Der Doofe stand vor der Tür. Eigentlich hieß er Lothar, aber weil er den ganzen Tag einen Tyrannosaurus Rex an der Leine spazieren führte, nannten ihn einige von den Erwachsenen schwachsinnig, andere geistig zurückgeblieben. Die meisten nannten ihn nur den Doofen.
Frau Berwald rief ihn stets Lothar.
Abend für Abend erklang im alten Arbeiterviertel der Singsang der Kinder in den Straßen, nachdem ihre Mütter sie von den Klippen der Mietskasernen an den Abendbrottisch gerufen hatten: „Der Doofe hat einen Saurier und wird dabei immer trauriger!“
Lothar hatte auch eine Mutter, aber die ließ sich auf den Straßen nicht mehr blicken. Und sein Vater war schon lange fort, seit genau einem Tag vor Lothars Geburt vor dreiundzwanzig Jahren. Das ist von Zeitzeugen überliefert, die jenen Nachmittag mit einem Kissen unter den Armen auf der Fensterbank gelehnt hatten, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Als die grüne Minna den Vater zur kostenlosen Kur abgeholt hatte, aus der er nie mehr zurückgekehrt war.
Eine Minute stand die Tür schon offen und Frau Berwald sah ihrem Besucher entgegen. Der versunken die Wände betrachtete, den Kopf drehte und wendete unter forschendem Blick – weil kein Haarriss im Verputz seiner Analyse entgehen durfte.
Frau Berwald war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.
„Ja, Lothar?“
Da wurde das Bewusstsein des jungen Mannes angerempelt, drehte unbeholfen eine Pirouette auf dem Eis und suchte Halt zu finden. Lothar starrte auf Frau Berwald, als müsse sie ihm das Stichwort geben für den Grund seines Besuchs.
Und dann erhellte eine Erkenntnis sein Gesicht und er stürzte ans Fenster. Eilig bat er in Zeichensprache den unten wartenden Schoßhund um Geduld.
„Ich kann den Dinosaurier doch nicht mit hoch bringen“, erklärte Lothar, als er wieder vor Frau Berwald stand, „er passt ja nicht durchs Treppenhaus!“
„Nein, Lothar, das tut er nicht.“
„Er ist ein liebes Tier!“
„Natürlich, Lothar.“
Der Schmerz in ihren Worten erreichte Lothar, und tiefe Sorgenfalten gaben Auskunft, dass ihr Kummer eine tonnenschwere Last auf seinem Gemüt abgeladen hatte.
„Meine Mutter hat Recht“, sagte er dann.
„Was meinst du damit, Lothar?“
Er kam ein kleines Stück näher, und so durchdringend war sein Blick, dass es Frau Berwald unangenehm wurde. Er sagte: „Sie müssen sehr traurig sein!“
„Ja“, sagte sie leise und dachte: Geh weg, bitte geh weg!
„Volker ist nicht mehr da ...“
„Nein.“
Lothar lächelte plötzlich. Und dann trat ein unschuldiges Frohlocken aus seinen Augen, das Frau Berwald die Hand reichen, sie zum Ball der Verzagten geleiten wollte. Aber sie mochte sich nicht dazu verführen lassen. Nur eine kurze Pause von der Schwerarbeit des Trauerns gönnte sie sich und sah zu, wie Lothar vor Freude zu tanzen begann.
„Ich habe etwas für Sie! Ich habe ein Geschenk für Sie!“
Er legte es behutsam in ihre Hand. Frau Berwald erschauerte. Die Fahrradklingel schmiegte sich in ihre Handfläche, und tiefe Kratzer kündeten vom tödlichen Aufprall.
„Ich habe sie im Rinnstein gefunden“, rief Lothar außer sich. Seine Begeisterung bedurfte keiner wärmenden Zustimmung, weil sie sich in unschuldiger Aufrichtigkeit sonnte. „Sie haben sie übersehen vor zwei Wochen, als sie die Teile vom Fahrrad von der Straße sammelten! Sie haben sie übersehen, aber ich habe sie gefunden! Ich schenke sie Ihnen!“
Da lief der Film wieder ab in Frau Berwalds Kopf: „Frau Berwald! Frau Berwald! Ihr Volker!“ Donnernde Schritte im Treppenhaus, als die Schmitz aus dem Parterre hinauf stob, der ahnungslosen Mutter zu berichten. Kurz nachdem die emsige Hausfrau die Laute unten auf der Straße hingenommen hatte: als Reifen quietschten und Kinder schrien - anders schrien als sonst. Da hatte der müde Geist die notwendigen Assoziationen nicht mehr zustande gebracht. Die Gedecke auszulegen fürs familiäre Abendbrot – zu mehr hatte es nicht mehr gelangt.
Und dann lief Säure über die Leinwand, Frau Berwald weinte stumm und schlug die Hände vors Gesicht. Das Geschenk fiel zu Boden.
Lothar hielt inne, als er es sah. Tiefe Anteilnahme trat in seine Augen. Mehr aus Solidarität, als dass er die Ursache begriffen hätte.
„Ich dachte doch, jetzt haben Sie ein schönes Andenken an Volker!“
Eine Sekunde, eine einzige Sekunde verging. Unter die Horden aus Schmerz und Trauer mischte sich die Wut als fanatischer Aufrührer, der ihnen einen Ausweg aus dem Verlies des Berwaldschen Gemüts weisen wollte: Lasst uns endlich Rache nehmen! Und ihre Arme ruckten vor, weil sie den verdammten Idioten erwürgen wollte. Eine furchtbare Energie durchströmte den Körper von Frau Berwald, der einen unscheinbar kleinen Schritt machte – der umso entschlossener war. Weil das Ziel in scharfer Kontur skizziert war …
Und dann kam die nächste Sekunde.
Lothar stand vor ihr. Die vage Erkenntnis eines Fehler klopfte an sein Bewusstsein, bei dessen Erschaffung der göttliche Baumeister die Tür vergessen hatte. Tief ließ er Arme und Kopf hängen, und aus tiefster Demut blickte Lothar hoch zu der kleineren Frau.
„Ich hab sie ihm doch letztes Jahr geschenkt“, sagte er, „zum Geburtstag, als er acht geworden ist ...“
„Ja“, sagte Frau Berwald mit der Stimme des Kapitäns, wenn das Schiff nach schwerem Sturm wieder ruhiger auf dem Wasser liegt, „ich weiß.“
„Ich hab ihm doch immer sein Fahrrad repariert.“
„Ja.“
„Wir hatten viel Spaß zusammen.“
„Das hattet ihr.“
„Ich hatte Volker sehr lieb.“
Frau Berwald bückte sich nach der Fahrradklingel und drückte sie an ihr Herz. Sie würde sie polieren müssen, bevor sie sie auf die Anrichte neben Volkers Bild legen konnte. Und sie hörte Volker sagen: „Lothar ist ein toller Mann, weil er nicht mal Angst vor einem Tyrannosaurus Rex hat!“
„Ja“, antwortete Frau Berwald leise, „das ist er.“
„Was haben Sie gesagt?“
„Dass er dich auch sehr lieb hatte!“
Die Heiterkeit eroberte im Blitzkrieg verlorenes Terrain zurück. Frau Berwald hatte nie in zwei dankbarere Augen geschaut.
„Möchtest du ein Glas Limonade, Lothar?“
Und beinahe hätte sie angefügt: Deinem Dinosaurier bringen wir etwas hinunter, dann sitzen wir wieder unten auf der Straße beisammen.
Wie in alten Zeiten ...
Frau Berwald rief ihn stets Lothar.
Abend für Abend erklang im alten Arbeiterviertel der Singsang der Kinder in den Straßen, nachdem ihre Mütter sie von den Klippen der Mietskasernen an den Abendbrottisch gerufen hatten: „Der Doofe hat einen Saurier und wird dabei immer trauriger!“
Lothar hatte auch eine Mutter, aber die ließ sich auf den Straßen nicht mehr blicken. Und sein Vater war schon lange fort, seit genau einem Tag vor Lothars Geburt vor dreiundzwanzig Jahren. Das ist von Zeitzeugen überliefert, die jenen Nachmittag mit einem Kissen unter den Armen auf der Fensterbank gelehnt hatten, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Als die grüne Minna den Vater zur kostenlosen Kur abgeholt hatte, aus der er nie mehr zurückgekehrt war.
Eine Minute stand die Tür schon offen und Frau Berwald sah ihrem Besucher entgegen. Der versunken die Wände betrachtete, den Kopf drehte und wendete unter forschendem Blick – weil kein Haarriss im Verputz seiner Analyse entgehen durfte.
Frau Berwald war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.
„Ja, Lothar?“
Da wurde das Bewusstsein des jungen Mannes angerempelt, drehte unbeholfen eine Pirouette auf dem Eis und suchte Halt zu finden. Lothar starrte auf Frau Berwald, als müsse sie ihm das Stichwort geben für den Grund seines Besuchs.
Und dann erhellte eine Erkenntnis sein Gesicht und er stürzte ans Fenster. Eilig bat er in Zeichensprache den unten wartenden Schoßhund um Geduld.
„Ich kann den Dinosaurier doch nicht mit hoch bringen“, erklärte Lothar, als er wieder vor Frau Berwald stand, „er passt ja nicht durchs Treppenhaus!“
„Nein, Lothar, das tut er nicht.“
„Er ist ein liebes Tier!“
„Natürlich, Lothar.“
Der Schmerz in ihren Worten erreichte Lothar, und tiefe Sorgenfalten gaben Auskunft, dass ihr Kummer eine tonnenschwere Last auf seinem Gemüt abgeladen hatte.
„Meine Mutter hat Recht“, sagte er dann.
„Was meinst du damit, Lothar?“
Er kam ein kleines Stück näher, und so durchdringend war sein Blick, dass es Frau Berwald unangenehm wurde. Er sagte: „Sie müssen sehr traurig sein!“
„Ja“, sagte sie leise und dachte: Geh weg, bitte geh weg!
„Volker ist nicht mehr da ...“
„Nein.“
Lothar lächelte plötzlich. Und dann trat ein unschuldiges Frohlocken aus seinen Augen, das Frau Berwald die Hand reichen, sie zum Ball der Verzagten geleiten wollte. Aber sie mochte sich nicht dazu verführen lassen. Nur eine kurze Pause von der Schwerarbeit des Trauerns gönnte sie sich und sah zu, wie Lothar vor Freude zu tanzen begann.
„Ich habe etwas für Sie! Ich habe ein Geschenk für Sie!“
Er legte es behutsam in ihre Hand. Frau Berwald erschauerte. Die Fahrradklingel schmiegte sich in ihre Handfläche, und tiefe Kratzer kündeten vom tödlichen Aufprall.
„Ich habe sie im Rinnstein gefunden“, rief Lothar außer sich. Seine Begeisterung bedurfte keiner wärmenden Zustimmung, weil sie sich in unschuldiger Aufrichtigkeit sonnte. „Sie haben sie übersehen vor zwei Wochen, als sie die Teile vom Fahrrad von der Straße sammelten! Sie haben sie übersehen, aber ich habe sie gefunden! Ich schenke sie Ihnen!“
Da lief der Film wieder ab in Frau Berwalds Kopf: „Frau Berwald! Frau Berwald! Ihr Volker!“ Donnernde Schritte im Treppenhaus, als die Schmitz aus dem Parterre hinauf stob, der ahnungslosen Mutter zu berichten. Kurz nachdem die emsige Hausfrau die Laute unten auf der Straße hingenommen hatte: als Reifen quietschten und Kinder schrien - anders schrien als sonst. Da hatte der müde Geist die notwendigen Assoziationen nicht mehr zustande gebracht. Die Gedecke auszulegen fürs familiäre Abendbrot – zu mehr hatte es nicht mehr gelangt.
Und dann lief Säure über die Leinwand, Frau Berwald weinte stumm und schlug die Hände vors Gesicht. Das Geschenk fiel zu Boden.
Lothar hielt inne, als er es sah. Tiefe Anteilnahme trat in seine Augen. Mehr aus Solidarität, als dass er die Ursache begriffen hätte.
„Ich dachte doch, jetzt haben Sie ein schönes Andenken an Volker!“
Eine Sekunde, eine einzige Sekunde verging. Unter die Horden aus Schmerz und Trauer mischte sich die Wut als fanatischer Aufrührer, der ihnen einen Ausweg aus dem Verlies des Berwaldschen Gemüts weisen wollte: Lasst uns endlich Rache nehmen! Und ihre Arme ruckten vor, weil sie den verdammten Idioten erwürgen wollte. Eine furchtbare Energie durchströmte den Körper von Frau Berwald, der einen unscheinbar kleinen Schritt machte – der umso entschlossener war. Weil das Ziel in scharfer Kontur skizziert war …
Und dann kam die nächste Sekunde.
Lothar stand vor ihr. Die vage Erkenntnis eines Fehler klopfte an sein Bewusstsein, bei dessen Erschaffung der göttliche Baumeister die Tür vergessen hatte. Tief ließ er Arme und Kopf hängen, und aus tiefster Demut blickte Lothar hoch zu der kleineren Frau.
„Ich hab sie ihm doch letztes Jahr geschenkt“, sagte er, „zum Geburtstag, als er acht geworden ist ...“
„Ja“, sagte Frau Berwald mit der Stimme des Kapitäns, wenn das Schiff nach schwerem Sturm wieder ruhiger auf dem Wasser liegt, „ich weiß.“
„Ich hab ihm doch immer sein Fahrrad repariert.“
„Ja.“
„Wir hatten viel Spaß zusammen.“
„Das hattet ihr.“
„Ich hatte Volker sehr lieb.“
Frau Berwald bückte sich nach der Fahrradklingel und drückte sie an ihr Herz. Sie würde sie polieren müssen, bevor sie sie auf die Anrichte neben Volkers Bild legen konnte. Und sie hörte Volker sagen: „Lothar ist ein toller Mann, weil er nicht mal Angst vor einem Tyrannosaurus Rex hat!“
„Ja“, antwortete Frau Berwald leise, „das ist er.“
„Was haben Sie gesagt?“
„Dass er dich auch sehr lieb hatte!“
Die Heiterkeit eroberte im Blitzkrieg verlorenes Terrain zurück. Frau Berwald hatte nie in zwei dankbarere Augen geschaut.
„Möchtest du ein Glas Limonade, Lothar?“
Und beinahe hätte sie angefügt: Deinem Dinosaurier bringen wir etwas hinunter, dann sitzen wir wieder unten auf der Straße beisammen.
Wie in alten Zeiten ...