Gönnern und Bewunderern. Das Anwesen selbst war gigantisch, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, darunter die besten Werkstätten für Bildhauerei, eine riesige Tanzhalle und die berühmte Felliet Konzerthalle. Im Zentrum befand sich das sogenannte Kunsthaus, ein fast religiöser Ort für aufstrebende Maler, denn hier wurde entschieden, welche Werke als große künstlerische Errungenschaften zu betrachten sind. Eine Empfehlung der Wortresidenz konnte einen einfachen Handwerker in einen Großkünstler der Reiche verwandeln. Gleichzeitig war die Residenz für ihre Isolation bekannt, nur wenigen wurde Zutritt gewährt. Ihre angebliche Neutralität und Förderung von Künstlern aller Konfessionen, Nationalitäten und Rassen machte sie zum Zentrum vieler Verschwörungstheorien. Selbst im großen Krieg kamen die verfeindeten Eliten hier zusammen, um dem Spektakel zu frönen. Aufgrund ihrer schwer erreichbaren Lage galt die Rostinsel als einer der sichersten und exklusivsten Orte der Welt.
„Wir sollten uns nicht von Vorurteilen leiten lassen, Lem. Es stimmt, Virnbrand war die Schirmherrin, aber sie ist erst seit kurzem in der Residenz. Wir kennen die Abläufe nicht. In so einer frühen Phase der Ermittlungen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist immer ein Fehler“, erklärte ich ihm.
„Ich habe ja nicht gesagt, dass sie durchgedreht ist und dafür verantwortlich ist. Aber solche Leute ziehen doch oft die verrücktesten Sonderlinge an! Ich verstehe auch nicht, wie eine Schriftstellerin in das Gremium der Galerie kommt.“
„Es liegt an ihrer Vielseitigkeit,“ erklärte ich. Zita Virnbrand brillierte auf mehreren Gebieten. Ihre Zusammenarbeit mit dem gefeierten Maler Viktor Benegramm brachten beeindruckende Werke hervor. Benegramm verstand es, ihre Sprachbilder in Gemälde zu übersetzen, die eine hypnotische Wirkung entfalten. Diese Arbeiten, inspiriert von Virnbrands Schriften über eine Existenz jenseits der menschlichen Sinne, sollten eine neue Daseinsebene andeuten. Gerüchten zufolge war Benegramm regelrecht besessen von ihr und hatte geschworen, nur noch unter ihrer Direktion künstlerisch zu wirken. Manche behaupteten, das sei nur ein simpler Vermarktungstrick, aber nach dem, was ich von ihren Gemälden gesehen habe, war ich überzeugt, dass mehr dahintersteckte. Doch die grausam entstellten Kinderleichen in der Galerie warfen unheimliche Fragen auf: Ein Ritualmord? Ich durfte noch keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Ich versuchte, Lem weiter zu erklären, warum die Galerie Zita aufgenommen hatte, und erwähnte erneut ihre Zusammenarbeit mit Benegramm.
„Für mich macht das trotzdem keinen Sinn, sie malt ja nicht selbst. Aber egal. Übrigens, du musst noch meine Ausreiseerlaubnis unterzeichnen. Nicht, dass mich Rostblatt sofort wieder rauswirft. Siehst du, Lem kann eben doch Bürokratie!“, lachte er und reichte mir ein zerknittertes Stück Papier.
Ich war überrascht; ich hatte bereits selbst ein unterzeichnetes Exemplar in meiner Tasche. Nie hätte ich gedacht, dass Lem es selbst organisiert hatte. Rostblatt, unter dem Schutz der Silfstaaten, war zu jener Zeit noch unabhängig, jedoch unter dem politischen Einfluss der Altfordernden. Aufgrund seiner kulturellen Bedeutung war es jedoch grundsätzlich schwierig, Druck auf diese Institution auszuüben. Zahlreiche Versuche, die Wortresidenz vollkommen auf eine Seite zu ziehen, scheiterten, da die Gremien kluge Diplomaten waren, keine verträumten Künstler. Es hatte einiges an diplomatischem Geschick erfordert, dass zwei Mitarbeiter des nornischen Innenministeriums einreisen durften.
Lem und ich nutzten die restliche Zeit der Fahrt, um unser Vorgehen weiter abzustimmen. Es würde schwer werden, brauchbare Informationen zu bekommen. Nur drei der sieben verstorbenen Kinder waren Staatsbürger von Nornien, zwei Mädchen und ein Junge, alle zwischen 7 und 9 Jahren alt. Unsere Befugnis reichte nur für die Untersuchung dieser Kinder. Das Innenministerium hätte die fragwürdige Version der Wortresidenz wohl akzeptiert, wäre eines der Mädchen nicht die Tochter des Vicomtes von Schubert gewesen. Es galt als unklug, unnötige Konflikte mit der Residenz zu provozieren. Doch Schuberts lauter Protest über die Kremierung seiner Tochter wegen angeblichen Miritium-Rückständen zwang uns zum Handeln. Trotz der Risiken war ursprünglich davon überzeugt, dass die Verschleierung des Zustands der Leichen richtig gewesen war.
Ich las den Obduktionsbericht der Kinder, den ich von Lem bekommen hatte; es war wirklich schrecklich. Der leitende Arzt hatte als Todesursache innere Blutungen angegeben, ausgelöst durch Verletzungen am Schädel. Weitere Verletzungen waren post-mortem entstanden. Das Interessanteste stand jedoch am Schluss: Eine Miritium Vergiftung konnte kategorisch ausgeschlossen werden. Ein anderes bekanntes Toxin, das solche Verletzungen verursachen könnte, war dem Arzt nicht bekannt. Er verwies lediglich auf das Gift von sogenannten Höhnen, einer Bärenart aus Oliestien, die hunderte Meilen von der Residenz entfernt lebt. Höchstunwahrscheinlich. Außerdem erklärte dies nicht die verstörenden Verformungen der Kinderschädel.
Die Veröffentlichung dieser Daten hätte einen Skandal ausgelöst und uns gezwungen, offen gegen die Residenz vorzugehen, was unsere Position gegen die Altfordernden weiter geschwächt hätte. Doch Schuberts Prestige und öffentliches Leiden waren bedrohlich genug, dass das Ministerium aktiv wurde. Niemand wollte unnötige Unruhen. Der Adel konnte immer noch gefährlich werden.
Endlich hielt der Sonderzug an, wir hatten unser Ziel erreicht. Der Bahnhof von Rostblatt spiegelte den künstlerischen Anspruch der Wortresidenz wider. Die hohen Gewölbedecken und kunstvollen Verzierungen verliehen dem Raum eine erhabene Aura. Die Säulen, die den Empfangsbereich flankierten, schienen endlos in die Höhe zu wachsen. Die Wände waren mit kunstvollen, rötlichen Malereien geschmückt, und im Zentrum des Bahnhofs prangte eine verglaste Leinwand, auf der sich viele berühmte Besucher mit ihren Unterschriften und Insignien verewigt hatten. Die gewaltige Dimension des Gebäudes und die Tatsache, dass wir bei unserer Ankunft die einzigen Menschen auf der Station waren, ließen uns wie unerwünschte Eindringlinge erscheinen, als ob uns unsichtbare Schemen zurück ins Meer werfen wollten. Lem fluchte, murmelte etwas von Dekadenz und Verschwendung, doch auch auf ihn übte die zivilisatorische Leistung ihren Zauber aus. Er wurde wortkarger, blickte mehrmals hektisch zur gigantischen Decke und erkundete schließlich mit fast kindlicher Neugier das architektonische Wunder.
„Die Station selbst ist erst um die 50 Jahre alt, es handelt sich um einen Umbau des alten Werfts, darum ist auch die Decke so hoch. Der Grundriss des Gebäudes ist aber schon über 200 Jahre alt, falls es dich interessiert, Lem“, erklärte ich ihm.
„Es ist schon schön, kann man nichts sagen“, antwortete er etwas abwesend und erforschte weiterhin die markanten Verzierungen der Decke.
Als ich selbst die Decke weiter erkundigte, umgab mich plötzlich ein sehr eigenartiges Gefühl. Mein Körper spannte sich an, und ich verspürte ein starkes Bedürfnis, meinen Kopf einzuziehen. Es war, als würde mich jemand anschreien. Mir wurde übel, mein Magen schien die Anspannung nicht zu ertragen. Zudem nahm ich einen mir bis dahin unbekannten Sinn wahr – eine Art metaphysischer Gestank. Ein subtiler Eindruck durchdrang meinen ganzen Körper. Ich wollte mich verstecken, eine unheilvolle Bedrohung schien mir näher zu kommen. Ich fühlte Schuld. Waren es die vielen Wesen, die hier umgekommen sind? Die Seelen der getöteten Meeresbewohner, die mich anklagten? Mir wurde schwindelig, meine Sicht vernebelte sich, und die Mauern schienen zu leben, die Verzierungen waren die Schuppen lebender Dinge. Es war, als stünde ich in einem pulsierenden Organismus. Eine Entelechie, die …
„Werden wir jetzt abgeholt, oder müssen wir uns selbst über die Insel schleppen?“, fragte mich Lem und riss mich aus dem sonderbaren Moment heraus. Mein Zustand hatte nur wenige Sekunden gedauert. Ich konnte mich wieder etwas entspannen, mein geschwächter Körper schien bereits meinen Geist zu beeinflussen. „Hey Aleksis, geht es dir gut? Du bist wieder so blass, dieses Scheiß-Scherbengewitter! Komm, lass uns setzen“, sagte er und wollte mich zu einer nahegelegenen Sitzgelegenheit führen. „Nein, es ist gut, danke. Ich gehe schnell zur Toilette. Wir sollten übrigens abgeholt werden, offenbar hat man das übersehen. Warte bitte hier, ich bin gleich wieder da“, erklärte ich Lem und entschuldigte mich kurz.
Im Spiegel sah ich ein blasses Gesicht mit eingefallenen Wangen. Ich sammelte Speichel in meinem Mund und spuckte ins Waschbecken. Es hatte sich kein Blut in der Ausscheidung gesammelt. Normalerweise beruhigte mich dieser Umstand, doch hätte das wenigstens eine Erklärung für die unheilvolle Episode auf der Station sein können. Die schlechte Verfassung meines Körpers schien jetzt bereits meinen Geist zu beeinflussen. Mein längeres Haar und mein dichter Bart würden hoffentlich meinen gesundheitlichen Zustand vor Fremden verbergen. Die weißen Flecken in meinem Gesicht hätten sonst zu viel verraten. Ich nahm vorsichtshalber eine halbe Beruhigungstablette und einen Magenschutz, damit ich den Tag gut überstand. Ich würde wohl noch einige Kraft brauchen.
Als ich zurückkehrte, fanden wir am Bahnhof immer noch niemanden, der uns abholte oder unsere Dokumente kontrollierte. Wir waren stark verwundert; ich hatte mit strengen Kontrollen unserer Dokumente gerechnet und ging davon aus, dass unser Gepäck durchsucht werden würde. Jetzt wussten wir nicht, wie wir zur Residenz kommen sollten. Wir verließen den Bahnhof, und vor uns erstreckte sich eine lange Straße. Ein schwacher Wind wehte über die Insel, und die weite, ebene Landschaft ermöglichte einen ungehinderten Blick von einem Ende zum anderen. Die frische Seeluft durchflutete meine Lunge – eine überraschend intensive Wohltat. Am Horizont war der gigantische Bau der Wortresidenz zu erkennen.
„Haben die Sesselkleber im Ministerium etwas versaut?“, fragte Lem.
„Ich denke nicht. Ich wundere mich eher, dass niemand uns kontrolliert. Vielleicht will das Gremium uns etwas demütigen? Es sieht nämlich so aus, als müssten wir zu Fuß zur Residenz gehen“, fasste ich zusammen.
„Was?! Da sind wir mit dem scheiß Gepäck mehrere Stunden unterwegs! Und du bist krank…“, wollte Lem fortfahren, doch ich unterbrach ihn. „Lass bitte gut sein, ich kann noch laufen, und es geht mir schon viel besser. Außerdem hilft mir die Bewegung an der frischen Luft, die stickigen Ministeriumszimmer machen mir eher zu schaffen.“ Lem nickte mir zu und nahm schweigend seinen Koffer, während er sich auf den Weg zur Residenz machte. Er sagte nichts mehr, um meinen Stolz zu schützen. Da er schon in der Vergangenheit mit Kriegsinvaliden zu tun gehabt hatte und selbst oft mit Mitleid konfrontiert wurde, wusste er, wann er Ruhe geben sollte. Ich nahm ebenfalls mein Gepäck, und die beiden verlorenen Kriegskrüppel schlenderten zur Wortresidenz.
Wir waren langsam. Sehr langsam. Ich konnte meinen Koffer nur schwer transportieren, da meine Lunge bei jedem Hauch einer Überanstrengung krächzte. Lem hatte ebenfalls Schwierigkeiten, seinen gewaltigen Trosssack zu transportieren. Der fehlende Arm schränkte seine Mobilität ein, und ich wollte gar nicht wissen, was er alles bei sich trug. Ich hätte über uns gelacht, wenn mich nicht ein leises Gefühl der Demütigung begleitet hätte. Nach zwei Stunden, in denen uns die Residenz nur geringfügig größer erschien, erspähte Lem einen Wagen aus der Ferne, der uns direkt entgegenkam. War das unser verspäteter Transport? Oder schickten sie ein Sicherheitsorgan, um die zwei Sonderlinge zurück ins Meer zu werfen? Wir waren jedenfalls erleichtert. Die Wolken hatten sich bereits verdunkelt, und der Wind wurde stärker – es würde wohl bald regnen. Ich setzte mich auf meinen Koffer und wartete auf unsere erste Begegnung mit der Wortresidenz.
Wir wunderten uns über das Fahrzeug. Das Modell wirkte zwar elegant, aber mit höchst sonderbaren Proportionen. Der Wagen war ungewöhnlich lang und wurde nach vorne hin immer breiter. Die Karosserie hatte bis auf die Motorhaube eine schwarze Lackierung, die zwar weiß aussah, aber eigenartig vergilbt war. Ein Heretzio? Diese waren für ihre unkonventionellen Bauarten bekannt, doch schien mir eine solche Konstruktion eher marktuntauglich zu sein, zumindest für den Massenmarkt. Lem und ich teilten einen verwirrten Blick und einigten uns stillschweigend darauf, dass wir wohl beide keinen Sinn für die uns dargebotene Ästhetik hatten. Der Wagen beschleunigte abrupt und hielt dann mit einer Vollbremsung vor uns. Minuten später öffnete sich die Tür, und vor uns stand ein unfassbar hässlichster Zeitgenossene und einer der größten Männer, die ich je gesehen hatte. Das wenige Haar, das er noch hatte, fiel seitlich ins Gesicht und zeigte auf ein träges Auge. Er schielte leicht, und in Kombination mit einer viel zu großen Nase wirkte sein Gesicht wie in zwei Hälften getrennt, als würden sie unabhängig voneinander existieren.
„Was macht ihr hier? Wer seid ihr?“, fragte uns der Riese hektisch, mit einer für seine Statur unangenehm hohen Stimme. Wir erklärten ihm, wer wir waren und warum wir hier waren. „Das kann nicht sein, die Nornischen Gesandten kommen erst morgen. Ihr seid zu früh!“, fauchte er uns an. Ich entnahm aus meinem Gepäck das Gesandtenvisum, das uns direkt vom Gremium ausgestellt worden war. Das Freigabedatum zur Betretung der Insel war genau an diesem Tag. Der Fremde begutachtete das Dokument und brauchte auffallend lange, um das Schreiben zu studieren. Als er das Datum las, schreckte er auf und entschuldigte sich eindringlich bei uns. Man habe ihm wieder nichts gesagt, und offenbar war ein Bernie an der ganzen Sache schuld. Die Administration sei in der Zwischensaison immer schlecht, meinte er, die guten Leute wären dann alle in Übersee. Ich beobachtete Lem, während wir mit Ausreden und Rechtfertigungen bombardiert wurden, und konnte nicht einschätzen, ob er sich zusammenreißen musste, um nicht laut loszuschreien oder laut loszulachen. Jedenfalls übernahm unser neuer Freund das Gepäck und versprach, uns sofort zur Residenz zu bringen. Ich bedankte mich, und kurz nachdem wir im Fahrzeug des Inselriesen saßen, hörte ich bereits den Regen gegen das Fenster prasseln.
Lem schniefte und räusperte sich, als er sich seinen Tabak aus der Dose nahm. Er hatte sich auf den Beifahrersitz neben unseren Fahrer gesetzt und unterhielt sich bereits seit einigen Minuten mit ihm. Der große Mann erzählte, dass er für die Residenz als Abholservice und Sicherheitsmitarbeiter angestellt war. Und nein, dieser Wagen war kein offizieller Abholwagen, sondern seine „Privatkavallerie“, wie er es nannte. Er hatte ihn selbst zusammengebaut, mit extra viel Raum für seine langen Füße. Er heiße Manfred. Auch selbst bemalt hatte er ihn. Außerdem sei er ein Fischer, der beste auf der ganzen Insel, sagen alle. Lem stellte bewusst immer mehr Fragen und fand unseren einfältigen Fahrer offenbar recht komisch. Doch plötzlich wechselte Lem abrupt das Thema und wurde ernst: „Konntest du die Leichen sehen? Die der verstümmelten Kinder?“
Ein Ruck ging durch den Wagen. Manfred, der sich offenbar vor Schreck verschalten hatte, antwortete mit einer unangenehm hohen Stimme: „Nur die Leichensäcke, also nein, schlimmer Unfall“, sagte er, sichtlich nervös. Wir waren nur noch eine kurze Strecke von der Residenz entfernt. „Du hast doch sicher etwas gesehen oder mitgekriegt? Du wurdest als Zeuge in den Berichten genannt“, insistierte Lem. Ein Bluff. Ich hatte bereits erkannt, dass unser Fahrer wohl nicht der intelligenteste Zeitgenosse war und sein gesamtes Verhalten, seine Schreckhaftigkeit, deutete auf eine gewisse Unterwürfigkeit hin. Lems eindringlicher, ja aggressiver Ansatz war hier ausnahmsweise völlig richtig. Manfred schien zu verstummen und gab uns mehrere Sekunden lang keine Antwort. Er versuchte, so zu tun, als hätte er die Frage nicht gehört, und schien angestrengt nachzudenken. Die ganze Situation war für ihn hoch unangenehm.
„Ich denke nicht, dass ich in den Berichten genannt wurde“, entgegnete Manfred plötzlich sehr bestimmt. „Ihr befindet euch hier auf dem Gebiet der Wortresidenz. Die Richtlinienkompetenz, die regelt, wie ihr eure Ermittlungen durchzuführen habt, obliegt in der Rechtsgebung des Gremiums. Ich stehe euch gerne zu einer geordneten Befragung zur Verfügung, sobald die geltenden Zuständigkeiten dies anordnen und der Ablauf definiert wurde“, sagte Manfred monoton, als würde er aus einem Buch vorlesen.
Der Wagen hielt an, die kurze Fahrt war vorbei. Manfred stieg sofort aus und begann, unser Gepäck herauszuholen. Lem und ich schauten uns kurz verdutzt an und stiegen ebenfalls aus. „Meine Herren, ich heiße Sie nun offiziell in der Wortresidenz willkommen. Dort oben ist der Haupteingang. Sie können direkt zum Empfang gehen, und dort wird alles Weitere abgewickelt. Ich möchte mich nochmal um den fehlerhaften Transport entschuldigen. Doch jetzt muss ich wieder weiter, ich habe noch einen dringlichen Termin. Ich wünsche guten Tag!“, teilte uns Manfred mit dem Anschein von unterdrückter Wut in der Stimme mit, dann stieg er wieder in seine „Privatkavallerie“ und fuhr schnell davon.
„Das hat man ihm aufgeschrieben, sag ich dir, die haben sich darum gekümmert, dass uns hier niemand etwas sagen wird! Sogar diesen Trottel haben sie vorberietet!“, ärgerte sich Lem.
Nach einer kurzen Begrüßung am Empfang geleitete uns eine recht elegante Dame zu unserem Quartier. Obwohl es erst Spätnachmittag war, würde sich heute niemand mehr mit uns auseinandersetzen können. Ein vom Gremium bestellter Ausschuss würde uns am nächsten Morgen alle Fragen beantworten und durch die Werkstatt führen. Das hieß, dass es uns nicht erlaubt werden würde, eine eigenständige Investigation durchzuführen. Diese Aussicht erfüllte mich mit Wut, doch hatte ich bereits damit gerechnet.
Der Abend brach schnell herein und uns wurde Steak mit Bratkartoffeln aufs Zimmer gebracht. Dazu reichten sie uns zwei Flaschen erlesenen Wein aus Altrussa. Lem verschlang das Essen und genoss den Alkohol in vollen Zügen. Ich hingegen konnte kaum etwas essen. Die Episode am Bahnhof, dieser eigenartige Moment einer unheilvollen Bedrohung, schien immer noch auf meinen Magen zu schlagen. Ich zwang mich, etwas Fleisch und ein paar Kartoffeln zu essen, und nahm einen Schluck Wein, der mir sofort Übelkeit bereitete. Ich war müde.
Als wir bereits im Bett lagen, fragte ich mich eindringlich, was eigentlich unsere Mission auf dieser Insel war. Mein Vorgesetzter hatte mir nur ein Dossier übergeben und den Auftrag erteilt, die Angelegenheit mit größter Diskretion zu behandeln. Von einer wirklichen Investigation oder Aufklärung war nie die Rede. Wir hatten im Grunde nur einen politischen Auftrag, es ging nicht darum die einzelnen Todesfälle aufzuklären. Heute bin ich überzeugt, dass das beste Ergebnis, das Lem und ich für das Ministerium hätten erzielen können, darin bestanden hätte, die offizielle Version der Wortresidenz nach unserer Ankunft einfach zu bestätigen. Hauptsächlich, damit der lästige Aristokrat, dieser Schubert, endlich Ruhe gab. Und das Schicksal der Kinder? Tragisch. Doch waren keine sechs Jahre zuvor, am Ende des Krieges, allein in Nornien etwa 25.000 bis 30.000 Minderjährige an der Wreskrankheit gestorben. Es schien unklug, ja geradezu als nationaler Verrat, innere Unruhen oder einen Nachteil gegenüber den Altfordernden zu riskieren, nur um die Kindermorde einiger schwer gestörter Künstler aufzudecken. Auf moralischer Ebene war dieser Ansatz sicher der falsche, aber was hatten wir, die Generationen meiner Zeit, im Namen einer höheren Moral und absoluter Ideale an Elend produziert? Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde das Erwartbare erfüllen. Mit einem Gefühl der Bitterkeit schloss ich meine Augen und gab mich meiner Erschöpfung hin.
Die Träume lauerten im Schlaf. Ich verstand nicht. Sonderbare Formen, physikalische Körper, Zylinder und kegelartige Schemen umgaben mich. Sie bewegten sich und verharrten nur kurz, um verschiedenste Konstellationen zu zeigen. Seltsam. Eine eigenartige Stille umgab mich. Die Objekte bewegten sich gleichförmig zueinander in geoordneten Choreografien. Während ich dieses merkwürdige Spektakel beobachtete, war ich mir meiner selbst voll bewusst. Es gab immer wieder Momente, da wusste ich, dass ich träumte, und dann vergaß ich es wieder. Wie ein leises Echo, ein subtiler Sinneseindruck, den ich nicht in meinen Geist zu übersetzen vermochte, durchzog den gesamten Traum. Die Körper bewegten sich immer schneller und der Boden unter mir schien zu weichen. Ich hatte Angst. Eine unheilvolle Präsenz kam immer näher. Das Entsetzen einer sterbenden Seele, die nicht dem Untergang zu entfliehen vermag, verband sich mit meinem Wesen. Ein panischer Selbsterhaltungstrieb umklammerte mich, und ich hatte das Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden, während die sonderbaren Objekte immer schneller mit mir hinab tanzten. Immer schneller. Immer intensiver. Doch plötzlich war ich angekommen. Am Boden. Ich war immer noch in einem schwer zu begreifenden Nichts, doch spürte ich eine kalte Geborgenheit. Ich war alleine. Außer mir gab es nur noch Trauer und Schuld. Ich versuchte zu weinen, doch war ich in meiner selbst gefangen, unfähig meinem Leiden Luft zu machen.
Am nächsten Morgen weckte mich das Licht der aufgehenden Sonne, das durch die weißen Vorhänge fiel. Lem war bereits auf und stand am Fenster, den Blick starr nach draußen gerichtet. Er schien tief in Gedanken versunken, doch als ich mich regte, drehte er sich zu mir um.
„Wir müssen heute vorsichtig sein,“ flüsterte er.
Ich nickte stumm, noch immer benommen von dem gestrigen Traum und dem unruhigen Schlaf.
„Ich meine es ernst. Ich bin heute Nacht unserem neuen Freund Manfred wieder begegnet,“ drängte Lem.
„Was? Wo denn? Wo warst du?“ fragte ich ihn alarmiert und richtete mich auf.
„Hör bitte auf dich gleich aufzuregen, ich habe keinen Blödsinn gemacht, während du geschlafen hast. Ich musste in der Nacht raus und bin aus Versehen durch die falsche Tür gegangen. Plötzlich war ich im Flur, und da stand der dumme Riese vor mir. Er war sichtlich erschrocken, mich zu sehen, und verschwand schnell wieder die Treppe hinunter. Ich sage dir, der hatte einen Revolver am Gürtel!“ erklärte er etwas hysterisch.
„Der ist Wache gestanden, die hatten Angst, dass wir nachts herausschleichen. Sie wollen definitiv nicht, dass wir unseren Job machen“, schlussfolgerte ich.
Lem nickte mit Abscheu. "Pah, wer weiß, ob dieser Idiot nur Wache gestanden hat. Vielleicht hatte er einen ganz anderen Auftrag. Auf jeden Fall gehe ich nicht unbewaffnet aus diesem Zimmer." Mit diesen Worten zog er seine P87 aus dem Gepäck und verstaute sie in der Innentasche seines dunkelbraunen Mantels, der neben der Tür hing.
„Lem, ich bezweifle, dass dein nächtlicher Rundgang ein Mordkommando verhindert hat. Ich hoffe doch, dass sie noch genug Anstand haben, um zumindest nicht so einem Dilettanten den Auftrag zu geben, sollten sie zwei Mitarbeiter des nornischen Ministeriums ermorden wollen“, sagte ich mit leicht zynischem Unterton. „Nimm deine Waffe mit, aber bitte, stell nichts Dummes an – nicht wie damals in Sternigen, als...“
Lem unterbrach mich abrupt: „Nicht schon wieder diese Geschichte! Ich hätte der alten Witwenhexe niemals den Kopf weggeschossen, woher sollte ich wissen, dass sie sofort ohnmächtig wird, sobald die eine Waffe sieht? Keine Sorge, ich werde mich benehmen, auch wenn ich schon spüre, dass die Schweine die Kinder ermordet haben!“ Seine Stimme war traurig und verärgert.
Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Ich weiß, dass dir die Sache nahegeht, aber wir können uns hier keine Skandale leisten. Die Residenz ist für uns zu wichtig, um unüberlegt zu handeln. Wir müssen ihren Mummenschanz anhören und es absegnen. Kannst du das, Lem? Andernfalls bitte ich dich, hier zu bleiben.“
„Was?! Ich lasse dich sicher nicht allein hier herumlaufen! Und stell mich nicht als sentimentales Anhängsel dar. Ich werde meinen Mund halten, auch wenn es eine Schande ist. Ich hasse es, wenn Kinder unter die Räder kommen“, erwiderte er entschlossen.
„Ich weiß,“ antwortete ich mit gedämpfter Stimme, „mir geht es genauso.“
Lem sah mich kurz an, dann wandte er den Blick wieder ab, als würde er in der Ferne nach etwas suchen, das er längst verloren hatte.
„Ich glaube, ich habe dir schon mal von meinem Stiefbruder erzählt? Ich war, glaube ich, sehr betrunken, ich weiß es nicht mehr genau.“
„Hast du,“ entgegnete ich ruhig. „Und ja, du warst ziemlich betrunken. Es ist jetzt, glaube ich, schon ein Jahr her. Im Gasthof bei Gerlendorf, oder war es noch in Rarstein?“
Er lachte leise, ohne Freude. „Ja, das klingt nach mir.“
Ich nickte, die Bilder und die Emotionen der vergangenen Nacht tauchten kurz vor meinem inneren Auge auf. „Jedenfalls hast du damals gesagt, sie haben ihn zu Unrecht angeklagt. Und dann... hingerichtet.“
Lem schwieg einen Moment, als hätte er meine Worte nicht gehört oder als ob die Erinnerung plötzlich zu schwer auf ihm lastete. Er schloss die Augen, atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Er war gerade mal 16. Es stimmt so nicht ganz, zu Unrecht wurde er nicht angeklagt. Ein dummer Fehler... Er hatte ein paar Ladungen Zigaretten geklaut, sie auf dem Schwarzmarkt verkauft. Normalerweise bekommt man dafür ein paar Jahre Festungshaft.“ Seine Stimme brach kurz, aber er fing sich wieder. „Aber die Firma, von der er gestohlen hat... Sie war einflussreich und waren die vielen Glücksritter die sich an ihrem Eigentum vergriffen satt.“
Ich schluckte und hielt seinen Blick. „Ich kann mir denken, was passiert ist. Sie haben den Richter bestochen, nicht wahr?“
Lem nickte. „Ja. Sie wollten ein Exempel statuieren, zeigen, dass ja keine jungen Burschen wieder auf die Idee kamen, auf diese Art in ihrem Geschäft herumzupfuschen. Der Richter war käuflich, und mein Bruder...“ Lem hielt kurz inne, seine Stimme bebte leicht, als er weitersprach. „Weißt du, Aleksis, wir hatten nie wirklich jemanden. Kein Vater, der sich um uns kümmerte oder uns wenigstens zusammenschlagen würde, wenn wir etwas Dummes anstellten. Wir mussten eben allein klarkommen. Tag für Tag. Das ging oft schief. Wir kamen dann schon immer irgendwie durch, aber oft fehlte es uns an den grundlegendsten Dingen.“
Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, als ob er in den Erinnerungen dieser harten Jahre versank und fing wieder an hektisch zu blinzeln. „Es war nicht nur das Geld, das fehlte. Es war alles – neue Kleider, warmes Essen, selbst die einfachsten Sachen. Mein Stiefbruder... er hatte es wahrscheinlich noch schwerer. Im Viertel wurde er als Stinker verschrien. Man verspottete ihn und die Gleichaltrigen jagten ihn oft durch die Straßen, als wäre er ein Tier. Er konnte sich nicht wehren und ich interessierte mich nicht dafür. Ich hielt mich ja für was Besseres, da ich es in die Armee geschafft hatte!“
Lem atmete tief durch und sah mir direkt in die Augen. „Und wer, Aleksis, wäre ein besseres Bauernopfer als er? Ein verwaister Junge, der nie etwas sauberes zum Anziehen hatte, wo die Leute grundsätzlich dankbar wären, wenn man ihn loswerden würde? Das sag ich dir, für meinen Stiefbruder, den Stinker, hätte niemand den Kopf hingehalten. Ich konnte ihm auch nicht helfen, ich hatte zu jener Zeit mir dem Militärgericht wegen meiner Sauferei zu schaffen und hatte meinen Ausgang verspielt.“
Ich spürte, wie sich ein Knoten in meiner Brust zusammenzog, doch ich sagte nichts, ließ ihn einfach reden.
„Als er dann ein paar Ladungen Zigaretten gestohlen und verkauft hat... ich denke, das war seine einzige Chance, jemals etwas zu haben. Etwas, mit der sich zumindest eine kleine Gaunerexistenz schaffen konnte. Aber nein – er war nicht nur der junge Zigarettendieb, er war der Junge, der wie ein stinkender Hund regelmäßig durchs Viertel getrieben wurde!“ Lem schüttelte den Kopf, Bitterkeit lag in seiner Stimme. „Und genau deswegen... war er das perfekte Opfer. Niemand wollte ihn beschützen. Niemand wollte sich für ihn einsetzen. Ein einfacher, elender Bursche, der nichts hatte und nie etwas haben sollte.“
Er verstummte, und die Schwere seiner Worte hing in der Luft wie eine Last, die uns beide niederdrückte.
Eine Stille legte sich über uns, schwer und erdrückend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber Lem fuhr fort, als müsste er die Geschichte endlich zu Ende bringen. „Es ging so schnell. Keine richtige Verhandlung, keine Verteidigung. Zwei Tage nachdem sie ihn geschnappt hatten sprach man das Urteil, keine Stunde später führte man ihn zum Galgen. Und dann... war es vorbei.“
„So etwas... darf nicht passieren,“ sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zu ihm.
Lem lächelte bitter. „Es passiert jeden Tag, glaube mir. Diejenigen, die was anzubieten haben, schreiben halt die Regeln. „Und wir... wir verlieren die letzten Menschen, die uns geblieben wären, und wenn wir nicht in den Schützengräben verrecken, dann bleibt uns nichts anderes, als für schwer gestörte Künstler den Dreck wegzuräumen!“ sagte er energisch, ein zynisches Lächeln auf den Lippen.
Ich spürte den Kloß in meiner Kehle und suchte nach Worten, aber nichts schien dem gerecht zu werden, was er durchgemacht hatte. „Es tut mir leid,“ murmelte ich schließlich.
„Danke,“ antwortete er, ohne den Blick von der Ferne zu lösen. „Aber nichts wird das ändern.“
Wir machten uns dann schließlich fertig und gingen zum Empfang. Die elegante Dame vom Vortag war nicht mehr zu sehen; stattdessen stand ein schlanker, älterer Herr vor uns. Wir fragten nach, wann genau wir mit dem Ausschuss des Gremiums sprechen könnten, da wir nicht länger als nötig auf der Insel verweilen wollten. Der Mann führte einige Telefongespräche und sprach mit beinahe übertriebenem Respekt mit den Personen am anderen Ende der Leitung. Während er hastig Notizen machte, fiel uns auf, dass das Telefonkabel sehr kurz war. So mussten wir zusehen, wie er ständig das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, um zwischen Schreiben und Sprechen zu wechseln.
„Meine Herren, ich darf Ihnen mitteilen, dass Sie in etwa einer Stunde abgeholt werden. Anschließend treffen Sie die ausgewählten Mitglieder des Ausschusses. Ich darf ankündigen: Es werden Herr Alfred von Großberg, Vorsitzender des Gremiums, Zita Virnbrandt, Schirmherrin der leider verstorbenen Kinder, und Igor von Sag anwesend sein, um all Ihre Fragen zu beantworten. Danach laden wir Sie zu einem kleinen Mittagessen in unser Kasino ein. Am Nachmittag werden Sie von Experten durch die Werkstätten geführt, die Ihnen den genauen Ablauf des Unfalls für Ihre Dokumentation detailliert erklären werden. Abschließend wird unser guter Manfred, den Sie bereits kennengelernt haben, Sie zu einem speziell angeordneten Sonderzug begleiten, damit Sie Ihre Reise beenden können“, trug er in feierlichem Ton vor.
Dann führte er uns in ein Nebenzimmer, wo uns ein recht karges Frühstück aus Brot und Käse serviert wurde. Der Raum war ebenso bescheiden dekoriert; er hätte die Warmstube eines Zollbeamten sein können. Während wir aßen, entschuldigte sich der alte Herr für den fehlenden Transport am Vortag. Tatsächlich wäre Manfred für diese Aufgabe verantwortlich gewesen, nur leider hatte der große Mann ein schlechtes Gedächtnis und er selbst hatte vergessen seinen Kollegen daran zu erinnern. Er bat uns, ihn einfach Bernie zu nennen—eigentlich mussten wir es sogar, da er seinen Nachnamen nie erfahren hatte, er war immerhin eines der Mondkinder von Serkes. Er versicherte uns außerdem, dass er die Leichen der Kinder nie gesehen habe und sie ohnehin auch lebendig nur zwei- oder dreimal zu Gesicht bekommen habe. Die ausgewählten jungen Talente des Gremiums hätten einen so strengen Zeitplan gehabt, dass sie neben den Mahlzeiten und Schlaf praktisch keine freie Zeit gehabt hätten. Bernie verließ uns daraufhin, da er noch weitere Pflichten zu erfüllen hatte.
„Ist dir aufgefallen, wie viele Künstler sich hier herumtreiben?“, fragte mich Lem nachdenklich.
„Was meinst du? Wir haben doch bisher nur drei Leute gesehen,“ antwortete ich leicht verwirrt.
„Eben. Hättest du nicht erwartet, dass hier viel mehr los ist? Ich sage dir, die haben absichtlich fast alle Menschen von der Insel weggeschickt, die irgendetwas wissen könnten. Und noch etwas: Ich glaube, die Abholung an der alten Werft, die gestern ausblieb, war kein Versehen. Das war Absicht. Sie wollen, dass wir denken, man hätte uns schon halb vergessen. Als hätten sie absolut nichts zu befürchten. Schlauer Haufen!“ Lem schnaufte kräftig und nahm einen tiefen Zug aus seiner Tabakdose.
„Lem,“ sagte ich mit einem Anflug von Frustration, „du bist schon wieder paranoid. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden – es hält uns schließlich am Leben. Aber du neigst dazu, überzureagieren, sobald du das Gefühl hast, verfolgt zu werden. Es gerade Zwischensaison. Das mag dir fremd und als Unwahrscheinlich erscheinen, doch haben auch Künstler einen Sinn für Heimat. Die meisten sind wohl einfach in Übersee oder sonst wo.“
„Warte ab, du wirst schon sehen. Ich habe einfach ein verdammt schlechtes Gefühl“, erwiderte er und sprang hektisch auf, als unsere Eskorte vor uns stand.
Wir wurden in einen Tanzsaal geführt, der im dritten Stock war und offenbar üblicherweise lediglich als Proberaum genutzt wurde. Die Wände waren aus einem dunklen Holz, dass ich nicht zuordnen konnte und es roch intensiv nach einer Art Desinfektionsmittel. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem wir Platz nahmen und warteten. Uns wurde versichert, dass der Ausschuss bald eintreffen würde, doch die Minuten verstrichen, und fast eine ganze Stunde verging. Lem wurde zunehmend nervöser, während mich eine lähmende Müdigkeit überkam.
Wir warteten bereits wieder eine Stunde. Lem wurde immer unruhiger und ich nachdenklicher, denn ich war überrascht, wie klar ich mich an meinen letzten Traum erinnern konnte – die merkwürdigen Objekte, die Angst, die Trauer. Am schlimmsten hatten mich die tiefen Schuldgefühle getroffen. Es war beunruhigend. Wahrscheinlich würde ich wieder mit meinem Therapeuten sprechen müssen, sobald dieser groteske Mummenschanz ein Ende gefunden hatte. Der Gedanke frustrierte mich. Seit meiner Erkrankung durch das Scherbengewitter und dem verlorenen Krieg hatte ich mit tiefgreifenden Problemen zu kämpfen. Ich hatte gehofft, dass sich zumindest mein psychischer Zustand in den Jahren nach dem großen Krieg stabilisiert hätte. Aber die Trauer und die Schuldgefühle, die mich letzte Nacht überfielen, zeigten mir das Gegenteil.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und das Gremium trat ein. Obwohl ich mit einer tiefen Erschöpfung zu kämpfen hatte, musste ich mich zusammenreißen.
Alfred von Großberg, der Leiter und Vorsitzende des Gremiums, war ein sonderbarer Mann. Trotz seines jungen Alters hatte er es geschafft, die einflussreichste Position der Wortresidenz von Rostblatt zu erlangen – ein Aufstieg, der von vielen im Ministerium als rätselhaft betrachtet wurde. Sein Vorgänger hatte sich aufgrund der Wreskrankheit zurückziehen müssen, und plötzlich stand dieser bis dahin recht unbekannte Künstler, aus bescheidenem Adel stammend, mit gerade einmal dreißig Jahren an der Spitze des Gremiums. Offenbar hatte er seinem Vorgänger als Assistent gedient und galt als durchaus talentierter Porträtmaler, allerdings ohne nennenswerte Bekanntheit. Seine künstlerischen Fähigkeiten wurden zwar geschätzt, doch es war nicht sein Ruf als Maler, der ihm den Aufstieg in die höchsten Ränge der Wortresidenz beschert hatte. Vielmehr schien es, als ob sein Einfluss hinter verschlossenen Türen gewachsen war – ein stiller, aber entschlossener Aufstieg, der von vielen mit Misstrauen beobachtet wurde. Auf den ersten Blick wirkte von Großberg elegant: sein Auftreten und seine Haltung waren tadellos. Doch bei genauerem Hinsehen offenbarten sich merkwürdige Details. Einige seiner Zähne fehlten, was seinem breiten Lächeln einen unheimlichen Zug verlieh. An seinem marineblauen Wams fehlten Knöpfe, und sein Haar war zerzaust, als hätte er es seit Tagen nicht gepflegt. Diese Gegensätze zwischen äußerlicher Eleganz und subtiler Vernachlässigung verliehen seiner stolzen Erscheinung eine etwas abstoßende, doch durchaus faszinierende Ausstrahlung.
„Meine Herren, ich heiße sie herzlich willkommen und danke Ihnen, dass Sie sich des Unfalls persönlich annehmen und unser Rostblatt besuchen,“ sagte er mit einem breiten Lächeln als er mir und Lem die Hand schüttelte.
„Ich kann euch versichern, ich hatte noch nie in meinem Leben solche Zweifel an unsere Institution“, fuhr er mit trauriger Stimme fort und bemühte sich, seinem Bedauern Ausdruck zu verleihen, “wie ein solcher Konstruktionsfehler, ein solches Unglück, über eine solch lange Zeit unbemerkt bleiben konnte. Es ist mir leider auch jetzt noch ein Rätsel. Ich möchte mich daher auch offiziell im Namen der Residenz und der gesamten Belegschaft demütigst entschuldigen. Selbstverständlich gewähren wir vollste Aufklärung, damit die Angehörigen, gerade die armen Eltern, Frieden finden können“.
Er sprach so schleimig und gekünstelt, dass ich angewidert war. Lem bewegte sich immer unruhiger auf seinem Sitz.
„Ich darf Ihnen Herrn von Sag vorstellen, der mit der Untersuchung betraut wurde. Er ist der Werkstattleiter und somit die kompetenteste Ansprechperson, was den spezifischen Ausbruch des Miritiums betrifft. Igor wird Ihnen gleich einen detaillierten Vortrag präsentieren und auch einen schriftlichen Bericht überreichen. Im Anschluss stehen wir Ihnen selbstverständlich für sämtliche Fragen zur Verfügung."
Er lächelte breit, bevor er hinzufügte: „Am Nachmittag wird Herr von Sag Sie dann durch die betroffenen Werkstätten und Kammern führen." Seine gespielte Freundlichkeit machte die Atmosphäre nur noch unerträglicher.
Lem erstarrte plötzlich auf seinem Sitz. Mit einer ruhigen, aber unterschwellig aggressiven Stimme fragte er: „Und Frau Virnbrand? Wann können wir sie befragen? Sie war schließlich die Schirmherrin und verantwortlich für die Kinder. Die wurden unter ihrer Aufsicht vergiftet. Da könnte sie ja wenigstens den Anstand haben, hier aufzutauchen!“
Sein Blick war fest auf von Großberg gerichtet, und die Spannung im Raum war plötzlich greifbar. Lem hatte noch seine Ruhe, doch jeder spürte die Wut, die hinter seinen Worten steckte.
Großberg zog leicht die Augenbrauen hoch, als Lem seinen harschen Ton anschlug. Für einen Moment schien der Vorsitzende aus dem Konzept gebracht und man konnte für einen Moment blanke Verachtung erkennen, doch er fing sich schnell wieder. Mit einem leicht gezwungenen Lächeln antwortete er: „Ich verstehe Ihren Unmut, meine Herren, wirklich. Niemand von uns will weniger als die volle Wahrheit ans Licht bringen. Unsere Schirmherren stehen in voller Verantwortung für ihre Schützlinge, in körperlicher und auch geistiger Hinsicht. Doch glauben Sie mir, Frau Virnbrand ist in ihrem Zustand derzeit nicht zu einem Gespräch fähig. Sie befindet sich unter ärztlicher Aufsicht. Sollte sich ihr Zustand verbessern, werde ich persönlich dafür sorgen, dass sie Ihnen Rede und Antwort steht. Doch ich kann mir kaum vorstellen, dass dies noch während Ihres Aufenthaltes passieren wird“
„Herr von Großberg,“ begann ich und merkte, dass mir das Sprechen zunehmend schwerfiel, „uns wurde am Empfang mitgeteilt, dass Frau Virnbrand am Ausschuss teilnehmen wird. Wir verstehen selbstverständlich, dass der Tod der Kinder sie schwer belastet hat, doch wir müssen dennoch auf ihre Aussage bestehen. Der Herr Vicomte von Schubert wird darauf beharren.“
Großberg verzog das Gesicht leicht, als ich den Namen von Schubert erwähnte. „Die arme Freya,“ erwiderte er mit einem Anflug von Traurigkeit, doch seine Stimme klang hohl und desinteressiert. „Ich kannte selbstverständlich die Tochter des Vicomte von Schubert persönlich. Sie war ohne Zweifel das talentierteste Kind in diesem Jahrgang. Es bricht mir das Herz – diese sichere, feinfühlige Umgang mit dem Pinsel und ihre liebliche Gesangsstimme!“ Er wich meinem Appell geschickt aus, als würde er versuchen, die Schuld auf eine emotionale Ebene zu lenken.
Doch dann fuhr er mit einem ernsteren Ton fort: „Doch meine Herren, so wie Frau Virnbrand als Schirmherrin für die Kinder verantwortlich war, so trage ich die Verantwortung für die Gesundheit aller Mitglieder des Gremiums. Schmerzlich muss ich zum jetzigen Zeitpunkt ablehnen. Es ist möglich, dass Sie in einigen Wochen zurückkehren könnten, wenn sich ihr Zustand verbessert hat.“
Lem, der zunehmend mit wachsendem Unmut auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war, explodierte förmlich: „Das ist eine offizielle Investigation!“ donnerte er mit aggressivem Unterton. „Frau Virnbrand hat bei der Befragung zu erscheinen!“
Ich wollte etwas sagen, um Lem zur Mäßigung zu bewegen, doch spürte ich wieder einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und versagte zu sprechen.
Alfred von Großbergs Gesicht verfärbte sich, und seine Augen funkelten wütend. Die Fassade der Höflichkeit begann zu bröckeln, und seine Stimme wurde kalt und scharf, während er die Zähne zusammenbiss: „Ich wiederhole es noch einmal, meine Herren! Ich verstehe den Unmut Norniens und bedauere die Situation zutiefst. Doch Frau Virnbrand wird nicht in der Lage sein, in absehbarer Zeit auszusagen. Außerdem,“ seine Stimme wurde noch frostiger, „muss ich Sie leider daran erinnern, dass Sie beide nur auf Einladung der Residenz hier sind. Ihre Untersuchung ist inoffiziell.“
Lem funkelte ihn an, doch bevor er etwas erwidern konnte, trat Herr von Sag, der bislang im Hintergrund geblieben war, einen Schritt vor. Mit seiner tiefen, ruhigen Stimme versuchte er, die angespannte Stimmung zu glätten: „Meine Herren, wir dürfen nicht vergessen, dass der Fokus unserer Untersuchung darauf liegt, die Ursachen des Miritium-Ausbruchs zu verstehen. Mir war es in den vergangenen Wochen das wichtigste Anliegen, die genauen Abläufe der Miritiumvergiftung zu erfahren. Frau Virnbrand ist hier kein wichtiger Faktor, die Kinder sind nicht während ihrer Aufsicht verstorben, sondern in den Unterkünften. Ich schlage vor, dass wir uns zunächst die technischen Details anschauen, um den Vorfall besser zu verstehen. Danach können wir weitere Schritte überlegen. Wenn es den Herren gefällt.“
Lem kniff die Augen zusammen, sichtlich unzufrieden, doch er nickte schließlich widerwillig. „Von mir aus,“ sagte er knapp, „aber glaubt ihr ja nicht, dass wir Frau Virnbrand aus den Augen verlieren. Sie wird uns Antworten geben.“
Großberg nickte sichtlich erleichtert, während von Sag bereits eine dicke Mappe hervorzog und begann, die Einzelheiten des Unglücks in ruhigem, sachlichem Ton darzulegen. Doch während er sprach, fiel es mir immer schwerer der Konversation zu folgen. Die Erschöpfung wurde stärker.
Herr von Sag begann mit gefasster, sachlicher Stimme den Ablauf des Ereignisses, das er als das „Jahrhundertunglück“ bezeichnete, im Detail zu schildern. „Die Ursache,“ erklärte er, „liegt weit in der Vergangenheit, in Konzeptions- und Konstruktionsfehlern, die bereits vor über hundert Jahren begangen wurden.“ Seine Worte trugen das Gewicht dieser langen Geschichte in sich, als ob das Unglück unvermeidlich gewesen wäre – ein schleichendes Desaster, das über Jahrzehnte unbemerkt herangereift war.
Zunächst sprach er von der Natur des Miritiums, dieser gefährlichen, zersetzenden Substanz, die sich heimlich in den Strukturen festsetzt. „Das Miritium, das bei uns hauptsächlich in den Werkstätten für die Veredelung von Gemälden, Requisiten und Bühnenbauten genutzt wird, ist in seiner flüssigen Form besonders gefährlich,“ erklärte er. „Um es zu verwenden, muss es zuerst geschmolzen werden, und dabei entstehen extrem giftige Dämpfe.“ Diese Dämpfe, so fügte er hinzu, seien zwar bekanntlich gefährlich, doch in geschlossenen Systemen wie Lüftungsanlagen entfalten sie eine noch weitaus verheerendere Wirkung.
Von Sag gab uns einen Überblick darüber, wie das Miritium, das zuerst in den Werkstätten bearbeitet worden war, langsam in die Stahlträger des Rohrschachts eindrang. „Über die Jahrzehnte,“ fuhr er fort, „setzte sich das Miritium in den Bindungen des Stahls fest und begann langsam, aber stetig, die Struktur zu zersetzen. Was von außen stabil und solide wirkte, war innen bereits längst zerstört.“ Diese schleichende Korrosion hatte sich unbemerkt über die Jahre hingezogen. Die Rückstände des Miritiums sammelten sich genau an einer Schwachstelle im Schacht, wo sich der Stahl langsam auflöste, bis die Träger schließlich nicht mehr in der Lage waren, dem Druck standzuhalten.
In jener verhängnisvollen Nacht durchbrach das Miritium schließlich die letzten, geschwächten Stellen der Stahlträger. Mit einem Mal war die Substanz frei, sich ungehindert durch den Lüftungsschacht auszubreiten.
„Das Miritium bahnte sich in hochkonzentrierter Form den Weg in den Abschnitt der Lüftung, der direkt zu den Kammern der armen Kinder führte,“ sagte von Sag mit bedrückender Ruhe. „Die Vergiftung fand langsam und stetig statt. Es war keine plötzliche Katastrophe, sondern ein schleichender Tod, der über Stunden hinweg wirkte.“
Die Kinder, so erläuterte er weiter, hätten anfangs kaum Symptome bemerkt. Doch nach und nach begannen sie unter Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit zu leiden, während die Dämpfe unaufhaltsam in ihre Atemwege eindrangen. Als sie schließlich vor Schmerzen schrien und nach Hilfe riefen, war es bereits zu spät. Das Miritium hatte ihren Körpern bereits irreparablen Schaden zugefügt. „Niemand konnte ihnen mehr helfen,“ sagte von Sag mit einer kühlen Endgültigkeit. „Als der erste Notruf abgesetzt wurde,“ wiederholte er, „war die Vergiftung bereits zu weit fortgeschritten.“ Er machte eine kurze Pause und fügte mit ernster Miene hinzu: „Die extremen Wunden und die grotesken Verformungen der Leichen resultieren aus der plötzlichen Freisetzung von hochkonzentriertem Miritium. Als die Substanz die letzten Stahlträger durchdrang, entwich sie in einer unkontrollierten Menge in die Lüftungssysteme und erreichte die Kammern der Kinder.“
Seine Erklärung nahm einen schauerlichen Ton an, als er die Folgen dieser Freisetzung beschrieb. „Das Miritium, das zuvor über Jahre hinweg langsam zersetzend wirkte, kam nun in einer konzentrierten Form frei, was zu sofortigen, verheerenden Effekten führte. Es ist nicht nur die Toxizität, die zum Tod führte, sondern auch die zerstörerische Wirkung auf das Gewebe. Die Substanz zerfraß die Atemwege, die Haut und das Fleisch der Kinder auf brutale Weise. Daher stammen die schlimmen Wunden und die schrecklichen Verformungen der Körper, die Sie gesehen haben.“
Die Stille, die nach dieser Erklärung folgte, schien den Raum zu erdrücken.
Während von Sag seinen Bericht langsam abschloss und den Ablauf der angeblichen Miritium-Vergiftung in all seinen düsteren Details schilderte, begann sich etwas Merkwürdiges in mir zu regen. Es war, als ob seine Worte in den Hintergrund traten und meine Wahrnehmung sich von der Umgebung ablöste. Ein leises Klopfen, kaum wahrnehmbar und doch unaufhörlich, machte sich in meiner Brust bemerkbar. Es war kein Geräusch, das über meine Ohren zu mir drang, sondern etwas Tieferes, Unerklärliches – ein Puls, der von innen kam.
Zunächst dachte ich, es sei einfach mein Herz, das auf die nervenaufreibende Situation reagierte. Doch schnell wurde mir klar, dass es das nicht war. Mein Herzschlag war nicht schneller geworden, wie es bei Anspannung üblich ist. Ganz im Gegenteil, mein Puls blieb seltsam ruhig, fast bedrohlich gleichmäßig, als ob mein Körper in einen Zustand der Schwäche überging. Die Kraft schwand aus meinen Gliedern, und meine Wahrnehmung der Umgebung begann zu verschwimmen, doch das Klopfen blieb. Es war kein Zeichen von Panik, keine Reaktion auf Angst. Vielmehr fühlte es sich wie ein innerer Rhythmus an, der sich nicht stoppen ließ.
Das Klopfen begann sich auszubreiten, von meiner Brust hinunter in meinen Bauch und weiter in meine Arme und Beine. Es war, als ob ein pulsierender Strom durch meinen Körper floss, sanft, aber unaufhaltsam. Ein Gefühl, das mich einerseits schwächte und andererseits eine seltsame, schwer zu beschreibende Ruhe mit sich brachte. Keine Angst, keine Eile – nur dieses langsame, stetige Pulsieren.
Das Seltsamste daran war das, was dieses Gefühl in mir auslöste. Trotz der Schwäche, die mich überkam, fühlte ich etwas Unerwartetes: eine fast tröstende Entschlossenheit. Es war, als ob dieses Klopfen eine Art inneren Frieden in mir weckte, eine Gewissheit, die Schuld und Trauer, die mich all die Jahre verfolgt hatten, endlich abstreifen zu können. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit, das sich in mir ausbreitete, war befremdlich, aber auch beruhigend. Ich spürte eine Verbundenheit, als würde mich etwas Unsichtbares rufen und mir sagen, dass der Kampf, den ich so lange innerlich geführt hatte, ein Ende finden könnte.
Der Drang, loszulassen, war stark. So stark, dass es mich in einen Zustand des Halbschlafs versetzte, in dem alles um mich herum nur noch schemenhaft erschien. Von Sag sprach noch immer, aber seine Worte drangen kaum noch zu mir durch. Alles, was übrig blieb, war dieses rhythmische Klopfen, wie ein Ruf aus der Ferne, dem ich nicht entkommen konnte – oder vielleicht auch gar nicht wollte.
„Aleksis,“ hörte ich plötzlich Lem sagen. Seine Stimme klang gedämpft, als käme sie aus weiter Ferne. Er stupste mich sanft an, versuchte meine Aufmerksamkeit zu erregen. Als ich meinen Kopf leicht drehte, sah ich in seine besorgten Augen. „Hast du noch Fragen?“, fragte er, doch ich brauchte einen Moment, um die Worte zu verstehen. Mein Geist war wie in Watte gehüllt, verschlungen von diesem merkwürdigen inneren Pulsieren, das mich immer tiefer in einen Zustand der Entfremdung gezogen hatte.
Ich blinzelte, verwirrt und desorientiert. Was war gerade passiert? Von Sag hatte offenbar bereits seinen Bericht beendet. Der Raum lag still, die Luft schien vor Spannung zu flimmern. Alle Augen waren auf mich gerichtet – Lem, der mich durchdringend musterte, als ahne er, dass etwas nicht stimmte, und Großberg, dessen scharfer Blick mich unverhohlen beobachtete, als hätte er etwas Verdächtiges bemerkt.
Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Die Worte blieben mir im Halse stecken, als ich mich bemühte, wieder ins Hier und Jetzt zu finden. Meine Brust zog sich zusammen, als hätte sich eine unsichtbare Hand um mein Herz gelegt. „Äh…“ war alles, was ich herausbrachte. Der Geschmack von Eisen drang plötzlich an meinen Gaumen – Blut. Ich hustete hart und spürte, wie ein Schwall dieses metallischen Geschmacks meinen Mund füllte. Panik stieg in mir auf. Etwas war ernsthaft falsch.
Ich versuchte, mich aufzurichten, wollte aus dieser beklemmenden Situation herauskommen, doch meine Beine gaben nach. Mein Körper fühlte sich taub an, als würde er mich im Stich lassen. Die Welt um mich herum begann zu schwanken, die Gesichter der anderen verschwammen vor meinen Augen. Alles drehte sich. Ich hörte Lem, wie er etwas rief, spürte seine Hände, die mich festhielten, als ich zur Seite kippte. Er versuchte mich aufzufangen, doch es war zu spät.
Mein Kopf berührte den kalten Parkettboden, und ein dumpfer Schmerz zog sich durch meinen Schädel. Ich nahm hektische Bewegungen wahr – Großberg sprang von seinem Platz auf, von Sag machte einen erschrockenen Schritt nach vorne. Lem rief nach Hilfe, doch alles um mich herum wurde immer dumpfer, als ob eine dicke, unsichtbare Barriere zwischen mir und der Welt wuchs.
Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, aber meine Sinne entglitten mir. Die Geräusche wurden leiser, die Bilder vor meinen Augen verschwommen. Inmitten dieser Dunkelheit, die mich immer tiefer hinabzog, tanzten erneut die schemenhaften Figuren aus meinem Traum. Diese fremden, unheimlichen Objekte, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hatten, begannen vor meinem inneren Auge zu flimmern. Sie drehten sich, zogen Kreise, formten Muster, die ich nicht begreifen konnte.
Weit in der Ferne, jenseits dessen, was ich bisher als Realität kannte, bemerkte ich eine seltsame Präsenz. Es schien wie am Rand eines metaphysischen Horizonts zu schweben, unfassbar weit weg und doch in seltsamer Nähe zu meinem Bewusstsein. Es war kein Ding, das sich in Worten beschreiben ließ – weder geometrisch noch natürlich. Es war mehr eine Andeutung, ein Schatten dessen, was es sein könnte.
Ich wusste nicht, was es war, und dennoch wuchs in mir eine unheimliche Ahnung. Etwas in mir, ein fremdartiger Instinkt, drängte mich, meine Aufmerksamkeit auf dieses Wesen zu richten. Je mehr ich meinen Fokus bündelte, desto deutlicher wurde das Gefühl. Es war, als ob mein Verstand eine längst vergessene Erinnerung oder mehr eine uralte Angst hervorholte, die tief in mir verborgen gewesen war.
Und dann, ganz plötzlich, schlug die Kälte zu. Sie war nicht nur in meinem Körper, sondern drang tief in mein Innerstes ein, ließ mein Blut in den Adern gefrieren, während mein Herz sich zusammenzog, als wolle es aufhören zu schlagen. Die Wärme und Lebendigkeit, die mich noch eben durchströmt hatten, wurden durch eine beißende Leere ersetzt. Diese Kälte war nicht einfach ein physisches Empfinden – sie war das Fehlen von allem, was Leben ausmachte, und zugleich die Manifestation eines überlegenen Bewusstseins: Die Elipse.
Es beobachtete mich. Nicht mit Augen, denn es hatte keine, aber mit jener verstörenden Bewusstheit, die tief und klar in meine Seele hineinreichte. Es sah mich, nicht nur wie man eine Person ansieht, sondern es durchdrang mich, durchbohrte jede Schicht meines Wesens.
"Was ist mit seinem Auge?" hörte ich Lem plötzlich panisch schreien. Seine Stimme war durchdringend, voller Verzweiflung und Furcht. "Was passiert hier?" Seine Worte klangen fern und doch direkt neben mir, als wäre ich in zwei Welten zugleich gefangen.
Noch bevor ich etwas realisieren konnte, drang auch Großbergs panische Stimme durch das Chaos, das um mich herum ausbrach: "Hilfe! Holt Hilfe!" Er klang nicht mehr arrogant oder kontrolliert wie zuvor, sondern plötzlich schwach, zerbrechlich – von echter Angst ergriffen.
Doch all das war nur ein fernes Echo, das immer mehr verblasste, je tiefer ich in die Dunkelheit gezogen wurde. Die Stimmen, die Bewegung um mich herum, all das verschwand in der Kälte, die sich um mein Bewusstsein legte. Die Präsenz – die Elipse – war das Letzte, was ich spürte, bevor alles verstummte.
Dann fiel ich endgültig in die Bewusstlosigkeit, wie in einen tiefen, bodenlosen Abgrund. Alles, was mich ausmachte, versank in der Schwärze.