Die Extraktionen

Vom hochgelegenen Wartezimmer geht der weite Blick bloß über einen Friedhof. Wie sinnig, denkt der Patient und unterhält sich damit, Thomas Mann aus dem Gedächtnis still für sich zu rezitieren. Der Zahnarzt damals: Wir müssen zur Extraktion schreiten. Und der Senator darauf: Schreiten Sie nur … Nachher wird es in Lübeck heißen: Man stirbt doch nicht an einem Zahn … So oder ähnlich, er will die Stellen zu Hause nachschlagen. Mein Gott, er war um zehn vor zwölf bestellt und jetzt ist es schon halb eins!
Als er eine Stunde gewartet hat, geht es auf einmal hurtig voran. Die Sprechstundenhilfe placiert ihn im Operationszimmer, in dem der mittlere Fensterflügel weit offen steht. Am geschlossenen daneben irrt eine späte Wespe auf und ab. Die Helferin versucht, das Tier hinaus in die Freiheit zu scheuchen. Dabei nähert sich ihre flache Hand dem Insekt immer von hinten und treibt es so bloß die Glasscheibe hinauf. Er würde am liebsten aufstehen und es selbst besorgen. Man muss von oben kommen, am besten mit einer Zeitung, und die Wespe nach unten zwingen, bis sie unter dem geöffneten Flügel hindurch flüchten kann. Nach ein, zwei Minuten ist das Insekt klüger als seine Dompteuse und verschwindet im Novembergrau draußen.
Der Oralchirurg betritt die Szene, vergewissert sich, welche Zähne gezogen werden sollen – Ach, der mittlere auch? - und setzt die Betäubungsspritzen. Er wartet die Wirkung nicht lange ab: Sagen Sie, wenn es noch weh tut … - Und ob! Der Patient spürt den Zahn wie in einen Schraubstock gezwängt und zugleich hin- und hergerissen. Das scheint ihm die reinste Knochenmühle zu werden … In ihr werden gerade vitale Reste zermahlen, ungeheurer Druck wird ausgeübt, es ist alles vernichtende Gewalt, der Schmerz immer extremer. Er gerät in Panik und hebt die rechte Hand und der Chirurg lässt links von ihm ab, um denselben Ansatz nun rechts zu verfolgen. Erneut und verstärkt beim Patienten die Vorstellung, wie alles Lebendige schließlich zertrümmert werden muss unter dem Ansturm vernichtender Allgewalt. Er gibt noch einmal das Zeichen. Der Arzt und seine Helferin scheinen sich danach, um ihn zu schonen, mit Vorbereitungen zu begnügen, streichen bloß an seinem Unterkiefer entlang, glaubt er. Die Zunge und die Unterlippe prickeln, die Betäubung ist da, und nun hört er, dass die Arbeit schon getan ist. Fünf Zähne gezogen in alles in allem nur fünfzehn Minuten.
Die Wattebäusche in seinem Mund zwingen ihn zur Zeichensprache. Nein, er wird nicht zum Fädenziehen kommen, das erledigt die Zahnärztin drüben. Der Chirurg und das übrige Personal entlassen ihn in erleichtertem, mitleidigem Ton: Überstanden, alles Gute … Er nimmt die U-Bahn quer durch die Stadt, vom äußeren Norden bis weit in den Osten. Er muss umsteigen und hält sich für durchaus belastbar. Ihm wird es nicht wie Thomas Buddenbrook ergehen. Am Strausberger Platz fühlt er es unter der Maske – sie ist noch Pflicht in der Bahn – heraussickern. Blut wird es sein, aber keiner starrt ihn an. Zu Hause entsorgt er die blutgetränkte Maske und wischt sich den roten Kranz vom Hals. Der Kopf ist noch dran.
Nun ist er bereits Rekonvaleszent, sagt er sich und ist zu stolz, ein Schmerzmittel zu nehmen. Er versucht zu lesen, doch die Gedanken schweifen oft ab. Er fühlt in sich unklar ein allgemeines Bedürfnis, Erhaltenes zu bewahren, Zerstörtes, wenn möglich, wiederaufzubauen. So überlässt er sich wieder dem alten Spiel, seinen Lebensweg zu rekonstruieren, indem er alle seine Wohnungen, seine Zimmer Revue passieren lässt. Das ist eine lange, stattliche Reihe von Unterkünften. Sie bestätigt ihm, er ist ein Mann mit einer Geschichte und er kann noch voll über sie verfügen. Er baut im Geist an dieser Stadt aus Häusern mancher Städte wie an einem Wall, der ihn schützen soll vor jenem vernichtenden Angriff, von dem er heute einen Vorgeschmack erfahren.

Damals sagte seine Oma manchmal: Ich erkenne dich daran, wie du die Tür öffnest, wie du dann die Stufen heraufgehst, da weiß ich schon, dass du es bist. - Die Haustür ihres Reihenhauses von 1920 war in seiner Kindheit nie abgeschlossen, wenn einer daheim war. Manchmal kamen ganz Fremde durch diese Tür ins Haus, sie waren meist unbemittelt. Durstige arme Frauen baten um etwas zu trinken, sie bekamen eine Tasse Leitungswasser. Bitten um Geld wurden immer abschlägig beschieden: Wir sind nur Sozialrentner, sagte Oma dann. Dieses Haus ist sein Geburtshaus wie schon das seiner Mutter. Hier hat er einen Teil der Kindheit verbracht. Er wird es nie mehr betreten, es ist seit langem in fremden Händen. Als er zum letzten Mal dort hineinging, war Oma schon Witwe, lebte allein und verschloss die Tür stets von innen. Er musste klingeln. Er erkannte ihren Schritt wieder, während sie die Stufen drinnen herabkam, aber sie erkannte ihn nicht mehr, als sie geöffnet hatte. Was wollen Sie, wer sind Sie, fragte sie, sein Gesicht misstrauisch mit den Augen abtastend. - Er war schockiert. Noch beim Besuch ein Jahr davor war er ihr einziger, sehr lieber Enkel gewesen. - Weißt du nicht mehr, wer ich bin? - Sie erkannte ihn auch nicht an der Stimme und schüttelte den Kopf. Erst als er seinen Namen genannt hatte, begriff sie und ließ ihn ein. Das Gespräch mit ihr war mühsam. Er sprach ihren Dialekt nicht mehr und sie verstand Hochdeutsch kaum noch. Er ließ sie reden. Sie beklagte sich über ihn und seine Mutter: dass sie so ganz anders lebten als von ihr gedacht. Sie selbst sei krank, einsam … Und dann ein Ausbruch: Du wärest jetzt besser nicht gekommen! - Er wollte sich zurückziehen und stand auf und sie fragte: Wann kommst du wieder? - Er: Nicht mehr, wenn dir mein Besuch so unangenehm ist. - Er verließ das Zimmer rasch, schloss nicht einmal dessen Tür und als er die kleine Treppe hinabging und die Haustür öffnete, vernahm er hinter sich ein Geheul nicht wie aus Menschenmund, eher wie von einem waidwunden Tier.
Seine Mama sagte später: Als wir damals von den Großeltern wegzogen, solltest du vorerst noch bei ihnen bleiben. Aber dann war alles auf den Pritschenwagen geladen und du wolltest unbedingt mitkommen. Du bist auf den Wagen geklettert und einfach mitgefahren, es hat dir so viel Spaß gemacht … Du warst noch keine vier, aber schon damals bist du gern umgezogen. - Sie wohnten dann in einer einsam gelegenen alten Baracke und Oma Erna bekam zwei Räume für sich. Mama misstraute ihrer Schwiegermutter, auch Papa wirkte distanziert. Man verkehrte recht förmlich miteinander. Stubenfliegen waren dort eine Plage und Mama nebelte die Räume mit einem Gift ein und nahm ihn mit in den Garten, auf die Felder oder in den Stall. Kamen sie zurück, lag ein schwerer süßlicher Duft über allem und die Masse der Fliegen tot auf dem Boden. Es gab nur einen Herd, neben zwei schlecht funktionierenden Zimmeröfen, und Oma Erna kündigte es vorher groß an, wenn sie auf ihm kochen wollte. Sie erhitzte dort auch ihre Brennschere und auf diese heiße Herdplatte stürzte sie später, als sie die Baracke allein bewohnte, bei einem Schlaganfall. Er, unser Rekonvaleszent heute, war damals längst fern im Norden und erfuhr davon, wie etwas später vom Tod seiner anderen Oma, nur aus Briefen. Wenn er wieder einmal bei den Eltern war und allein sein wollte, ging er auch um die verödete Baracke herum, die keiner mehr betrat, und durch den überwucherten Garten.
Seine Eltern hatten ein neues Haus ganz in der Nähe gebaut. Es schien damals auch Ortsgespräch zu sein. Ein Mädel aus seiner Klasse sprach mit leicht höhnischem Tonfall vom „neuen schönen Bungalow da oben“ und Opa sagte vor dem Enkel, das Haus stehe in keinem Verhältnis zu ihrer sonstigen Lage. Er selbst ist dort nie recht heimisch geworden und früh weggegangen, nur danach oft zu Besuch gekommen. Als Mama Witwe war, gab sie ihm Papas vergoldete Armbanduhr. Er trug sie bloß ihr zuliebe, als er für einen Tag aus der Pfalz herüberfuhr, in seinem Jahresurlaub dort. Mama zeigte nicht, dass sie es kränkte, ihn nur einen Tag bei sich zu haben – er wusste es ohnehin. Am Spätnachmittag schien nach einem Blick auf die Armbanduhr noch genügend Zeit für letztes Plaudern, ehe er zum Bus Richtung Hauptbahnhof aufbrechen musste. Dann las er auf der Wanduhr die wirkliche Zeit ab, die schon zwanzig Minuten weiter vorgerückt war. Das Erbstück am Handgelenk war gerade in dieser Stunde stehengeblieben. Er raffte in großer Eile alles zusammen, nahm hastig Abschied von Mama, ohne dass beide ahnten, dass es für immer war, dass sie sich bald auf Dauer entzweien und nicht mehr begegnen würden.

Am Spätnachmittag ruft Sascha an: Du lebst also noch? - Er lässt sich schnell beruhigen und verspricht, morgen für einige Tage zu kommen. Dann wolle er sehen, wie es mit dem Essen klappe, was eingekauft werden müsse. - Heute gibt es Sojajoghurt und Kartoffelcremesuppe, sagt der Extrahierte, so nennt er sich selbst, sprachlich wohl inkorrekt, und er denkt schon daran, wie er die Zeit ausfüllen könne, im Fall von Schlaflosigkeit. Die Nachblutung ist inzwischen viel schwächer geworden.

Aber so hatten wir uns das nicht gedacht, sagte die Frau aus Mannheim. Wir sind nur an einem langfristigen Untermieter interessiert und nun wollen Sie doch bloß ein Semester bleiben … Jetzt hat der Markt sich leider verlaufen. Was denken Sie denn, ich bin doch keine gewerbsmäßige Vermieterin ... - Es war erst Spätherbst und bis zum Frühjahr noch lang. Also schoben sie ihn in das Gästezimmer im Keller ab und suchten für das Zimmer der Tochter – sie studierte im Ausland – einen aussichtsreicheren Nachmieter, erfolglos. Trotzdem blieb er lieber unten. Da hatte er seine eigene Dusche und Ruhe vor diesem Ehepaar, das geräuschvolle Auftritte liebte. Der Mann war höherer Beamter bei der Stadtverwaltung und er sah von ihm jetzt nur noch Schuhe und untere Hosenbeine, wenn der Hausherr durch den Garten zur Mülltonne ging. Tageslicht fiel in die Kammer allein durch diese zwei Kellerfenster, meist war die Deckenlampe eingeschaltet. Der zum Studienabbruch schon Entschlossene las dort wieder viel. Seine Unterkunft passe gut zu seiner Lage, fand er, und wohltuend sei diese Harmonie. Lieber war er jedenfalls da unten als in einem Hörsaal. Einmal besuchte ihn Sigurd, der mit ihm nach Mannheim gekommen war. Der Schulfreund war vom Studium ebenso enttäuscht, fand aber rascher einen Ausweg aus seiner Misere, indem er sich politisch radikalisierte und das Fach Psychologie sich selbst überließ. Er spottete über die kleine Büchersammlung des Kellerbewohners: Lauter Entwicklungsromane, ausschließlich, von Grimmelshausen über den Grünen Heinrich und den Nachsommer bis zum Zauberberg … Mein Lieber, was liest du dir da alles zusammen und wie lebst du denn eigentlich selbst?! - Er schied ohne Bedauern von Mannheim und dem Aufblick zu unteren höheren Beamtenhosenbeinen und erfuhr viel später, er hatte dort im Parterre ein paar Wochen lang im Jugendbett einer künftigen Selbstmörderin geschlafen: spektakulärer Fall für die Presse.
In Stuttgart war vieles anders und es endete dennoch mit weiterer Flucht. Er wohnte dort hoch über der Stadt im oberen Stockwerk einer älteren Villa, prachtvoll die Aussicht, nur nicht die über seine persönliche Lage; sie blieb unbefriedigend, verworren. Das Anwesen gehörte einer Sängerin, die wegen eines Brustleidens schon lange nicht mehr öfffentlich auftrat, dafür Gesangsstunden gab. Kehrte er nachmittags heim aus dem Amt, in dem er zunächst nur hospitierte – wenn auch gegen Bezahlung -, dann drangen oft die Koloraturen mehr oder weniger begabter junger Frauen wie verzerrte Hahnenschreie durch alle Winkel der Villa. Die alte Sängerin lud noch gelegentlich Freunde zu von ihr allein bestrittenen Liederabenden ein. Dazu gebeten wurden auch ihre zahlenden Hausgäste, es gab immer vier oder fünf. Zu ihm, dem Jüngsten von allen, sagte sie beim ersten Mal vorher: Wenn meine anderen Gäste Sie darauf ansprechen, dann sagen Sie bitte nicht, dass Sie bei mir zur Untermiete wohnen. Sie sind einfach ein Gast von mir, wie alle anderen auch. - Sie konnte sich wohl nicht vorstellen, wie sehr ihr diese kleine Eitelkeit in seinen Augen schaden musste. Oder kam es auf seine Meinung von ihr gar nicht an? Sie war religiös und fühlte ihm insoweit bei ihrem Abschiedsgespräch auf den Zahn: Und wie steht es mit Gott? Beten Sie zu Gott, beraten Sie sich wenigstens mit Gott? - Ich bin kein Christ. - Ja, was denn sonst? Doch nicht etwa Atheist, in Ihrem Alter weiß man noch nicht, was das bedeutet. - Nein, auch kein Atheist. Er sagte, er sei Agnostiker. Sie stutzte, schwieg einen Augenblick und sagte: O, etwas ganz Besonderes. Und so einen habe ich ein halbes Jahr hier im Haus gehabt. Nun, denken Sie wenigstens ab und zu an Gott. - Er stieg auf in den Himmel über Stuttgart und landete unter dem Himmel über Berlin.
Das Hinterhaus nannte sich Gartenhaus, obwohl kein Garten vorhanden war, dafür der Kurfürstendamm gleich um die Ecke. Wenn er morgens zum Bus ging, kam er bald an einer Gedenktafel vorbei und dachte dann manchmal an Robert Musil, der in diesem Haus am „Mann ohne Eigenschaften“ geschrieben hatte … Abends unterwegs in die Bars an der Kleiststraße ging er über den Wittenbergplatz und warf gewöhnlich einen Blick auf die Tafel für die Opfer von Auschwitz, Maidanek und Treblinka: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen, stand auf ihr geschrieben. Fräulein S., ihre Wirtin, sei Jüdin und lebend aus einem Lager herausgekommen, vertraute ihm daheim eine Mitbewohnerin an. Die alte Dame war nahe an die achtzig und herzleidend und hatte den größten Teil ihrer Riesenwohnung untervermietet. Fräulein S. bewohnte den Raum, der seinem Zimmer gegenüber lag. Rechts von ihm lebte ein älteres Ehepaar; er war halbseitig gelähmt, man hörte ihn einige Male am Tag vorüberstampfen, wenn er ins Bad geführt wurde. Selten begegnete der Neue ihm einmal auf dem Flur, dann grüßte der Alte heftig grimassierend; er hatte die Sprache vollständig eingebüßt. Auf der anderen Seite logierte ein weiterer junger Mann. Ihre Zimmer waren durch eine Tapetentür getrennt, und ohne eigentlich zu lauschen, wenn der Nachbar Herrenbesuch hatte, blieb ihm doch bald kein Zweifel, dass auch er homosexuell war. Das sehr große und düstere Berliner Zimmer, in dem das Telefon stand und das auf dem Weg zur Küche zu passieren war, benutzten alle gemeinsam. Durch eine Gebäudelücke sah unser junger Mann von seinem Zimmer auf ein Nachtlokal im Parterre eines Hauses an der Fasanenstraße. Wenig aufdringlich und beinahe trauliche Atmosphäre verbreitend, strahlte die rote Außenbeleuchtung der Bar schon in die trüben Berliner Winternachmittage hinein. Auch sein Zimmer war geräumig und sehr hoch und wies zum Teil schöne alte Möbel auf. Zwischen den beiden Fenstern hing ein hoher Spiegel, eingerahmt von bemaltem Schnitzwerk. Vergoldete Vögel pickten nach goldenen Früchten – Andeutung oder Vorahnung eines Paradieses? Um auf ihren Tod zu warten, zog die alte Vermieterin im Jahr darauf zu Verwandten ins Süddeutsche und löste ihre Wohnung auf. Auch er, von dem hier die Rede ist, musste sich etwas anderes suchen.
Bei Fontane wohnt schon Effi Briest, mit der es dann auch kein gutes Ende nahm, in der Keithstraße. Es ist eine Seitenstraße der Kleiststraße, nahe dem Wittenbergplatz, für den jungen Mann abends noch günstiger als die vorige Unterkunft gelegen. Er zog dort in ein Institut, das sich Boardinghaus nannte. Die Gebräuche in ihm muten heute seltsam an. In den winzigen möblierten Appartements gab es kein Telefon nach draußen. Wer zu sprechen gewünscht wurde, den rief die Concierge per Hausapparat an den großen in ihrer Loge im Parterre. Und dann fasste man sich lieber kurz. Die Mieter oder vielmehr Gäste besaßen auch keine Haustürschlüssel. Wenn er um vier Uhr morgens aus den Bars nach Hause kam, musste er klingeln. Oft hatte die Concierge selbst die ganze Nacht mit Freunden durchzecht und öffnete ihm mit schrillem Lachen. Lachte sie über ihn? Sigurd, noch immer in Mannheim und manchmal zur Agitation nach Berlin geschickt, besuchte ihn dort zweimal. Sie waren sich noch fremder geworden. Sein Weltbild kannte keine Grautöne mehr: Proletariat oder Kleinbürgertum, historisches oder ahistorisches Bewusstsein, anbrechende oder untergehende Epoche, er hatte nur zwei Rollen zu besetzen und er allein teilte sie zu. Nach der letzten Nacht mit ihm, sie hatten sich lange gestritten, verfasste jeder seinen Scheidebrief an den anderen. Gern verließ Sigurds Exfreund nach einem Dreivierteljahr seinen Vogelbauer dort für immer. Das Haus, obwohl erst in den Sechzigern gebaut, steht schon nicht mehr. Das erfüllt ihn jetzt mit Befriedigung.
Seine dritte Bleibe in der Stadt war ein großes Zimmer im obersten Stock eines Gründerzeithauses nahe dem Hohenzollernplatz. Die Wohnungen waren fast alle aufgeteilt, die Zimmer mit Kochecke ausgestattet und „Teilwohnung“ genannt, das Bad gemeinsam, nur das Parterre komplett an eine große Familie vermietet. Dieser Teil von Wilmersdorf war und ist noch immer eine auf unaufdringliche Weise noble Gegend. Als er Jahrzehnte später wieder vor dem Haus stand, stellte er außen keine großen Veränderungen fest. Doch war stark zu vermuten, dass keiner der damaligen Bewohner noch dort lebte. Und selbst wenn – jene stattlichen jungen Familiensöhne aus dem Erdgeschoss mussten inzwischen selbst alte Männer sein. Er sah an der Fassade hoch und es fiel ihm Bastian ein; war jahrelang sein bester Schulkamerad gewesen. Auch er war zu Besuch gekommen, nur einmal, sie hatten nicht gestritten, sich nur nicht mehr viel zu sagen gehabt. Bastians Exkamerad ging jetzt schnell fort.
Damals in Berlin hatte er endlich Anschluss gefunden, hatte Freunde und einen großen Bekanntenkreis. Beruflich war er schon installiert und hatte genügend Mittel für eine erste eigene Wohnung. Nach Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf kam nun Moabit an die Reihe. Danziger, ein Theaterregisseur in den Dreißigern, hatte es ihm vermittelt. Es war, im übertragenen Sinn, morastiges Gelände, in das er sich vorwagte. Der faktische Inhaber der möblierten Zweieinhalbzimmerwohnung war ein junger Schauspieler, der trotz langfristigen Engagements in München das Berliner Nest nicht auf Dauer aufgeben wollte. Dabei war er vom Vermieter nur geduldet, dessen Vertragspartner war tatsächlich des Künstlers Stiefvater, den er erst exmittiert und mit dem er dann einen Vergleich geschlossen hatte: Der Heimatvertriebene galt weiter als Mieter der Lastenausgleichswohnung, durfte sie nur nicht selbst nutzen. Die Details des kuriosen Handels gingen aus der Akte hervor, die der Unteruntermieter in einer Schublade fand. Berlin bedeutet ja Ort im Sumpf, damit war sich abzufinden. Der Blick ging über den Stadtbahnviadukt auf den Tiergarten. Er wurde noch geselliger, nahm seinerseits einen Drittuntermieter auf und beide brachten ihre kurz- oder mittelfristigen Kontakte und Freunde mit in die Wohnung. Einer blieb im letzten Moment draußen. Er hatte ihn in einem Lokal am Savignyplatz kennengelernt und sie fuhren in dessen Wagen nach Moabit. Spätestens beim fahrig-unsicheren Umrunden der Siegessäule war klar, dass der Fahrer stark alkoholisiert war und das auch mit seiner scherzhaften Frage nicht überspielen konnte: Bist du deines Lebens noch sicher? - Sie erreichten zwar die Straße am Viadukt, doch beim Rückwärtseinparken touchierte der Wagen einen anderen, es klirrte gewaltig hinter ihnen in der Stille der Morgendämmerung und der Fahrer startete gleich wieder durch. Dann stiegen sie in der damaligen Einöde am Reichstag aus und besahen den eigenen Schaden. - So habe ich mir das nicht gedacht mit dieser Restnacht, du bist zu betrunken, trennen wir uns lieber, sagte der Neu-Moabiter und der andere hielt Ausschau nach einer Taxe. Sie begegneten sich nie mehr.
Er überwarf sich mit seinem Wohnungsgenossen, schmiss ihn raus und suchte selbst die nächste Wohnung, bevor es ihm auch so ergehen könnte. In der Keithstraße war ein Neubau gerade bezugsfertig. Er ließ Möbel kommen, zog ein und empfing Woche um Woche immer neue Gäste, Inländer und Ausländer, Skandinavier, Neuseeländer, Schweizer, Österreicher, US-Amerikaner … Manche waren nur eine Nacht da, andere kamen öfter. In seinem vierten Jahr dort und dem achten in Berlin war Sascha darunter. Und dann hieß es bald: entweder auf Berlin verzichten oder Sascha aufgeben. Also wechselte er Stellung, Wohnung und Stadt.

Sascha ist jetzt gekommen, heute, sieben Wohnungen später. Er will wissen, ob der Extrahierte zu Mittag wohl Fischfilet essen könne. - Das sollte gehen. - Sascha macht sich auf die Suche nach Rotbarsch. Der mit seiner Rekonvaleszenz Beschäftigte folgt weiter dem eigenen Zickzacklebensweg. Er formuliert schon Sätze, gibt Text ein. Er hat eine Vorstellung, wie das Ergebnis der Textproduktion sinnhaft erscheinen könnte. Ob die Idee trägt?

In Hamburg änderte sich manches für ihn, mehr zum Guten als zum Schlechten. Einiges blieb so, wie es in Berlin gewesen war. Er ging weiter viel aus, machte häufig neue Bekanntschaften. Einer sagte anerkennend: Gleich deine erste Wohnung hier ist in Winterhude? Na, da hast du ja schnell begriffen, wo man in Hamburg wohnt … Von den Bars war er mit einem Taxi nachts in ein paar Minuten zu Hause. Sascha hatte geholfen, die Wohnung zu renovieren. Sie hatte nur Ofenheizung und der Ofen in der geräumigen Küche ließ sich nicht mehr in Betrieb nehmen, da der Kamin mit Ruß verstopft war. Eiskalt war es im Winter auch im Schlafzimmer, nur das kleine Wohnzimmer ließ sich noch erwärmen. War er mal ein, zwei Tage abwesend, sackte auch dort die Temperatur bis auf zwölf Grad Celsius ab. Jeden Sommer kam ein Freund aus Wien zu Besuch, den er von ihrer gemeinsamen Zeit in Berlin her kannte. In dieser Wohnung empfing er die Nachrichten vom Tod erst der einen, dann der anderen Großmutter. Eine Erbschaft ermöglichte den Kauf einer besseren Wohnung im Westen der Stadt. So schnell es nur ging, zog er nach Eimsbüttel.
Die nächtliche Taxiheimfahrt von St. Georg war doppelt so lang geworden. Es ging nun erst über die Lombardsbrücke mit der Sicht über die Wasser rechts und links. Für die nächtliche Kulisse der Geschäftsstadt drüben hatte er bald keinen Blick mehr; schon zu oft gesehen, aus der Distanz wie aus der Nähe. Ihre illuminierte Silhouette schien zwar über dem Wasser zu schweben wie das sommerliche Bühnenbild von Seefestspielen, in Bregenz zum Beispiel. Nur fehlte der Feuerwerkszauber und die Proportionen stimmten auch nicht. Rund um die Binnenalster zu viel Bebauung für so wenig Wasser. Dass diese Massen nicht einfach im Marschboden versanken: Wunder der Technik. Die sanierte Parterrewohnung in einem Haus von 1902 wurde für länger sein Zuhause, als es irgendeine Unterkunft vorher gewesen war. Es gab jetzt auch ein Gästezimmer. Er ließ alte Möbel aus der Baracke daheim kommen, Oma Ernas Ausstattung von 1912. Der Österreicher kam wieder jedes Jahr und er selbst reiste ab und zu nach Wien. Manchmal fragte er sich: Fühlt sich so die Mitte des Lebens an? Aids wurde langsam ein großes Thema. Manche, die er kannte, starben. Der Wiener war auch darunter. Als er die Todesnachricht bekam, weinte er kurz, vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben; das aber, angepasst an die Verhältnisse, für ihn weiterging. Allmählich sah er sich weniger als Akteur denn als Beobachter. Seine Wohnung hatte keine Rollläden und er verzichtete von vornherein auf Vorhänge. Transparenz nach allen Seiten war ihm jetzt wichtig. Vom Wohnzimmer sah er auf die viel begangene, schmale und zu hoch umbaute Nebenstraße, wo er von seinem Esstisch alles draußen im Blick hatte, zwischen den Blättern einer Monstera hindurch. Umgekehrt wurde das Zimmer, wenn es abends hell erleuchtet war, zur Bühne für ihn wie für seine Besucher und die Straße zum dunklen Zuschauerraum. Er wurde sich bewusst, zwischen lauter Kulissen zu leben, die fortgeschoben werden konnten. An einem extrem kalten Januarmorgen kam der Umzugswagen. Sie luden vier bis fünf Dutzend Kartons ein. Vierzehn Jahre vorbei.
Alle Möbel hatte er aufgegeben, auch Oma Ernas Büffet aus Eiche von 1912, und sich in der Lüneburger Heide neu eingerichtet. Er war jetzt Fernpendler, ging in Teilzeit und versuchte vergeblich, mit Mitte vierzig noch ein richtiger Kleinstädter zu werden. Sascha kam an den meisten Wochenenden. Sie waren viel in der weiten Landschaft unterwegs. Seine Nachbarn waren überwiegend alte Leute. Allein mit der Witwe aus Berlin über ihm vertrug er sich gut. Sie ließ sich bald von einer zunehmend dementen Nachbarin vertreiben. - Sie geht jeden Nachmittag in die Geschäfte und verleumdet mich. Das macht sie auch im Handarbeitsladen so. Ihre Kleider, ihren Schmuck, sogar ihr Geld, alles reiße ich mir unter den Nagel ... Sie soll dabei ganz normal wirken ... Ich halte das nicht mehr aus. Damit Sie es wissen: Ich habe gekündigt, ich gehe zurück nach Berlin. - Das Haus war neu, doch die Bauqualität ließ zu wünschen übrig. Das Schlagwerk der Wanduhr in der Nebenwohnung war deutlich zu hören, ebenso der Fernseher von oben, nachdem die Berlinerin ausgezogen war. Diese Alten waren oft schwerhörig. Einen Kontrast dazu bildete das junge Pärchen, das gern tief in der Nacht die Waschküche benutzte. Dann wurde er in seiner Parterrewohnung durch das Rattern der Schleuder unter ihm aus dem Schlaf gerissen: zwölfhundert Umdrehungen in der Minute! In die Zeit dort fielen der Tod seines Vaters und die Entfremdung von der Mutter, die als Witwe sich ihrerseits von einer Familie, die kaum eine gewesen, zu lösen begann. Als er genügend Mittel beisammen hatte, kaufte er etwas anderes und vermietete die Verdrusswohnung.
Von ihrer Terrasse aus beäugte ihn seine Nachbarin zur Rechten - mit der er verfeindet -, als er die eigene Rabatte ausräumte und die Stauden auf einem Schubkarren nach und nach wegfuhr. Darunter waren Pflanzen, die er von einem seiner letzten Besuche da unten mitgebracht hatte, per Bahn: Taglilien und eine Pfingstrose. Die Mama würde sagen: Nun müssen auch die Stauden schon wieder umziehen … Beide Eltern waren Blumennarren gewesen und er schien in der Heide noch beweisen zu wollen, nicht vollkommen aus der Art geschlagen zu sein. Er wohnte dann am Ende einer Sackgasse in einem ebenfalls neu erbauten Haus mit nur drei Wohnungen. Seine wies einen mittelgroßen Garten auf. Er grub den frisch angesäten Rasen komplett um, kaufte Dutzende von Sträuchern und Hunderte von Stauden und Blumenzwiebeln. Sascha nahm einen Tag Urlaub, als sie die von der Gärtnerei gelieferten Büsche einpflanzten In der langen Zeit dort, noch einmal vierzehn Jahre, nahm die Gartenarbeit kein Ende: bewässern, jäten, Verblühtes abschneiden, umpflanzen, ersetzen ...
Als alles sich ausgebreitet hatte und den dichtesten Teppich bildete, als er die Berufsarbeit hinter sich hatte und nur Sascha noch auf seine Rente wartete, hatte er schon die nächste Wohnung eingerichtet und hielt sich einige Jahre abwechselnd in Berlin, Hamburg und in der Heide auf. Warum wieder Berlin? Es war für sie kein Traum- oder Sehnsuchtsort, nur schien es ihnen, verglichen mit Hannover, Wuppertal, Kassel oder Leipzig, die Stadt mit den geringsten Nachteilen zu sein. Fast wäre er dann doch nicht endgültig dahin umgezogen. Die neue Wohnung lag in der Einflugschneise des Tegeler Flughafens, dessen versprochene Schließung sich scheinbar endlos hinschleppte, sie lag achtzehn Stunden am Tag direkt unter der Lärmglocke. In den Spitzenzeiten kam fast jede Minute eine Maschine beim Anflug über die Bonsai-Hochhäuser auf der anderen Straßenseite, sehr tief über deren Dächer. Drehte der Wind, donnerten sie nach dem Start mit noch viel mehr Krach genau über sein eigenes Haus. Das klang dann, zumal bei offenem Fenster, wie ein Zahnarztbohrer im eigenen Kopf. Er richtete sich also wieder mit einem Provisorium ein und Sascha bekam seine Wohnung fern vom Fluglärm im Osten der Stadt.
Go east, old man – er hielt das gegebene Versprechen, sich ebenfalls in Lichtenberg anzusiedeln: noch einmal Erstbezug in einem neuen Haus, eingepasst in die letzte Baulücke einer schmalen, wieder zu hoch umbauten Seitenstraße. Warum musste es erneut eines der ihm doch längst verhassten Gründerzeitviertel sein, eng, übervölkert, changierend zwischen verkommen und luxussaniert? Der Bahnhof ganz in der Nähe hatte den Ausschlag gegeben, man konnte so die Stadt schnell für einen Tag verlassen, Richtung Brandenburg. Voller Zweifel zog er um und sie verwandelten sich in Gewissheiten. Er vermisste besonders den freien Blick aus seiner vorigen verlärmten Wohnung. Die neuen Nachbarn gehörten bereits der übernächsten Generation an und ihre Gewohnheiten blieben ihm fremd. Wand an Wand mit ihnen lebte er doch nur in seinem eigenen Zeitdorf. Sie richteten sich schon auf einen jahrelangen Krieg mit dem Bauträger und der Hausverwaltung ein, und er, schrieb er einem von ihnen per E-Mail, sehne sich nur noch nach einer gut verwalteten Mietwohnung. Nach weiteren Jahren des Suchens und Zuwartens lebt er jetzt zufrieden unter Alten und Behinderten, Gebrechlichen. Man sorgt sich da redlich um sie und die Aussicht geht wieder ins Weite.

Nach einigen Tagen will Sascha nach Hause. Die Extraktionswunden vernarben schon zügig. - Schau vorher noch mal, was ich neulich bei Google Streetview gefunden habe ... Kennst du die beiden? - Sascha erkennt gleich den Eingang des Rotklinkerhauses in Hamburg, in dem er ein Vierteljahrhundert gewohnt hat. Zwei Männer sind aus aus der Tür getreten, die Gesichter unkenntlich gemacht. Doch Kleidung und Haltung lassen keinen Zweifel zu: Sie beide sind es, die an einem Septembertag 2008 dort zufällig ins Bild gerieten, als sie irgendwohin aufbrachen. - Wohin eigentlich? - Du warst krank, so krank, dass du den Urlaub abbrechen musstest … - Ja, den im Schwarzwald damals … - … und da bin ich tageweise morgens nach Hamburg reingekommen und wir sind entweder ins Krankenhaus gefahren oder, als es dir besser ging, raus ins Grüne. - Das Bild zeigt die gesamte Hausfassade und sogar Saschas Balkonblumen im dritten Stock: Geranien und Tagetes. Wie exakt da eine alltägliche Hamburger Vormittagsszenerie und -stimmung eingefangen ist: nirgends ein Grund zur Beunruhigung. Saschas Kopfhaltung zeigt an, dass er geradeaus blickt, vielleicht ist er auf den Kamerawagen aufmerksam geworden und vergisst ihn gleich wieder. Der Erzähler von heute dagegen schaut damals gesenkten Blickes vor sich hin, um nicht über eine hochstehende Steinplatte zu stolpern. Soll er es jetzt besser vermeiden, den unwahrscheinlichen Zufall in seinen Bericht aufzunehmen? Dass sie an einem bestimmten Tag und zwar während eines bestimmten Bruchteils einer Minute das Haus verlassen mussten, um später einmal ein Bilddokument davon anschauen zu können - wer glaubt das denn? Doch ihnen sagt dieser Fund im Netz in jedem Fall: So war es also wirklich einmal.

Du hast keine Heimat, hielt seine Mutter ihm am Ende entgegen. Er nahm es an, nicht als Vorwurf - als Feststellung. Etwas wie Heimat gab es für ihn immer nur im eigenen Kopf, es bezeichnete ein Mosaik aus Bildern, die er sich in der Welt hier und da verschafft hatte und die er bei sich aufbewahrte.
Was überdauert uns? Was bleibt von unserem Handeln, unseren Lebenswegen und vor allem von den Orten, an denen wir uns vorübergehend eingerichtet haben? Der letzte Erbfall brachte es an den Tag: nur das Unbelebte, das Versteinerte, das Felsenfeste.
Er hatte sich eine Bestimmung im Erbvertrag seiner Eltern zunutze gemacht und sich, indem er gegen sie verstieß, bewusst selbst enterbt. Von nun an konnte Mama keine Verfügung mehr treffen, die ihn direkt berührte. Sie setzte danach den Pächter zum Erben ein. Als sie hochbetagt gestorben war, behielt der Erbe die Ländereien und suchte für das vernachlässigte Haus und einige Ruinen mit verwildertem Gartenland einen Käufer, um den Pflichtteil auszahlen zu können. Der Verkauf zog sich hin, indem etwas Unerwartetes eintrat. Auf eine Rückfrage erklärte das städtische Amt das Haus für einen Schwarzbau, er werde nur geduldet, bis auf weiteres, und dürfe weder verändert noch erweitert werden. Der Behörde war aufgefallen, dass das Gebäude nicht am exakten Platz seiner Genehmigung stand: etwa dreißig Meter verrückt und damit schon auf ein anderes Flurstück geraten. Mit Abschlag beim Kaufpreis kam der Vertrag später doch zustande.
Der alte Mann ohne Heimat erinnert sich, wie sie von der Baracke aus einmal den Bauplatz besucht haben, Mama und er. Es gibt davon ein Foto in seinem ältesten Album, von ihm selbst aufgenommen. Mama ist noch jung, sie steht vor der Bretterbude der Bauarbeiter und blinzelt gegen das Sonnenlicht. Die Baustelle selbst ist nicht auf dem Bild. Vielleicht hat sie ihm damals gesagt, weshalb das Haus nicht am ursprünglich geplanten Punkt gebaut wird. Da ist ein Felsklotz beim Planieren zu Tage getreten, versteckt gewesen in der Schutthalde des alten Steinbruchs. Keiner weiß, warum dieser Fels seinerzeit nicht auch von den Arbeitern abgebaut worden ist. Es nachzuholen und ihn auch in der Tiefe für die Baugrube zu beseitigen, würde die Finanzierung sprengen. Der Fels bleibt also und wirkt auf weiteren Fotos aus der Bauphase wie ein letzter Backenzahn in einem sonst ausgeräumten Unterkiefer. Später wird er, umpflanzt von Nadelbäumen und Stauden, den romantischen Eindruck des Anwesens, einsames weißes Haus vor alter Steinbruchswand, noch verstärken. Als er, der hier erzählende Nomade, längst weg ist, werden im Sommer Gartenmöbel vor dem Felsen aufgestellt und die Eltern trinken dort sonntagsnachmittags in Gesellschaft ihrer Katzen den Kaffee.
Der Fels markierte das Ende des Gartens, wenn man vom Haus wegstrebte und es schon im Rücken hatte. Ob sein eigener Blick damals beim letzten Besuch auf den Steinklotz gefallen ist, ahnungsvoll? Wahrscheinlich ist er nur vorbeigehastet. Der Fels brachte sich in Erinnerung.
 



 
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