Die erste Lehrerin
"Händchen falten, Schnabel halten!" Bis weit über die letzte Reihe hinaus schallte ihr Ruf. Da stand sie, vorn am Pult, mit einem Kreidestummel in der Rechten. Funkelnde Augen strichen über die Schülerköpfe. Das leiseste Murmeln erstarb unter diesem Blick. Dann sahen wir nur noch ihre blonde Dauerwelle, hörten Kreide quietschen, schreien, atmeten feuchtes Linoleum.
Vor jedem von uns ein grobes Holzpult mit eingefräster Griffelrinne und ausgefrästem Rund, für das erwartete Tintenfass. Die Kreide hatte jetzt geräuschvoll, einmal gar entzweibrechend, mit dem Reststummel sofort weiterquietschend, viele zusammenhängende weiße Schnörkel auf dem Tafelgrün hinterlassen.
Dank Omas schwäbischem Ehrgeiz und auch dank ihrer Bahlsen-Keksdose mit den kreisrunden Schokoladenkeksen darin, war ich in der Lage die Schnörkel an der Tafel zu entschlüsseln.
Dort stand: "Mein Name ist Elfriede Strumpel."
Diese grimassierte nun eine Art Lächeln, wobei sie auf die Fußspitzen wippte, und wieder zurück.
Wäre ich damals ein erfahrener Psychologe gewesen, so hätte ich die Lehrerin für nervös gehalten, für angespannt und auch für aggressiv.
Aber ich war nur ein Schüler von sechs Jahren, der in seiner ersten Schulstunde saß, der brav die Schultasche mit Schiefertafel, Griffel und Schwammdose von daheim zur Schule getragen hatte und der nun hier saß, in der hintersten Bank im ältesten Klassenraum der Dorfschule am Bokelbergsweg.
Auf dem Schulhof hatte mich Johann Mühlstedt begrüßt, der freundliche dicke Hausmeister in seinem grauen Arbeitskittel. Er hatte für die meisten Schüler ein freundliches Wort, verteilte zeitweise halbfreundlich gemeinte Kopfnüsse und kontrollierte in der großen Pause, nachdem er Milch- und Kakaotüten verteilt hatte, die Jungentoillette, die aus einer umlaufenden Rinne an der Wand des Klohäuschens bestand. Johann achtete darauf, daß niemand danebenpinkelte, weil er dann aufwischen mußte. Durch die Kopfnüsse waren wir aber gewarnt und passten auf.
Frau Strumpel wippte jetzt nicht mehr. "Wer kann das lesen?" fragte sie und fixierte dabei einen Punkt an der Wand direkt über mir, aber doch sehr viel weiter weg.
Ich fühlte, wie mir die Wärme den Rücken heraufkroch, gleich würde ich wieder rot werden.
Neben mir in der Bank hatte eben noch die Gaby mit den blonden Zöpfen, die sie mit Gummibändern zusammenhielt, gezappelt. Nun starrte Gaby reglos auf ihre leere Schiefertafel, schien wie erfroren, atmete nicht mehr. Vor der Stunde war sie noch sehr lebendig gewesen, hatte sich fröhlich mit ihrer Freundin Amelie unterhalten, die drei Reihen vor uns saß. Frau Strumpels Blick senkte sich jetzt wirklich auf mich, so als ob sie wußte, daß ich schon lesen konnte.
"Na, Ulli, wie ist es mit dir? Du kannst das doch sicher schon lesen?" Ich schwieg zunächst für einen endlosen Moment, überlegte, ob sie mich wirklich gemeint hatte, spürte den Linoleumgestank in meine Nase kriechen, dann hob ich langsam den Kopf und sagte "Ja".
Meine Mitschüler sahen nun fast alle zu mir her. Nur der dicke Berthold bückte sich nach seinem hinuntergefallenen Griffel, der auf dem Fußboden geräuschvoll auf Frau Strumpel zurollte. Diese stand jetzt mit einem Holzlineal in der Rechten vor Berthold, als er sich wieder aufrichtete. "Hände ausstrecken!" rief sie heiser, er tat es und sie schlug zu. Berthold zog die roten Finger zurück, ohne ein Wort, sein Gesicht verzog sich, die Augen schimmerten feucht.
Frau Strumpel stand bereits wieder an ihrem Pult, ihr Blick war auf Berthold gerichtet, so als wolle sie ein erlegtes Stück Wild kontrollieren, ob es auch wirklich tot war.
Es war stiller als still.
"Nun aber, Ulli!" schrillte die Stimme vom Pult....
"Händchen falten, Schnabel halten!" Bis weit über die letzte Reihe hinaus schallte ihr Ruf. Da stand sie, vorn am Pult, mit einem Kreidestummel in der Rechten. Funkelnde Augen strichen über die Schülerköpfe. Das leiseste Murmeln erstarb unter diesem Blick. Dann sahen wir nur noch ihre blonde Dauerwelle, hörten Kreide quietschen, schreien, atmeten feuchtes Linoleum.
Vor jedem von uns ein grobes Holzpult mit eingefräster Griffelrinne und ausgefrästem Rund, für das erwartete Tintenfass. Die Kreide hatte jetzt geräuschvoll, einmal gar entzweibrechend, mit dem Reststummel sofort weiterquietschend, viele zusammenhängende weiße Schnörkel auf dem Tafelgrün hinterlassen.
Dank Omas schwäbischem Ehrgeiz und auch dank ihrer Bahlsen-Keksdose mit den kreisrunden Schokoladenkeksen darin, war ich in der Lage die Schnörkel an der Tafel zu entschlüsseln.
Dort stand: "Mein Name ist Elfriede Strumpel."
Diese grimassierte nun eine Art Lächeln, wobei sie auf die Fußspitzen wippte, und wieder zurück.
Wäre ich damals ein erfahrener Psychologe gewesen, so hätte ich die Lehrerin für nervös gehalten, für angespannt und auch für aggressiv.
Aber ich war nur ein Schüler von sechs Jahren, der in seiner ersten Schulstunde saß, der brav die Schultasche mit Schiefertafel, Griffel und Schwammdose von daheim zur Schule getragen hatte und der nun hier saß, in der hintersten Bank im ältesten Klassenraum der Dorfschule am Bokelbergsweg.
Auf dem Schulhof hatte mich Johann Mühlstedt begrüßt, der freundliche dicke Hausmeister in seinem grauen Arbeitskittel. Er hatte für die meisten Schüler ein freundliches Wort, verteilte zeitweise halbfreundlich gemeinte Kopfnüsse und kontrollierte in der großen Pause, nachdem er Milch- und Kakaotüten verteilt hatte, die Jungentoillette, die aus einer umlaufenden Rinne an der Wand des Klohäuschens bestand. Johann achtete darauf, daß niemand danebenpinkelte, weil er dann aufwischen mußte. Durch die Kopfnüsse waren wir aber gewarnt und passten auf.
Frau Strumpel wippte jetzt nicht mehr. "Wer kann das lesen?" fragte sie und fixierte dabei einen Punkt an der Wand direkt über mir, aber doch sehr viel weiter weg.
Ich fühlte, wie mir die Wärme den Rücken heraufkroch, gleich würde ich wieder rot werden.
Neben mir in der Bank hatte eben noch die Gaby mit den blonden Zöpfen, die sie mit Gummibändern zusammenhielt, gezappelt. Nun starrte Gaby reglos auf ihre leere Schiefertafel, schien wie erfroren, atmete nicht mehr. Vor der Stunde war sie noch sehr lebendig gewesen, hatte sich fröhlich mit ihrer Freundin Amelie unterhalten, die drei Reihen vor uns saß. Frau Strumpels Blick senkte sich jetzt wirklich auf mich, so als ob sie wußte, daß ich schon lesen konnte.
"Na, Ulli, wie ist es mit dir? Du kannst das doch sicher schon lesen?" Ich schwieg zunächst für einen endlosen Moment, überlegte, ob sie mich wirklich gemeint hatte, spürte den Linoleumgestank in meine Nase kriechen, dann hob ich langsam den Kopf und sagte "Ja".
Meine Mitschüler sahen nun fast alle zu mir her. Nur der dicke Berthold bückte sich nach seinem hinuntergefallenen Griffel, der auf dem Fußboden geräuschvoll auf Frau Strumpel zurollte. Diese stand jetzt mit einem Holzlineal in der Rechten vor Berthold, als er sich wieder aufrichtete. "Hände ausstrecken!" rief sie heiser, er tat es und sie schlug zu. Berthold zog die roten Finger zurück, ohne ein Wort, sein Gesicht verzog sich, die Augen schimmerten feucht.
Frau Strumpel stand bereits wieder an ihrem Pult, ihr Blick war auf Berthold gerichtet, so als wolle sie ein erlegtes Stück Wild kontrollieren, ob es auch wirklich tot war.
Es war stiller als still.
"Nun aber, Ulli!" schrillte die Stimme vom Pult....