Die Entscheidung (Version2) Teil 2

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jon

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12 Jahre nach dem Tag X

Carola stand im Hintergrund der Menge und beobachtete alles. Tom war ganz bei der Sache, tauschte Scherze mit den Fans aus, beantwortete Fragen. Und ständig schrieb er Autogramme. Auf Karten, CD-Hüllen, T-Shirts. Jemand hielt ihm eine große Fahne hin, auf der schon mehrere Unterschriften von Bern prangten.
[ 3]„Ihr könnt wohl nicht genug kriegen“, witzelte Tom und die Menge versicherte „Nie!“
[ 3]Jemand bemerkte, dass es Stühle im Raum gab, und schob Tom einen hin.
[ 3]„So alt bin ich noch nicht!“, lachte er.
[ 3]„Aber ich“, sagte der Aufmerksame schlagfertig, griff sich einen Stuhl und setzte sich neben Bern.
[ 3]Wie auf Kommando suchten alle einen Sitzplatz. Carola hatte nicht so schnell reagiert und war eine der wenigen, die keinen Stuhl ergatterten. So fiel sie Tom auf und er sah zu ihr.
[ 3]Der Blick traf sie, selbst über diese Entfernung hinweg. Sie fühlte den Sturz nahen, und wandte sich ab, vorgeblich auf der Suche nach einem freien Stuhl. Als sie wieder aufsah, widtmete sich Tom bereits wieder den anderen.



24 Jahre und 9 Monate vor dem Tag X

Der Abend war grandios. Die Menge feierte die Jungs. Johanna hatte sich auf eine talentierte Schülerband eingestellt und war dann von Thomas überrollt worden. Er hatte drei der Lieder gesungen, nur drei, aber seine Stimme hatte alles rundum ausgelöscht, alles hochgespült, alles umgewälzt.
[ 3]Sie konnte nicht mehr vertuschen, dass das da Thomas Bern war. Sie konnte nicht mehr so tun, als hätte sie sich auf ein hübsches Spielchen mit einem attraktiven Jungen eingelassen. Dieser Auftritt, der erste, den sie seit 30 000 Jahren von ihm sah, entlarvte ihre Tändelei als hilflosen Versuch, ihn nicht zu lieben. Sie konnte sich nicht mehr wehren, gab nach und war an diesem Abend das, was er allen zeigte: die seine. Er schwebte im Erfolg, brauste auf der Welle des Glücks, riss Jo mit und war unschlagbar. Die Welt gehörte ihm, und Johanna wünschte ihm jeden Quadratmillimeter davon.
[ 3]Ihn so zu sehen, machte ihr bewusst, wie sehr ihr Seelenfrieden davon abhing, ihn glücklich zu wissen. Zuerst wusste sie es nur, dann, auf dem Heimweg, wurde ihr klar, was es bedeutete. Es durfte nichts geschehen, was seine Zukunft störte. Nichts, was verhinderte, dass er Musiker wurde. Nichts, was verhinderte, dass er Veronika traf. Sie war die Richtige für ihn. Noch nicht jetzt, aber sie würde es sein. Wenn Jo sich aus seinem Leben raushielt. So, wie es Thomas Berns Biografie vorsah.
[ 3]Johanna bereitete sich darauf vor, Tom an der Tür abzuweisen, legte sich „ich muss morgen früh raus“-Sätze parat und wappnete sich gegen seinen Blick.
[ 3]Nichts davon brauchte sie: Als sie „Gute Nacht!“ sagte, küsste er sie auf die Wange und ging. Sie wusste nicht, ob sie nur verdutzt, erleichtert oder nicht doch eher beleidigt sein sollte. Er winkte ihr von der Treppe aus zu, sagte „Bis Morgen!“, schickte ihr einen Luft-Kuss und verschwandt.
[ 3]Johanna brauchte ein paar Augenblicke, um die Verwunderung abzustreifen. ,Vielleicht', so griff sie nach dem Strohhalm, ,hast du dich ja geirrt. Vielleicht bist du nur eine Freundin für ihn.' Sie fühlte sich erleichtert durch diesen Gedanken. Sehr erleichtert. Denn das würde das, was sie nun tat, für ihn um vieles erträglicher machen.
[ 3]Dann packte Johanna ihre Sachen, nur das Nötigste. Die Papiere, etwas zum Anziehen, die Waffe. Sie legte den Schlüssel auf den Tisch, zog die Tür hinter sich zu und stieg die Treppe hinab. Sie steckte den Umschlag mit der Miete für die nächsten drei Monate und der Kündigung in den Briefkasten der Vermieterin, trat aus dem Haus und ging zur Telefonzelle. Sie rief ein Taxi.

12 Jahre nach dem Tag X

Sein Duft lag in der Luft. Über all dem Leder und der Aufgeregtheit und dem Dunst der Menge schwebte er wie ein Versprechen zu Carola herüber. Wenn sie sich darauf einließe, würde es ihr gut gehen, versprach er. Sie wusste, dass es nicht so war, denn wenn sie sich darauf einließ, brache sie Tom in Gefahr.
[ 3]Wenn er sie erkannte, würde sie ihn töten müssen.
[ 3]Es mochte unwahrscheinlich sein, dass er begriff, wer sie war. Was sie war. Aber wenn – und irgendetwas in ihr glaubte fest daran, dass es geschehen müsse – dann hatte sie keine Wahl mehr. Er war zu prominent. Irgendwer würde zuhören, wenn er von einer Unsterblichen spräche. Und das würde er. Irgendwo, irgendwann.
[ 3]Sie sollte gehen.
[ 3]Jetzt.
[ 3]Oder wenigstens gleich.
[ 3]Jedenfalls bevor er sie bemerkte.


24 Jahre und 9 Monate vor dem Tag X

Das Hotel, in dem sie in der Kürze der Zeit noch ein Zimmer ergattert hatte, war lausig. Es roch muffig, das Bett war durchgelegen, die Schranktür, die sich nicht hatte schließen lassen, knarrte unregelmäßig und von nebenan klangen eindeutige Geräusche.
[ 3]Johanna fühlte sich erleichtert. Traurig, ein bisschen erfroren sogar, aber erleichtert. Nicht auszudenken, wie sich die Zukunft, ihre Gegenwart, verändert hätte, hätte Thomas Bern jetzt eine Affäre gehabt. Na gut, vielleicht hätte er die sogar haben sollen, so detailiert hatte sich Bern nie in sein Leben schauen lassen, aber wenn, dann nicht mit ihr. Sie gehörte nicht hierher. Nicht zu ihm. Wirklich nicht.
[ 3]Nebenan ging es zur Sache. Es klang, als würde das Haus gleich zusammenbrechen. Sie quietschte im Rhythmus. Vielleicht war es auch das Bett.
[ 3],New York', zwang sich Johanna zu denken. ,Das Geld müsste jetzt da sein. Ich werde beide Apartments nehmen. Vorerst zumindest, wer weiß, wozu man 's brauchen kann. Ich sollte die Waffe hier lassen. Ist sicherer. Ich kriege drüben ratzfatz eine neue.'
[ 3]Nebenan entlud sich seine Lust mit einem unterdrückten Schrei. Sie quietschte noch ein-, zweimal und war dann still. Am Empfang unten malträtierte jemand die Glocke. Draußen rumpelte die Straßenbahn vorbei.
[ 3],Hoffentlich ist Ed noch in Brooklyn', dachte sie und fühlte, wie sich ihr der Magen zusammen zog. Als sie mit ihm geflirtet hatte, damals, vor einem knappen Jahr in der Schweiz, war er ihr wie ein netter großer Junge erschienen. Sein Kumpel war eigentlich eher ihr Typ, aber den hatte sich Johanna ausgesucht. Die echte Johanna. Sie hatten sich gemocht – Johanna und Sieglinde. Blöder Name: Sieglinde. Johanna hatte ihn witzig gefunden und vorgeschlagen, sie sollten doch die Namen tauschen für diesen Urlaub.
[ 3]Der Neuankömmling machte offenbar Schwierigkeiten, undeutlich klangen Stimmen herauf.
[ 3],Es wurde ein Tausch für immer', dachte Johanna und fand es theatralisch. ,Ach Scheiße!' Sie sah wieder das Bild der Toten vor sich. Überdosis. Es hatte sie überrascht. Ed hatte irgendwas von nicht genug bekommen gesagt und dann abgewinkt. Und dann hatte er ihr auch etwas von dem Koks angeboten.
[ 3]Eilige Schritte polterten die Treppe hoch.
[ 3],Arschloch!', dachte Johanna. ,Aber ich krieg dich. Und dann …'
[ 3]Die Tür wurde aufgerissen.
[ 3]Sie fuhr auf. Im Gegenlicht sah sie eine Schattengestalt. Sie machte die Nachttischlampe an.
[ 3] „Jo?“
[ 3]„Tom?“
[ 3]Die Tür fiel ins Schloss.
[ 3]„Tom, was … “
[ 3]„Verdammt, Jo!“ Er trat näher.
[ 3]Sie stand auf, fühlte ein Frösteln und schlang sich die Decke um. „Was um Himmels Willen machst du hier? Um diese Zeit!“
[ 3]Er riss sie in seine Arme, küsste sie – Augen, Wangen, Lippen, Haar. Die Decke glitt von ihren Schultern, sie regte sich nicht, sie aufzufangen. Er nahm ihren Kopf in die Hände. Große, berauschende Hände. Er sah sie an. Küsste sie. Sie spürte Tränen auf seinem Gesicht. Vielleicht auch auf ihrem. Sie war nicht fähig, es deuten. Sie war zu gar nichts fähig.
[ 3]„Bitte tu das nie wieder“, sagte er und drückte sie an sich. „Ich wäre gestorben, wenn du fort gewesen wärst.“


12 Jahre nach dem Tag X

„Tut mir leid, Leute“, sagte Bern und stand auf. „Wir müssen hier noch etwas arbeiten. Es war schön, euch mal wieder zu treffen.“
[ 3]Die Meute erhob sich ebenfalls.
[ 3]Bern ging Richtung Tür, die Fans folgten ihm.
[ 3]„Wir sehen uns auf der Tour“, sagte er und schüttelte die Hände der an ihm Vorübertreibenden.
[ 3]„Klar!“, sagten die.
[ 3]Und: „Natürlich!“
[ 3]„Alle Konzerte, Mann!“
[ 3]„Ich freu mich schon …“
[ 3]Langsam flossen die Fans aus dem Raum. Carola reihte sich ein, hinten, so dass sie ohne Aufsehen an Tom vorbeikommen würde. Noch ein Blick, und sie war …
[ 3]„Sekunde!“
[ 3]… noch nicht draußen. Tom lächelte ihr zu. „Hast du noch eine Sekunde Zeit für mich?“
[ 3] Sie nickte. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Jemand neben ihr musterte sie unverhohlen. Auch er wurde von Tom hinauskomplimentiert.
[ 3]Dann fiel die Tür zu und Carola war allein. Mit Thomas Bern. Sie fühlte sich unwohl. Hochgradig unwohl. Ihr war klar, dass sie nicht ausweichen konnte, aber sie brachte es nicht fertig, ihn anzusehen.
[ 3]„Wir kennen uns“, sagte er. „Oder?“


24 Jahre und 8 Monate vor dem Tag X

Sie hatte wieder ihr Zimmer unterm Dach bezogen. Es war, als sei sie nie weg gewesen. Nur dass Tom jetzt beinahe bei ihr wohnte, war neu. Und es war nicht gut. Nicht nur seinem Vater missfiel es. Er argwöhnte, sein Junge könnte die Lehre vernachlässigen und „asozial werden“, wie er es nannte. Er hatte Johanna eines Vormittags besucht und sie in harschem Ton aufgefordert, den „Buben“ in Ruhe zu lassen, denn aus ihm solle mal was werden. Sie hatte gesagt, das wolle sie auch, und zugesichert, sie würde gehen, wenn der Moment richtig wäre. Wenn es Tom verkraften würde. Nicht jetzt also, aber wohl bald.
[ 3],Bevor es zu spät ist', hatte sie in Gedanken hinzugesetzt, als sie die Tür hinter dem Vater geschlossen hatte, und dabei gewusst, dass es schon zu spät war.
[ 3]Tagsüber dachte Johanna nicht darüber nach. Sie kaufte sich ein Grundstück in Florida, bestellte einen Architekten nach Deutschland und begann mit ihm, das Haus zu planen. Sie vervollständigte ihre Recherchen über die echte Johanna und stellte fest, dass sie tatsächlich keine Angehörigen mehr hatte und auch Bekannte in den Staaten eher rar gesät waren, was das Risiko aufzufliegen drastisch minderte. Und sie strukturierte ihr Finanzsystem neu, so dass es leichter sein würde, es auch nach der Rückkehr zu managen. Falls es ein „nach der Rückkehr“, ein „nach dem Tag X“ geben würde.
[ 3]An den Nachmittagen war Tom da. Oder sie unternahmen etwas gemeinsam, trafen sich mit seinen Freunden, gingen einfach nur bummeln oder ins Kino. Sie begleitete ihn zu den Proben mit seiner Band oder zu Auftritten. Und auch dann dachte Johanna nicht nach. Sie genoss es, Tom glücklich zu sehen, genoss seine Aufmerksamkeit, seine Nähe, seine Wärme. Seine Stärke.
[ 3]Erst nachts, wenn Tom zufrieden und entspannt neben ihr schlief, begannen die Gedanken zu kreisen. Immer um den selben Punkt: Sie musste gehen. Bevor das Leben, das er leben sollte, nicht mehr möglich war. „Entdeckt werden“ war der Schlüssel – dazu musste er raus, auf die Bühne. Tingeln gewissermaßen. An diesem Abend hatte er gesagt, er ginge lieber mit ihr ins Bett als mit den Jungs auf die Bühne. Er hatte es im Spaß gesagt.
[ 3]Aber er hatte es gesagt.
[ 3],Und wenn?', dachte Johanna und betrachtete Toms Gesicht. Er war zufrieden, auch ohne Musik. ,Nein', korrigierte sie sich. Er hatte sie ja, die Musik. Die Band, die Auftritte. Das Publikum. Aber würde er es behalten können? Mit ihr, mit einer Familie, für die er sorgen musste? Wohl kaum. ,Vielleicht würde es ihn gar nicht stören. Er kennt es ja nicht, würde das Musikerleben vielleicht gar nicht vermissen. Aber wie lange? Und was, wenn ich dann doch gehe?' Denn das würde sie tun. Tun müssen, bevor er bemerkte, dass sie nicht alterte.

12 Jahre nach dem Tag X

„Kennen wäre übertrieben“, log Carola. „Ich hab Sie zwar auf der Bühne gesehen und war …“
[ 3]„Wen hast du gesehen?“, unterbrach Bern
[ 3]Sie sah irritiert auf. „Sie.“
[ 3]„Dich. Es heißt dich.“
[ 3]„Ich weiß, ich … Es ist …“ ,… ein Schutzschild', lautete der Satz, aber das konnte sie ihm doch nicht sagen! „Du“, gab sie also nach. „Ok. Du.“
[ 3]„Schön.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich bin Tom.“
[ 3]„Carola.“ Sein Griff war kräftig aber nicht hart. Sie konnte ihn im ganzen Körper spüren.
[ 3]„Freut mich, dich kennen zu lernen. Du hast etwas verloren gewirkt da hinten.“
[ 3]„Naja, ich … Ich gehöre nicht zu dem Club. Es war Zufall, dass ich hier gelandet bin. Ich wollte mich nicht vordrängen.“
[ 3]„Nicht mal für ein Autogramm?“ Er schmunzelte, sie spürte es tief in sich glühen. „Das ist meist das erste, was Fans vortreibt.“
[ 3]„Ich hab nichts dabei für ein Autogramm. Es war … ja nicht abzusehen, dass … sowas passieren würde.“
[ 3]„Komm, ich hab bestimmt noch irgendwas hinten. Wenn du magst …“



24 Jahre und 7 Monate vor dem Tag X

Es war Dezember geworden. Der erste Schnee war schon wieder zerflossen und hatte alles noch grauer gemacht. Wenigstens waren die Straßen frei, Johanna konnte sich kaum auf das Fahren konzentrieren. Tom war noch ganz aufgekratzt vom Auftritt. Obwohl seine Songs diesmal nicht so gut angekommen waren.
[ 3]„… Probleme mit meinen Vater, ich weiß, aber meine Mutter würde sich freuen. Nur zum Adventskaffee, Jo, mehr nicht. In ein, zwei Stunden hättest du es überstanden.“
[ 3]„Ja, schon möglich.“
[ 3]„Hey, wir könnten Eiscreme mitbringen, mein Vater liebt Eiscreme. Du weißt schon, die aus unserem Café.“
[ 3]„Gute Idee.“
[ 3]„War ein toller Abend, oder? Den Leuten hat es gefallen.“
[ 3]„Ja.“
[ 3]„Kannst du dir vorstellen, wie sich sowas von einer echten Bühne aus anfühlt? Das muss Wahnsinn sein!“
[ 3]„Ja, ist es wohl.“ Sie fuhr auf den Seitenstreifen und stellte den Motor ab.
[ 3]Tom sah sich um. „Schon da?“
[ 3]Sie nickte, stieg aus und nahm ihre Tasche vom Rücksitz.
[ 3]Tom ging zum Kofferraum und holte die Gitarre raus. Er schüttelte sich. „Es friert sicher noch heute Nacht.“
[ 3]„Wahrscheinlich.“
[ 3]„Ich hoffe, dein Trick mit den Kerzen hat geklappt.“
[ 3]„Heiß wird es oben nicht sein. Aber etwas überschlagen.“
[ 3]„Wir müssen uns einen Ofen anschaffen. Ich verstehe sowieso nicht, warum keiner zur Ausstattung gehört.“
[ 3]„Weil es eine Sommerwohnung ist.“
[ 3]„Jetzt nicht mehr. Jetzt ist es unsere Ganzjahreswohnung.“

12 Jahre nach dem Tag X

Carola starrte auf die CD. „Die neue Platte?“
[ 3]„Ab übermorgen ist sie sowieso in den Läden. Du musst mir nur versprechen, dass du sie nicht vorher im Radio spielst.“
[ 3]Sie grinste. „Schade, das sollte der Aufmacher sein morgen.“
[ 3]Tom runzelte die Stirn. „Du bist nicht wirklich beim Radio …“
[ 3]„Neeeeee…“
[ 3]Er lächelte.
[ 3]Es brannte sich in ihren Körper. Sie wich aus, indem sie aufstand und sich demonstrativ umschaute. „Ziemlich spärlich für die Garderobe eines Stars. Was wird das heute eigentlich?“
[ 3]„Ein PR-Konzert für die Presse.“ Er stand ebenfalls auf und trat zu ihr.
[ 3]Sie drehte sich um. „Ist das nicht ein bisschen spät, wenn ü…“ Seine plötzliche Nähe erschreckte sie. Sie wollte zurückweichen, doch er hielt sie fest.
[ 3]Seine Augen hielten sie fest.
[ 3]„Wovor hast du solche Angst?“, fragte er.
[ 3]Sie fühlte Tränen aufsteigen und ärgerte sich darüber. Es änderte nichts. „Keine Ahnung. Vielleicht …“ Sie wischte sich über die Augen. Er sah es und das machte sie wütend. „Ich sollte gehen. Ich … mache mich lächerlich.“
[ 3]„Es ist niemand hier außer uns." Er hatte die Stimme gesenkt, sie floss wie Seide. „Und ich finde dich nicht lächerlich.“
[ 3]„Na immerhin etwas“, witzelte sie halbherzig, bemüht, den Klang seiner Stimme zu ignorieren
[ 3]„Denke ich auch.“ Er gab sie frei. „Willst nachher du zuhören?“
[ 3],Nein', dachte sie, ,ich will nur weg hier. Oh bitte, sieh mich doch nicht so an!'
[ 3]Er neigte fragend den Kopf, noch immer lächelnd. „Es ist nur Musik …“
[ 3]Sie lachte. „Nur ist gut! Klar will ich zuhören. Hey!“ Sie breitete die Arme aus. „Ich bin Fan, schon vergessen?“



24 Jahre und 7 Monate vor dem Tag X

„Ist doch schön warm hier“, sagte Tom, stellte die Gitarre ab und schloss die Tür. Er drehte sich um. „Hoffentlich hast du nicht die rote Kerze ver…“ Sein Blick fiel auf den Koffer. „Was …?“
[ 3]Johanna stand mitten im Raum und fror. „Ich fliege in die Staaten", sagte sie. „Mein Taxi kommt in anderthalb Stunden.“
[ 3]„…“
[ 3]„Ich wollte es dir nicht vor dem Auftritt sagen.“
[ 3]„Du …“, er rang um Worte, um Atem. „Du kannst nicht fliegen!“, brach es schließlich aus ihm heraus.
[ 3]„Ich kann nicht bleiben, Tom.“
[ 3]„Wa… Warum???“
[ 3]„Du wusstest, dass ich gehen würde“, sagte sie statt einer Antwort.
[ 3]„Aber doch nicht jetzt!“
[ 3],Doch', dachte sie. ,Jetzt.'
[ 3]„Warum … ich glaubte … “ Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Ok“, sagte er dann. „Wann kommst du zurück?“
[ 3]„Ich komme nicht zurück.“
[ 3]„…“
[ 3]„Das habe ich dir gesagt.“
[ 3]„Hast du nicht!“
[ 3]„Doch. Du hast nur nie zugehört.“
[ 3]„Ich dachte, wir wären in Zukunft … wir …“
[ 3]„Deine Zukunft findet ohne mich statt“, log sie.
[ 3]„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein nein nein! Das akzeptiere ich nicht! Niemals!“
[ 3]Sie dachte: ,Er wirkt süß in seiner hilflos-kindlichen Wut. Jemand sollte ihn in den Arm nehmen und trösten.' Es fühlte sich fremd an.
[ 3]„Du kannst nicht gehen“, sagte er. „Wir wollten heiraten.“
[ 3]„Du wolltest heiraten. Ich habe nie ja gesagt.“
[ 3]„Du hast nie nein gesagt.“
[ 3]„Doch.“ Es tat weh. „Du hast es immer wieder überhört.“
[ 3]„… Familie. Wir wollten …“
[ 3]Der Schmerz raubte ihr die Worte. Er sammelte sich in ihrem Leib, dort, wo sein Kind wuchs. Von dem er nichts wusste. Nichts wissen würde. Durfte. Es fand in seiner Biografie nicht statt.
[ 3]Sie setzte sich auf den alten Stuhl. Und schwieg. Schwieg, als er sie anschrie, schwieg, als er vor ihr niedersank. Schwieg, als er aufgab. Und als er erneut zu kämpfen begann.
[ 3]Irgendwann waren sie müde. Er vom Kämpfen und sie vom Schweigen. Als das Taxi unten hupte, stand sie auf und nahm ihren Koffer. Sie sah ihn an. Sie wollte etwas sagen wie ,Du bist das Beste, was mir je passiert ist', und das wäre nicht mal gelogen gewesen. Es war nur nicht das, was er darin hören würde. Also ging sie. Grußlos.


12 Jahre nach dem Tag X

Es roch nach Haut und Hitze. Draußen flackerte eine kaputte Werbeanlage, auf dem Gang lachte eine Frau. Carola hatte ihren Kopf an Toms Brust gebettet und streichelte seinen Bauch. Der Mann war fantastisch in Form. Der Moment war perfekt. Vom Ring an seinem Finger mal abgesehen.
[ 3]„Was hältst du von Alex?“, fragte Tom.
[ 3]Sie hob den Kopf. „Alex?“
[ 3]„Der Bassist heute. Was hältst du von ihm?“
[ 3]„Auf den habe ich nicht geachtet“, log sie.
[ 3]„Er ist mein Sohn.“
[ 3]„Ach!“, sagte sie und suchte krampfhaft nach einer unauffälligen Antwort.
[ 3]„Er ist gut, oder?“
[ 3]Sie nickte. „Ich wusste gar nicht, dass du einen erwachsenen Sohn hast.“
[ 3]„Wusste ich bis vor ein paar Monaten auch nicht. Und er auch nicht.“
[ 3]„Wie ,er auch nicht'?“
[ 3]„Wir waren schon mitten in der Produktion des Albums, als sein Vormund es ihm sagte.“
[ 3],Vic!' dachte Carola und vermisste ihn plötzlich. „Vormund, hm?“
[ 3]„Ehemaliger Vormund. Mit 21 erlischt so ein Vormundschaftsverhältnis, soweit ich weiß. Sie hat den Jungen sofort nach der Geburt in eine Pflegefamilie gegeben.“
[ 3]Carola überlegte, ob sie fragen sollte, wer „sie“ war. Stattdessen fragte sie: „Pflegefamilie? Warum haben die ihn nicht adoptiert?“
[ 3]„Weil Jo ihn nicht frei gegeben hat.“ Er setzte sich auf und sah zu Carola herunter. „Das ist verrückt, oder? Sie gibt ihn weg, verschweigt den Vater und macht nie Anstalten, das Kind zu treffen oder gar zurückzuholen. Sie hätte ihn zur Adoption freigeben können, das wären klare Fronten gewesen. Besser für den Jungen.“
[ 3]Sie schluckte. „Kann sein.“
[ 3]„Ich bin sein Vater“, sagte er. „Sie hätte ihn mir geben können.“
[ 3]„Vielleicht ging das nicht …“
[ 3]„Blödsinn! Was hätte da nicht gehen sollen?!“
[ 3]„Ich weiß nicht. Sie hatte sicher Gründe.“
[ 3]„Auch dafür, es mir nie zu sagen? Dafür gibt es keine Gründe!“
[ 3]Es tat weh, in so verletzt zu sehen. Sie versuchte, nicht darauf zu achten, sagte obenhin „Jetzt hat sie ja ihre Meinung geändert …“ und streckte sich gähnend.
[ 3]Seine Wut zerbrach an ihrem Desinteresse und machte etwas Platz, das Carola nicht deuten konnte. „Hat sie nicht. Sie ist tot.“
[ 3]„Ach so.“
[ 3]Er lehnte sich zurück und schwieg.
[ 3]Sie beobachtet ihn, wie er ins Nichts starrte und in Gedanken versank. Wo immer er gerade war, sie hoffte, es würde ihn von Jo wegführen. Sie lehnte sich an ihn, er begann ihr übers Haar zu streichen. Sein Duft füllte ihre Wahrnehmung aus, die Wärme seiner Haut und das straffe Polster seiner Muskeln, an das sie ihren Kopf bettete. Der Augenblick begann sich aus der Zeit zu lösen und zur einzig fühlbaren Realität zu werden …
[ 3]Tom unterbrach das Fließen. „Ich kann mich nicht an sie erinnern.“
[ 3]Carola sah auf. „An wen?“
[ 3]„Jo. Alexanders Mutter.“
[ 3]Sie runzelte die Stirn. „Du meinst, er ist vielleicht gar nicht …“
[ 3]„Doch! Doch, er ist mein Sohn. Bei der Ähnlichkeit …“, er grinste matt. „Nein, ich meine, ich weiß zwar, dass es sie gab und dass wir ein Paar waren, aber ich erinnere mich nicht, wie Johanna aussah.“
[ 3]Sie fühlte etwa Kaltes durch ihre Seele rinnen und versuchte, es Erleichterung zu nennen. „Es ist offenbar lange her“, sagte sie, damit er nichts merkte.
[ 3]„Ja. Fast 40 Jahre.“
[ 3]Ihr kam es wie gestern vor. Doch es fühlte sich fremd an. Wie der richtige Film aber mit den falschen Schauspielern.
[ 3]Tom sah sie an. „Wieso denk ich ausgerechnet jetzt daran?“
[ 3]Angst schoss ihr eisig ins Herz. „Keine Ahnung.“ Sie versuchte ein Lächeln. „Irgendwas psychologisch furchtbar Logisches wird der Grund sein.“
[ 3]„Zum Beispiel?“
[ 3]„Irgendein Jahrestag?“, setzte sie das Spiel fort und bemühte sich dabei, ihn ihr Lauern nicht merken zu lassen.
[ 3]Tom schüttelte den Kopf.
[ 3]„Eine … vergleichbare Situation?“
[ 3]„Du meinst ein Hotel?“
[ 3]Sie hob die Schultern.
[ 3]„Keine Ahnung. Ich weiß wirklich nichts mehr. Wie sie aussah, was wir machten. Wie wir uns kennen lernten …“
[ 3]„Aber dass ihr euch gekannt habt, schon.“
[ 3]„Ja. Wir müssen uns gekannt haben, denn ich weiß noch, wie es sich anfühlte, als ich sie verlor. Ich erinnere mich an den Schmerz.“
[ 3]Sie erinnerte sich ebenfalls.
[ 3]„Daran gemessen muss ich sie sehr geliebt haben.“
[ 3]„Klingt traurig“, sagte sie, so obenhin sie konnte, und stand auf. Sie schlang sich die Decke um, sammelte ihre Sachen auf und ging ins Bad. Sie hörte, wie auch er aufstand und sich anzuziehen begann. Ein Geruch nach Haut und Hitze stieg ihr in die Nase und verwehte wieder. Sie überlegte, ob sie duschen sollte, entschied sie sich dagegen, und begann, sich anzuziehen.
[ 3]Tom telefonierte mit dem Zimmerservice, bestellte Frühstück. „Toast oder Brötchen?“, rief er ins Bad.
[ 3]„Nichts. Ich frühstücke nichts.“
[ 3]„Das ist ungesund.“
[ 3]Sie sah sich im Spiegel beim Haarekämmen zu. „Ich weiß.“
[ 3]„Was?“
[ 3]„Ich weiß, dass es ungesund ist. Trotzdem.“ Sie kam zurück ins Zimmer. „Ich muss sowieso gehen.“
[ 3]Er legte auf. Sein Ring erzeugte einen Lichtreflex an der Wand. „Wenigstens einen Kaffee …“
[ 3]Sie schüttelte den Kopf. „Nein danke. Ich muss zur Arbeit.“
[ 3]„Es ist Samstag.“
[ 3]„Trotzdem.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und trat zur Tür.
[ 3]Er setzte ein Grinsen auf, das wohl schelmisch wirken sollte. „Kriege ich deine Telefonnummer?“
[ 3]Ein Schmerz sammelte sich in ihrem Leib. Erinnerungen. Sehnsüchte. Irgendwie sowas. Sie versuchte nicht mal, zu lächeln, schüttelte nur den Kopf. Dann ging sie. Grußlos.


(ENDE)
 
P

Pete

Gast
Wie, ENDE? So einfach? :-((


Unglaublich, welche Spannung Du erzeugst, mit Deinem Tag X.

Unglaublich auch, wie Frauen denken und empfinden. Ein Mann könnte sich kaum dermaßen an der Wand verreiben. Bin gespannt, wohin das führt. Hoffentlich kommt da noch etwas. Denn sein überlanges Leben der Unterstützung eines einzigen Mannes zu widmen, ist schon ein wenig krass. Aber vielleicht hat sie ja noch einen triftigeren Grund.

Ich kann mich mit der Protagonisting "aber überhaupt gar nicht" identifizieren, trotzdem bin ich gefesselt.

Lese erst einmal den Rest und komme dann wieder darauf zurück.

Sind die 30.000 Jahre so unbedingt erforderlich? In ihrer Rundheit und Höhe? Vielleicht könntest Du es in Äonen ausdrücken? Oder in Generationen?
So eine Lebensspanne ist nicht realistisch, ohne grundlegendste Veränderungen in der Persönlichkeit. Bei anhaltender Gesundheit und geistiger Beweglichkeit kann die Protagonistin gar nicht verhindern, dass sie sich sehr stark entwickelt und ihre Motivation und ihre Zielsetzungen oftmals überdenkt und modifiziert.
Diese Entwicklung führt, zwangsläufig, zum geistigen Superwesen, oder aber in den Verdruss ob unvermeidbarer Eintönigkeit und Wiederkehr der Ereignisse.
So ein Leben wäre (siehe STOS: Methusalem) geprägt durch vielfältige Lebensrollen, die nacheinander durchlebt werden würden.
Falls das zentrale Denkorgan dieser fortgesetzten Entwicklung gewachsen wäre (wir nutzen ja erst 10%), gäbe es ganz sicher ein paar tolle Überraschungen, von denen Gedankenlesen und PSI-Kräfte nur ein paar der naheliegendsten Möglichkeiten sind.
Das Hirn müsste auch in der Lage sein, extrem viele Eindrücke zu speichern. Oder aber, es würden seltsame Fälle der Amnesie eintreten, die sie nur ganz bedingt steuern können würde.
Wichtigster Effekt, die entsprechende Hirnkapazität vorausgesetzt, wäre die interdisziplinäre Verknüpfung von Wissen. Ein paar Jahrhunderte Philosophie, kombiniert mit technischen Wissenschaften und Grenzwissenschaften, dazu sehr viele erworbene Geschicke, die Beherrschung unterschiedlicher Waffenkünste (mal ein paar Jahrhunderte mit dem Bogen geschossen, wie die Elben), akrobatischer und sonstiger Fähigkeiten und dann: Bildung der Synthese aus diesem ganzen Wissen und all diesen Fertigkeiten.

Mindestens erwarte ich geistige Disziplinen (jetzt bitte nicht an Vulkanier denken, die sind eine Parodie) und eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Daseinszweck.

Aber das kommt ja vielleicht noch, wahrscheinlich noch toller als ich mir vorstellen kann.

Und so dermaßen spannend kann ich noch lange nicht schreiben!
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Danke für dein wiederholtes Lob, auch wenn die Spannung dann doch etwas in Leere zu laufen scheint …

Die Geschichte ist viel älter, als das Einstelldatum vermuten lässt, heute erscheint mir an der Protagonistin einiges auch eher … seltsam. Würde ein normaler Mensch so lange einem so alten Gefühl anhängen? Vielleicht: Es ist ein Gefühl aus einer "rosigeren Zeit". Ist es überhaupt das selbe Gefühl?

Bei so langen Zeiträumen und so vielen Sprüngen hört man irgendwann auf, genau mitzuzählen – deshalb sind es ungefähr 30.000 Jahre. Und die Höhe …vielleicht würden 10.000 Jahre auch reichen, der "Witz" ist, dass sie viel viele viele Jahre mehrfach durchlebt hat. Die Zahl erscheint mir passender als "erschreckend deutliches Zeichen" für die unsagbare Länge – unter "Generationen" kann man sich j akaum was vorstellen – die einen rechnen von Geburt zu Geburt (also etwa alle 20 Jahre) andere nehmen eine Lebensspanne (also 80 ... 100 Jahre). Und Äonen … für die meisten ist die Jugend ihrer Großeltern oder Urgroßeltern "Äonen" her, andere denken ans alte Rom (das ist nicht mal 2000 Jahr her) und wieder ander sehen sofort Fantasy-Zeiten mit Drachen vor sich.


Dass ihr Hirn all das erinnerungstechnisch mitmacht, ist pure Zweck-Fiction, ich wage weder zu sagen, dass es geht, noch dass ich es für unmöglich halte … Und es entwickelt dabei durchaus zusätzliche Fähigkeiten. Dass die Frau über ein faszinierend umfangreiches und komplexes Wissen verfügen muss, ist auch klar – ich weiß nur nicht, ob sie darum zu beneiden ist. Und all die Fähigkeiten … Wow! Eine Göttin! Aber: Sie würde auffallen, wenn sie auch nur einen Bruchteil davon durchschimmern lassen würde, und deshalb lässt sie es nicht durchschimmern …


Geistige Disziplin … das ist heikel. Sie kann das, sicher. Aber heißt das, dass sie immer vernünftig ist? Dann wäre sie Vulkanier und selbst die sind nicht umsonst im Laufe der Star-Trek-Ära zunehmend als eigentlich doch nicht so „rein vernünftig agierend" dargestellt worden. Außerdem: Nicht nur einzelne Ereignisse haben die Frau erschüttert, diese ganze lange Zeit, die Erkenntnis einer gewissen Sinnlosigkeit, da sich – was menschliches Verhalten angeht – alles doch nur immer und immer wieder wiederholt, ist ein einziges riesiges Trauma – man kann darin (gefühlsmäßig) erfrieren oder es auf die eine oder andere Weise hinter sich lassen; ihre Psyche hat sich gegen das Erfrieren entschieden.

Lebensrollen … Oh ja, sie hat viele durchlebt! Viele Geschichten(fragmente) dazu sind auch in meinem Kopf, werden aber wohl nicht mehr auf's Papier finden …
 



 
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