Die Entführung

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Matula

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Vor einiger Zeit wurde ich des Nachts von Außerirdischen entführt. Sie hatten ihr Raumschiff am Stadtrand abgestellt, um kein Aufsehen zu erregen. Bei uns in Longhorn Greene geht niemand am Stadtrand spazieren, also konnten sie dort wochenlang parken, bis sie von einem Google Earth Satelliten entdeckt wurden. Dann war natürlich die Hölle los und sie mussten das Feld räumen.

Über die Entführung war ich zuerst sehr empört, weil ich annahm, dass man Lösegeld erpressen wollte, und Jim keinen Cent für mich bezahlen würde. Wenn ich nachts nichts daheim war, würde er außerdem denken, dass ich mich wieder mit Jack herumtrieb, und sofort die Scheidung einreichen. Später kamen mir Zweifel, weil in unserem Ort schon etliche Bewohner von Außerirdischen entführt wurden, ohne dass es Lösegeldforderungen gegeben hätte. Auch meine Großmutter wurde in jungen Jahren entführt, worüber aber nur am 4. Juli gesprochen werden darf. Sie sagt dann immer, dass man ihr geheime Dinge anvertraut hat, über die sie Stillschweigen bewahren muss.

Mir hat man keine Geheimnisse erzählt, was sicher so zu erklären ist, dass ich von einer anderen extraterrestrischen Spezies entführt wurde als meine Großmutter. Meine Entführer nannten sich "Banani". Sie stammten vom Planeten "Banaus", den wir "Trappist-1 g" nennen. Das vermutete jedenfalls Jack, dem ich von meinen nächtlichen Begegnungen laufend berichtete. Jim erfuhr nichts davon, weil er ja bei allem, was ich sage, sehr misstrauisch ist.

Bei der ersten und zweiten Entführung saß ich allein in einem dämmrigen Raum, in dem sich kleine Gucklöcher an den Wänden und an der Decke befanden. Manchmal hörte ich, wie ein Türchen auf- oder zugeklappt wurde. Es war wie in einer Peepshow und ich versuchte, einen möglichst guten Eindruck zu machen. Vor mir in den Tisch eingelassen war ein Display, auf dem ich mich selbst im Bett liegen und schlafen sehen konnte. Der Zeitangabe zufolge war ich sowohl hier wie dort. Jim war nicht in unserem Bett.

Manche Nachbarn, vor allem die Nachbarinnen, beschrieben ihre Entführer als baumlange Kerle in schnittigen Raumanzügen und mit ungewöhnlich tiefen Stimmen. Die Banani waren leider nicht von dieser Art. Als sie sich endlich blicken ließen, fühlte ich mich wie Schneewittchen mit den sieben Zwergen. Sie reichten mir nur knapp bis zur Achselhöhle, waren ziemlich gedrungen und trugen viel rotbraunes Zottelhaar auf ihren Köpfen. Jack meinte, dass ihn meine Beschreibung der Banani an den Homo erectus erinnere, also eine erfolgreiche Mischung aus smart und gewalttätig. Ich kann das nicht bestätigen, denn mir gegenüber waren sie durchwegs freundlich, wenn auch auf eine ziemlich herablassende Art und Weise.

Ich wollte wissen, warum sie ausgerechnet mich ausgesucht und nicht zum Beispiel Dr. Butcher entführt hatten, der auch in Longhorn Greene wohnt, aber an einer nahegelegenen High School Geschichte und Philosophie unterrichtet. Sie meinten, dass sie zuerst eine attraktive Vertreterin unserer Spezies kennenlernen wollten - was ich ausgesprochen charmant fand -, aber später eventuell auf meinen Vorschlag zurückkommen würden. Weder, sagten sie, ginge es ihnen darum, terrestrische Technik auszuspionieren, noch die mageren Reste unserer Energiereserven anzuzapfen, wie überhaupt sie uns mit unserem gelben Zwergstern, der unsere Welt bald in Flammen setzen werde, mehr bedauerten als beneideten. Ich war auch beruhigt zu hören, dass sie mich nicht als Leihmutter für einen Banano-Terrestrier auserkoren hatten.

Bei unserem nächsten Treffen, das ich nun nicht mehr als "Entführung" bezeichnen würde, weil ja mein Hologramm daheim im Bett lag oder umgekehrt, in diesem recht gemütlichen Raumschiff saß, erzählten sie mir von ihrem Planten. Sie waren sehr stolz auf ihn. Banaus war größer und schwerer als die Erde, brauchte für einen Umlauf um seine Sonne aber nur wenig mehr als zwölf Tage, war also auch schneller. Dieser Stern wiederum war, ich zitiere, "eine feurig-rot-funkelnde Mutter, der alle sieben Söhne so nahe wie möglich sein wollten". Und natürlich war diese Mutter doppelt so alt wie unser gelber Zwerg. Das bedeutete aber nicht, dass sie früher das Zeitliche segnen würde. Im Gegenteil, sie würde noch funkeln und strahlen, wenn unsere Sonne längst ihre Innereien ins Weltall gekotzt hatte.

Als ich Jack von diesen Schilderungen erzählte, wurde er wütend. Die Banani seien offenbar tatsächlich Trappisten und hätten nicht den mindesten Grund, so stolz auf ihre rote Funzel zu sein. Ich möge mir bitte ein Leben im ewigen Dämmerlicht vorstellen, einen Planeten, auf dem es keine Jahreszeiten und keinen Tag-Nachtrhythmus gebe, weil er nicht um die eigene Achse rotiere. Dazu eine Dauertemperatur von minus 109 Grad Fahrenheit, also klimatische Verhältnisse wie in Sibirien. Ich musste ihm versprechen, diese Gesichtspunkte bei meiner nächsten Begegnung mit den Banani zur Sprache zu bringen, um sie von ihrem hohen Ross zu holen.

Als es soweit war, lachten sie mich aus. Das fortwährende doppelte Kreiseln der Erde um die Sonne, die Nähe eines Monstermondes, der Ozeane an sich zu reißen versuche, vor allem aber die Hitze des gelben Zwerges, meinten sie, habe eine offenkundig nachteilige Wirkung auf die geistige Entwicklung unserer Spezies. Ich war beleidigt. Wie sollten wir mit unserer kurzen Geschichte und unserer noch viel kürzeren Erfahrung mit Astronomie und Raumfahrt denn wissen, dass Banaus wasserreich und vulkanisch war und durch eine Kopplung an seine Nachbarplaneten eine, wenn auch nur sporadische, Eigenrotation aufwies?! Da lachten sie wieder und sagten, dass wie unsere Energien mit der Erfindung verschiedener Staatsformen verschwendet hätten, anstatt eine geistige Elite aus Technikern und Mathematikern als oberste Befehlsgewalt einzusetzen. Aus diesem Grund könne aus den Erdlingen nie eine Raumfahrerzivilisation hervorgehen.

Ich bin leider nicht gut im Argumentieren, aber zum Glück fiel mir unsere Verfassung ein, in der nichts von Technikern und Mathematikern zu lesen ist, wohl aber von Abgeordneten, die in einer freien, gleichen und geheimen Wahl vom Volk zu wählen sind. Die Banani winkten ab: alles Humbug, bestenfalls für einen Zwergstaat passend, aber nicht für ein globales Volk, dessen Wohlergehen nur durch Einigkeit in den großen Fragen zu gewährleisten sei. Eine solche betreffe etwa den Umgang mit den Ressourcen des Planeten, aber auch die Erforschung und Eroberung anderer, um die Ausbreitung der Spezies im Weltraum zu ermöglichen. Fehle eine globale Herrschaft des Sachverstandes, zerfalle die Bevölkerung bei jeder Frage, die sie nicht verstehe, in zwei oder mehr Gruppierungen, die einander erbitterte Kämpfe lieferten. Das sei mit allen Mitteln zu verhindern und gelinge nur mit strengen Gesetzen, die samt und sonders das Allgemeinwohl und nicht das des Einzelnen im Auge behalten müssten. Vorbild für solche Gesetze müsse die Natur selbst sein, für die das Individuum nur so weit von Bedeutung sei, als es zum Bestand der Spezies beitrage.

Ich wollte Verschiedenes einwenden, aber die Banani waren fürs erste fertig mit mir. Sie verabschiedeten mich wie ein lästiges Schulmädchen und wollten nun mit Dr. Butcher Kontakt aufnehmen. Zu einem späteren Zeitpunkt, sagten sie, werde ich gewiss wieder von ihnen hören, weil sie ihren Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern gedächten, um uns zu zeigen, wie eine Weltherrscht funktioniere.

Als ich Jack von dieser letzten Begegnung berichtete, wurde er sehr blass und seine schönen blauen Augen verdunkelten sich. Schweigend stand er auf, ging zum Schrank und holte sein Sturmgewehr hervor. Er wollte zum Stadtrand. Ich bat ihn inständig, daheim zu bleiben. Immerhin waren sie Gäste, noch dazu außerirdische, die man nicht einfach abknallen durfte. Ich warf mich ihm sogar zu Füßen und umklammerte seine Waden, weil doch in unserem Land alle ein Recht auf freie Meinungsäußerung haben, also auch die Trappisten. Aber Jack wollte nicht auf mich hören. Er ging hinaus und ich habe ihn nie wieder gesehen.

Auf der Suche nach ihm stieß man auf die Satellitenbilder, die das Raumschiff der Banani zeigten. Die Männer von Longhorn Greene brachen sofort auf, angeführt von unserem Bürgermeister und Dr. Butcher. Jim war auch dabei und meine Großmutter folgte ihnen mit einer alten Schrotflinte. Ich war sehr besorgt. Als sie am frühen Morgen zurückkehrten, waren sie vollzählig bis auf Jack. Man habe zunächst auf diplomatischem Wege versucht, die Aliens zu seiner Freilassung zu bewegen, berichtete der Bürgermeister. Erst als die Bedenkzeit fruchtlos abgelaufen war, habe man das Raumschiff von allen Seiten unter Beschuss genommen. Leider, ergänzte Dr. Butcher, habe es sich als unzerstörbar erwiesen. Es sei lautlos aufgestiegen und einfach im wolkigen Nachthimmel verschwunden. Dort, wo es gestanden hatte, fand man nur sieben Präriehunde, die durch die Schießerei wohl aus dem Schlaf gerissen worden waren.
 
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Matula

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Grüß Dich Steffen,
eine so freundliche Beurteilung von jemand Fachkundigem wie Dir, weiß ich sehr zu schätzen !

Liebe Grüße aus Wien,
Matula
 



 
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