die erste Rasur

Wittelsbach

Mitglied
Wir befinden uns mit Klaus (17 Jahre alt) im Jahre 1975 in einem Sommer-Jugendlager.
Er hat das Lager mit seinen MusikKollegen auf einem einsamen Sandplatz mitten in der Lüneburger Heide organisiert, um an Geld für eine Gesangsanlage zu kommen. Drei Wochen lang mit 72 Kindern!
Die Eltern sind davon ausgegangen, dass alles seine Richtigkeit hatte: Jugendleiter-Ausweise, geschultes Personal, Sanitäter, Koch, sanitäre Anlagen. Nichts davon ist vorhanden. Kein Trinkwasser, kein Strom.
Die Jungs haben einfach eine Latrine am Waldrand ausgehoben. Zelte hatten sie beim DLRG ausgeliehen. Ein Bauer brachte Stroh vorbei. Der Geländewart eines Campingplatzes liefert alle paar Tage Wasser und haltbare Lebensmittel mit seinem Traktor über schmale Wirtschaftswege. Und kochen muss dummerweise Klaus, der eigentlich nur Pfannekuchen kann.
Niemand ist im Moor verloren gegangen, niemand ist verhungert oder verletzt worden. Noch Jahre später bekommt Klaus begeisterte Briefe von Teilnehmern, die inzwischen selber mit Kindern gesegnet sind.

Nur so nebenbei: mit dem Ende der Sommerferien hat sich die Band aufgelöst.
Nur so nebenbei: mit einer der Teilnehmerinnen ist Klaus immer noch glücklich verheiratet.
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--Wer sich einen Bart wachsen lässt, um damit Weisheit anzudeuten, muss sich sagen lassen, dass dann jeder alte Ziegenbock ein Philosoph ist!-– Lukian von Samosata, der um das Jahr 120 in der römische Provinz Syria gelebt hatte. Bekannt geworden ist er durch den allerersten Science-Fiction-Roman der Welt, Die Luftreise – Eine wahre Geschichte, in dem bereits alles vorhanden ist. Flug durch das Weltall, Erstkontakt mit Aliens, Interplanetarer Krieg und Kolonisierung anderer Planeten.
Ich aber konnte auch bartlos weise sein!
Denn heute war mein Erstkontakt! Heute wollte ich mich endlich rasieren!
Leider gibt es in meinem Leben kein weibliches Wesen, das meine neue glatte Haut bewundern könnte, niemanden, der darüber hinweg streichelte! So allein zu sein, ist nicht schön.
Auch wenn Trainer gestern beim Einräumen der Kochutensilien meinte, vor mir würde das große Abenteuer der Frauenwelt liegen, alles wäre möglich, mein Leben wäre super spannend. Ein billiger Trost, während er unserer guten Tanja liebevoll über den Arm streichelte.
Irgendwie hatte er schon Recht. Wie würde mein nächstes Mädchen aussehen? Lange glatte, blonde Haare? Oder gewellte? Grübchen? Längliches Gesicht oder mehr ein rundes? Ein Birnen-Popo, oder eher Apfel? Wird sie witzig sein und den gleichen Humor haben wie ich? Wird sie so intelligent sein wie Schwester Christiane? – Wo ist dieses Mädchen, was macht sie gerade?
Ich stellte das Geschenk von meinem alten Herrn auf einem Schemel vorm Gänsestall ab.
Der Wilkinson Rasierhobel. Ein kleines Pappmäppchen, ebenfalls mit Wilkinson beschriftet. Der Rasierpinsel aus weißlackierten Holz mit Wildschweinborsten. Die Rasierschale aus Porzellan. Der kleine Klappspiegel. Die Rasierseife. Der Block aus Alaun. Eine braune Pappschachtel mit etwas Schwerem darin. Russisch Leder steht drauf. Wahrscheinlich ein Ledertuch, um das Messer zu wetzen.
Wie bei jeder Operation war erst einmal heißes Wasser vonnöten.
Und schon pfiff der Wasserkessel über dem Lagerfeuer und lockte Gesine herbei. „Ah, – der Herr kocht sich zur Abwechslung einen Tee! Immer nur Bier ist ja auch langweilig!“
„Nix da! Heute wird rasiert! Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du mir den Spiegel halten!“
„Um dir dabei zuzuschauen, wie du dich massakrierst? Ich kann den Anblick von Blut nicht ertragen!“
„Dafür wärst du die erste, die über meine zarte Haut streicheln darf!“ Ich schäumte die Seife im heißen Wasser auf.
„Und wovon träumst du Nachts?“
„Dass du mir den Rasierspiegel hältst. Außerdem könntest du sofort Verbandszeug holen, wenn ich verblute.“ Mit dem Wildschweinpinsel spachtelte ich den Seifenschaum auf eine Gesichtshälfte.
„Scheiße!“ sagte ich. „Das ist heiß!“
„Im Allgemeinen signalisiert das Pfeifen eines Kessels genau diesen Zustand. Und in dieser Sonne kühlt der auch nicht merklich ab!“
„Gehen wir in den Schatten unter der Plane am Küchenzelt. Hier ist es zu hell. Die Sonne blendet.“ Ich steckte den Rasierhobel in den Gürtel meiner Jeans, den Pinsel mit dem Griff voran in die Hosentasche, den Pappkarton klemmte ich unter den Oberarm. Hocker und Kessel trug ich, Gesine den Rest. Wobei ihr die Seife zweimal in den Sand fluppte. – Toll, – was das Messer nicht schaffte, würde mit Sandseife hinweggescheuert werden!
„Ich muss bekloppt sein!“ murmelte Gesine. „Mit einem halben Weihnachtsmann über den Lagerplatz zu schlurfen! Warum erlebt man mit dir eigentlich immer so komische Dinge?“
„So viel haben wir doch noch gar nicht zusammen erlebt! Leidlicherweise!“
„Ich weiß aber, was die anderen erzählen. Und ich weiß noch, wie du Tanja mitten in der Nacht ins Moor gelockt hast. Heulend stand sie dann bei uns in den frühen Morgenstunden vor unserer Wohnwagenburg.“
„Wo ihr Monopoly gespielt habt! Darf man auch keinem erzählen!“
„Man kann das kapitalistische System nur bekämpfen, wenn man es kennt!“ verteidigte sich Gesine.
„Und dafür reicht ein Spiel wie Monopoly völlig aus. So, – nochmal Seife aufschlagen. Ja, – der Sand hat was.“ Ich schäumte auch die andere Wange und das Kinn ein.
„Jetzt der Hobel. – Der ist aber stumpf!“
„Ich will nichts sagen, aber meiner Meinung nach müssen da Rasierklingen rein. Ohne Klingen dauert es etwas länger!“
„Was macht ihr denn da?“ fragte Patricia vom Seewall herunter.
„Das ist der Weihnachtsmann, der heute am Lagerfeuer seine Bescherung machen wird!“ sagte Gesine. „Aber verratet niemanden, dass hinter dem Schaum Onkel Klaus steckt!“
„Das haben wir doch sofort gesehen!“ meinte Isabella. „Aber eigentlich passt die Jahreszeit noch nicht! Andererseits macht Onkel Klaus immer so komische Sachen! Mich hat er mal für einen Engel gehalten.“
„Könnt ihr nicht alle ruhig sein? Wie soll ich mich hier konzentrieren? Irgendwo müssen die Rasierklingen sein. Vielleicht in dem Heftchen hier. Vorsichtig anfassen. Die Klingen sind bestimmt scharf!“
„Ich habe das Briefchen gefunden.“
„Ich bin zu glibbschig, kannst du eine Klinge in den Hobel einsetzen?“
„Mit der Rändelschraube kann ich die Bäckchen öffnen, jetzt vorsichtig hinein setzen, bitte sehr. Und nun der Spiegel. Ist es dem Herrn so genehm?“
„Wenn man davon absieht, dass du mir gerade das Auge weggeätzt hast!“ Auf der Netzhaut hatte sich ein Reizmuster eingebrannt. Das Letzte was ich gesehen hatte, war Gesine. Jetzt verformte sich der rote Gesine-Fleck hinter meinen Augen zu einem Knutschmund und ich lachte.
„Was ist?“ fragte Gesine.
Ich erklärte ihr das Netzhaut-Phänomen.
„Du hast auch ohne Drogen immer deinen Spaß, was?“
„So ist gut, jetzt blendet der Spiegel nicht mehr.“ sagte ich. „Mache ich es richtig?“ Ich zog die Rasierklinge über die Haut.
Die Kinder hatten sich zum Glück getrollt, sie konnten wohl auch kein Blut sehen.
„Auf deiner Haut sehe ich keinen Unterschied zu heute Morgen. Vom Seifenschaum abgesehen. Wie eine Schneelandschaft, durch die der Schneepflug eine Schneise gefahren hat.“
Ich verzog meinen Mund zur Seite, um die Haut um die Mundwinkel zu straffen.
„Bleib so!“ meinte Gesine. „Endlich siehst du auch mal annehmbar aus. Aber jetzt quillt Blut hervor!“
„Laut Seneca ist die erste Rasur ein heiliges Ritual! Damit bin ich erwachsen. Und somit ist das bisschen Blut nur ein billiges Opfer!“
„Ich kenne die Textstelle auch aus dem Lateinbuch!“ sagte Gesine grinsend. „Und weiter heißt es: Nach dem Entfernen der ersten Bartstoppeln gibt der frisch rasierte junge Mann sein Kinderspielzeug ab!“
„Du verstehst nicht den feierlichen Ernst der Lage! Und wo ist das frische Handtuch?“
„Halt dein Gesicht in die Sonne. Wir verschmieren kein frisches Handtuch mit deinem Blut. Außerdem ist frisches Handtuch hier im Lager wohl eine völlig falsche Wortwahl. Du sammelst doch falsche Wortwahl-Worte in einem Holzkasten? Habe ich von deiner Schwester erfahren. Was ist denn mit dem Ledertuch? Da steht After Shave drauf. Und ich vermute, das Zeug ist nicht für deinen Hintern gedacht!“
Die untere Hälfte des Kartons ist mit einer Ledertextur bedruckt, die obere schwarzglänzend mit drei wilden Reitern im vollen Galopp. Der hintere Kosake schwingt die Peitsche, der vordere trägt das Rasiermesser. Das schwarze Teil ließ sich aufklappen. Ich zog einen weißen Porzellan-Flakon heraus. Als Gesine meinen ratlosen Gesichtsausdruck bemerkte, nahm sie mir die Flasche ab und drehte den schwarzen Verschluss auf.
„Hand auf und dann im Gesicht verreiben!“ forderte sie mich auf.
„Mit meinen dreckigen Pfoten? Ist das Wasser immer noch so heiß?“ Ich neigte den Wasserkessel und kippte einen kleinen Strahl in den Sand. Vor die Füße eines Hirschkäfers, der da gerade auf mich zu stiefelte. Er durchquerte unbeirrt die Pfütze.
„Kannst mir einen Schwung über die Hände kippen.“ forderte ich Gesine auf.
Ich hielt meine Hände auf. „Eiha, das ist heiß! Und nun das russische Zeug!“
Gesine gab mir etwas aus dem Flakon und ich rieb die Flüssigkeit von Ohr zu Ohr.
Ich stöhnte auf, das brannte ganz unerwartet.
„Immer diese harten Männer!“ Gesine schüttelte den Kopf. „Aber es riecht gut. Als wäre es für dich gemacht. Leder, Zitrone, Nelken. Bei dir riecht es animalisch! Da kann bei Frauen die Kontrolle aussetzen!“
„Ich rieche nur Moose und Farne und irgendetwas Mumifiziertes aus Ägypten!“
 



 
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