Die Entscheidung

masterplan

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Er sah sich den dunklen Schalter lange an. Sehr lange. Rührte sich dabei kein bisschen von seiner starren Position, haderte aber gleichzeitig mit seinen Gedanken. In ihm war es alles andere als ruhig. Seine Gefühle brannten, seine Gedanken machten ihn krank. Der dunkle Hebelschalter mit einer kleinen, blauen Retinascanlinse daneben ängstigten ihn zunehmend. Schließlich war er der einzige der ihn betätigen durfte. Der einzige, den die Scanlinse als zulässigen Bediener des Schalters bestätigen würde. Noch eine ganze Weile saß er in seiner regungslosen Position und dachte verbissen über diese Situation nach. Dann stützte er überraschend seine beiden Hände auf das Bedienungspult vor ihm und hob sich langsam aus seinem weich gepolsterten Sitz. Der Schweiß rann ihm über die Stirn.

Nur zehn Jahre nach dem Zusammenschluß der westlichen und der östlichen Welt begann sich die Lage dramatisch zu verändern. Die vielen Forschungsstationen des Ostens brachen mit einer unglaublichen Meldung in die Welt hinaus. Ein absolut wirkungsvoller Impfstoff gegen jegliche Virenvermehrungen und Immunschwächen sei entdeckt worden. Er wurde den Forschern nach, aus flüssigen Proben eines bestimmten Stoffes von einer ganz besonderen Gesteinsart entnommen. Eine Art wuchernder Pils, der sich nur im gefrorenen Zustand auf diesem Gestein befindet. Einem Meteorgestein, der von außerhalb des Sonnensystems, aus der Ortschen Wolke, vor einigen Jahren auf die Erde getroffen sein mußte. Astronomen und Astrogeologen behaupteten, dass gute Möglichkeiten beständen, noch weitere solcher Meteore mit gefrorenen Pilzablagerungen in der Ortschen Wolke zu finden.

Der Lichtscanner tastete sich blitzend über sein rechtes Auge, ehe er die Meldung "Bestätigt" in dem Display darunter anzeigen ließ. Mehr erschöpft, denn beruhigt warf sich der Mann mit einem tiefen Seufzer zurück in seinen Sitz. Eine weitere Anzeige verwarf nun die "Bestätigt" Meldung. Die himmelblauen Digitalzeichen schrieben nun ein "Zehn Minuten bis zur Deaktivierung" in das Display. Ein kleiner Timer am rechten unteren Rand der Anzeige zählte die Zeit im Sekundentakt herab. Der Mann rieb sich mit seinen Händen nervös den Schweiß aus dem Gesicht.

Wie schon zu den Zeiten des kalten Krieges begann ein neuer Wettlauf um die Vorherrschaft um das Weltall. Vor allem um die Gebietsrechte in der Ortschen Wolke. Bald folgte auf einen Kampf im All eine Feindeserklärung zwischen der westlichen und der östlichen Welt, die neben Raumstationen auch die gesamte Erdenwelt miteinbezog. Doch die östlichen Mächte hatten ihre Widersacher entscheidend unterschätzt. Denn bereits kurz vor dem Zusammenschluß der Erdenvölker, vor über zehn Jahren, errichteten die Westmächte für ihren regierenden Präsidenten eine unglaubliche Waffe. Eine Kammer die tausend Meter über dem Meeresspiegel lag und dennoch von festem Gesteinsmassiv umgeben war. Einen apokalyptischen Vernichtungsauslöser in einer Stahlkammer, irgendwo im Andengebirge des westlichen Gebietes.

Es waren inzwischen schon fünfeinhalb Minuten vergangen und der Timer zeigte noch vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden an. Erst jetzt rappelte sich der ängstlich, aber dennoch resignierend wirkende Präsident der westlichen Welt wieder von seinem Stuhl auf und sah gespannt und nachdenklich auf die Anzeige. Die dunkelgrauen Wände der Kammer schimmerten das himmelblaue und rote Licht der Instrumentenlichter wider. Der Raum hatte eine ebenfalls stählerne Drehluke am Boden, hinter dem Pult. Genau dorthin griff jetzt der Präsident, das heißt, er griff hinter das Pult, denn auf dessen Rückseite war ein versteckter Initiator, der ohne Betätigung eine Abbruchreaktion des Vorgangs, beim Umlegen des Schalters, zur Folge gehabt hätte. Der Mann bemerkte dabei, dass er etwas vergessen zu haben schien. Er griff sich zitternd an seinen Hals und zog eine dicke Silberkette mit einem Zinnschlüssel hervor, die er abnahm und den Schlüssel langsam in den Initiator schob. Vorsichtig drehte er das Metall im Uhrzeigersinn um hundertachzig Grad, bis ein grünes Licht auf dem Pult aufleuchtete.

Die Führungspersonen der westliche Welt hatten den Tag vorausgesehen, da der Osten zu stark für einem Widerstand werden würde. Schließlich umfaßte er den gesamten ehemaligen asiatischen, europäischen, afrikanischen und sogar ozeanischen Kontinent. Deren Truppen hatten bereits einen Großteil der Westwelt in ihrer Gewalt, als die Führungskräfte des Westens nur noch diese eine Entscheidung als sinnvoll erachteten. Dem Präsidenten wurde kurzum aufgezwungen, diese Aufgabe zu erledigen. Die gesamte Planetenoberfläche durch mehrere gewaltige Atomexplosionen unter den Erdenplatten zu einer instabilen Form zu sprengen um die Vernichtung allen Lebens und der Menschenexistenz zu erreichen. Die östlichen Führungspersonen sollten niemals davon erfahren.

Der Timer zählte die letzten sechzig Sekunden, ehe er der Vorgang abbrechen und den Mechanismus für immer unbrauchbar machen würde. Der "Präsident der Westlichen Völkervereinigung" zwinkerte schreckhaft mit seinen Augenliedern. Mit vorletzter Kraft legte er seine rechte Hand auf die Grifffläche des Hebels, mit letzter Kraft zog er eine vollautomatische Desert Eagle Version aus seinem Ledergürtel und hob sie sich an die Stirn.
Jetzt dachte er an den Schmerz und den Hass, der ihm von den Menschen angetan wurde. Er dachte an Vergeltung und Blutrache. Er versuchte sich einzureden, er wäre der Racheengel, der alle von ihrem Schmerz erlösen würde. Der wichtigste Mann für die Menschen, für alle Menschen, für alle seine Menschen. Für ein paar Männer und Frauen aus seinem Führungsstab, die ihm diese Entscheidung als die einzig richtige nahegebracht hatten. Er war nur eine Marionette. Eine dumme Marionette, die die Menschen in ihr Verderben stürzen konnte. Ein einziger Mann, der Leben und Tod der Menschheit in seiner rechten und sein Leben oder Tod in der linken Hand hielt, weil es ihm ein paar selbstgerechte Personen so aufgetragen hatten.
Niemals wollte er sich rächen - an anderen Menschen.
Er nahm seine Rechte von dem Schalter, sah auf den Timer und ließ die letzten Sekunden herabzählen. Seine Linke zog an dem Lauf und auf den lauten Krach folgte in Millisekundenschnelle eine Kugel, die ihm durch den Schädel schmetterte. Sein toter Körper fiel langsam von dem Sitz, auf den blutdurchtränkten Boden. Es war sein Blut. Nur sein Blut.
Der Timer erreichte das Ende seines Count-Down. Nachdem die Uhr die letzte Ziffer zählte, gab es einen dumpfen Stoß, die Lichter des Pultes erloschen und der Raum war schwarz, still und ruhig.
 

jon

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…ich wusste doch gleich, dass die US-Präsidenten (und ihre Nachfolger) herzensgute Menschen sind, die nur durch die bösen bösen Politiker um sie herum manipuliert und unter Druck gesetzt werden!

Die Geschichte ist so schön geschrieben… und verläuft so lau im Sande. „Richtig“ wäre gewesen, wenn sich herausstellte, dass der Mechanismus eh nicht mehr funktionierte und (Variante A) der arme Kerl sich umsonst erschossen hätte oder (Variante B) die Welt trotzdem zum Teufel geht. Er könnte beim Umkippen auch auf den Schlater fallen und die Sprengung auslösen…

Übrigens: Haben diese „selbstgefälligen Menschen“ eigentlich für ihre Rettung gesorgt, falls der Präsident Manns genug gewesen wäre, die Erde zu zerstören?

…oder hab ich über den manchmal unklaren Bezügen und stilistischen Unfertigkeiten irgendwie den Text falsch verstanden?
 

masterplan

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Antwort1

Hmm, womöglich habe ich den Titel ein bisschen unglücklich gewählt. Im eigentlichen Sinn der Geschichte geht es nicht um die Entscheidung die der Präsident gefällt hat und deren Auswirkungen, Folgen, etc. sondern um den Mann selbst, der allein die Macht der Zerstörung in seinen Händen hält und damit umgehen muß. Vielleicht kommt auch die Bedeutung dieses Mannes für den Rest der Welt nicht eindeutig zum Vorschein. Er ist nicht der Dumme, dem aufgezwungen wird die Erde zu zerstören. Er ist mehr ein Auserwählter, dem die Ehre gebührt, diese Entscheidung zu fällen und von seinem Stab weder in Frage gestellt wird, noch "dem Volke" geopfert werden soll. Die "Dummheit" soll die Menschheit (und sein Stab) darstellen, die ihm die einzig richtige Entscheidung, die Erde zu zerstören, aufzudrängen versuchen und mit ihm voller Hoffnung ins "ehrenvolle Elend" stürzen. Doch da der Präsident seiner Individualität (darum soll es letzlich gehen) bewußt wird, fällt er seine "eigene" Entscheidung.
 

jon

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Teammitglied
Sekunde mal…

…wir reden hier doch nicht etwa aneinder vorbei? Schon klar, dass der Präsident die Erde zerstören SOLL und dass er das am Ende nicht macht. Insofern ist das schon der richtige Titel. Natürlich wurde er auserwählt. Und natürlich ist er nicht dumm im Sinne einer befehlsausführenden Einrichtung. Allerdings: Wenn er wirklich entscheiden darf – wieso bringt er sich dann um? Das macht nur Sinn, wenn er für die „Fehlentscheidung" irgendwie zur Rechenschaft gezogen würde. Das hat dann aber mit Entscheidungsfreiheit nur sehr wenig zu tun.

Offenbar ist es doch so, dass die Westler so von der Unerträglichkeit des Östlichen Systems überzeugt sind, dass sie lieber (mit) sterben. Und der Präsident ist der Spitzen-Mann dieser Westler. Warum also folgt er nicht seiner Überzeugung? Weil er leben will? Tut er ja nicht, er bringt sich ja um. Vielleicht ist es auch gar keine echte Überzeugung, vielleicht wollen die Westler in Wiklichkeit lieber leben – dann ist die Frage nach den Rettungsmaßnahmen durchaus legitim.

Wie auch immer: Das Dilemma steckt in der Struktur. Wenn du eine Effekt-Geschichte (mit nachdenkenswertem Hintergrund wie Fanatismus oder so) machen willst, dann gilt mein erstes Posting hierzu: Am Ende muss was passieren.
Wenn du aber ganz auf die Entscheidung (für Individualität) des Präsidenten aus bist, dann ist die Handlung dieses Teils falsch konzipiert: Er müsste erst den Sprengbefehl auslösen und wie die Sprengung so langsam näher-countdowned, wird er von Zweifeln gepackt und bricht erst im allerletzten Moment ab. Deine Geschichte fängt aber praktisch damit an, dass er abbricht – die Entscheidung ist also eigentlich schon gefallen.
 

masterplan

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Antwort2

Okay, "Der Präsident" lässt den Timer ablaufen und verhindert somit, dass die Welt zerstört wird. Dann bringt er sich selbst um, weil er sich in einer aussichtslosen Situation befindet. Die Geschichte ist anlehnend an seine Gedanken in diesem Dilemma geschrieben und nicht von einer "Es war einmal..."- Dritten Person.
Wenn er den Schalter umlegt vernichtet er alles. Also nicht nur den Osten, sonder auch seinen Westen, für den er (zumindest in der Öffentlichkeit) als Präsident verantwortlich ist. Da er sich aber nicht in der Lage fühlt diese "wichtigste" Entscheidung zu treffen, lässt er der Welt seinen Lauf und nimmt sich die einzige wirklich von ihm zu tragende Entscheidung auf sich, sich selbst zu töten (und nicht die ganze Menschheit).
Versetze dich doch mal in die Gedanken dieses Mannes. Was wäre, wenn er (ohne die Welt zerstört zu haben) nach draußen tritt und sein Scheitern verkünden würde?
Mit dieser Geschichte möchte ich einfach (wenn es überhaupt so einfach ausgedrückt werden kann) den Stolz der westlichen Welt und die (vermeintliche) Überlegenheit des Osten darstellen. Der Mann entscheidet also ein wenig egoistisch. Er ist zu stolz sich der Schmach des Versagens zu stellen und zu menschlich den Schalter herunterzudrücken.

Mag ja sein, dass diese Geschichte nicht so ganz in das übliche Geschichtenkorsett passt, mit dem man wirklich gute, spannende und fesselnde Storys schreiben kann, doch diese Werke kann ich ja überall lesen. Da schreib' ich mir doch lieber selbst eine kleine, unkonventionelle Kurzgeschichte, ohne den großen Zuspruch, hab' aber meine Freude an auftretenden Diskussionen wie dieser.
(Wenn ich mir das genau überlege, hätte ich die Geschichte doppelt so lang, mit einer Menge Erklärungen schreiben können.)
 

jon

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Teammitglied
Also ein Missverständnis… Wenn DAS die Entscheidung ist, dann kann ich sie nicht nachvollziehen – jedenfalls nicht anhand deines Textes.

Vielleicht deshalb:
Du schreibst: „Es waren inzwischen schon fünfeinhalb Minuten vergangen und der Timer zeigte noch vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden an. Erst jetzt rappelte sich der ängstlich, aber dennoch resignierend wirkende Präsident der westlichen Welt wieder von seinem Stuhl auf und sah gespannt und nachdenklich auf die Anzeige." – HIER beginnt der Prozess der Problembewusstwerdung (klasse Wort, oder:)? ), der im Selbstmord endet. In diesen fünf Minuten beginnt es – und du sagst kein Wort darüber. Du sagst nur, er blicke nachdenklich. Worüber denkt er nach? Über das vergangene Frühstück (zugespitzt ausgedrück)? Nein!: Er stellt sich hier vor, wie er aus dem Bunker tritt und die Leute in ihm den Versager sehen. Und da fängt er an, sich zu überlegen, dass ihm das nichts ausmacht, und merkt, dass ihm das doch was ausmacht, dass er sich schuldig fühlt, so schuldig , so schuldig, so unendlich schuldig, dass er sich schämt, so sehr, dass er lieber tot wäre…

Und jetzt erst geht deine Geschichte weiter: Er will natürlich nicht sterben, also schiebt er den anderen die Schuld zu, das klappt nur nicht, denn Scham (hier: über sein "Versagen") lässt sich so nicht austricksen – und er tötet sich schließlich.

Merkst du: Da fehlt ein ganzes Stück Geschichte. Es steckt in dem lapidaren Satz „Es waren inzwischen schon fünfeinhalb Minuten vergangen…“ Wäre dieses Stück Geschichte dagewesen, hätte ich auch gesehen, welche die Entscheidung ist, die hier getoffen wird.



Zu deiner Bemerkung:
„Mag ja sein, dass diese Geschichte nicht so ganz in das übliche Geschichtenkorsett passt, mit dem man wirklich gute, spannende und fesselnde Storys schreiben kann, doch diese Werke kann ich ja überall lesen. Da schreib' ich mir doch lieber selbst eine kleine, unkonventionelle Kurzgeschichte, ohne den großen Zuspruch, hab' aber meine Freude an auftretenden Diskussionen wie dieser.“
… entschuldige, wenn mir da das Messer in der Tasche aufgeht! Erstens schließt eine gut gemachte Geschichte eine Diskussion mitnichten aus. Zweitens regt eine gut gemachte Geschichte eine Diskussion sogar erst an. In Wirklichkeit haben wir beide doch gar nicht über das Thema Entscheidung geredet, sondern über das Thema „Ich versteh deine Geschichte nicht.“ War das wirklich das, was du mit dem Text beabsichtigt hast? Und: Mit ein paar kleine Korrekturen kann man aus diesem Text einen effektvollen / wirkungsvollen machen. Zu einem Text, den man als Ausdruck oder Mail Freunden weiterreicht, weil es ein gute Story ist. Was ist denn so schlecht daran, eine gute Story zu machen, dass du dich weigerst, meine Kritik auch nur in Betracht zu ziehen? Und drittens: Dass du diesen Text mitnichten nur für dich (ohne großen Zuspruch zu erwarten) gemacht hast, beweist sich schon dadurch, dass du ihn in die LL stelltest – "keinen großen Zuspruch" hättest du auch kriegen können, wenn du ihn in deiner Familien, unter Freunden oder Bekannten verteilt hättest. Ich weiß, dass vor allem junge Schreiber (im Sinne von Noch-Nicht-Lange-Schreiber) sich einreden, sie würden nur für sich schreiben. Dann würden sie es im Tagebuch tun und nicht in der Öffentlichkeit. Und ehrlich: Stell dir vor, dieser Text würde gedruckt – wäre das nicht ein verdammt klasse Gefühl??

Das war's von mir zu dieser Runde.
Tschüß! Vielleicht bis zur nächsten Geschichte!
jon
 



 
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