Die Flüchtlingsfrau

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hermannknehr

Mitglied
Die Flüchtlingsfrau

Sie war die Fremde, keiner kannte ihren Namen
und eines Tages war sie plötzlich da,
sie kam vom Osten, woher alle kamen,
von dem man wusste, dass dort was geschah.

Sie war sehr schweigsam aber äußerst fleißig
und nahm bereitwillig auch jede Arbeit an,
man sah ihr an, sie war so Mitte dreißig
und dass sie heimlich weinte, dann und wann.

Bald hatte man sie fast schon lieb gewonnen
und jeder grüßte freundlich sie im Ort,
sie dankte, leise lächelnd und versonnen
und eines Tages war sie wieder fort.

Sie ging ganz leise, erst am nächsten Tage
bemerkte man das Fehlen dieser Frau,
bald war sie nur Geschichte, an die vage
man sich erinnerte, doch nicht genau.
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Hermann,
seltsam, dass deine eindrucksvollen Gedichte hier im Forum so wenig gewürdigt werden. Ich finde auch dieses wieder sehr anregend. Kleine Anmerkungen meinerseits dazu:
S1: Die erste Zeile hat zwei Silben zuviel. Wie wäre es mit diesem Anfang: "Im Orte kannte keiner ihren Namen. Die Fremde war ganz unvermutet da." Die letzten zwei Zeilen der 1.Strophe verstehe ich nicht so recht.
S2: "bereitwillig" passt vom Rhythmus her nicht. Alternativvorschlag: beflissen(bzw. kritiklos) jede Arbeit an.
S3: Viel authentischer als das neutrale "man" wäre ein "wir", das die persönliche Betroffenheit des Autors vermittelt. Z4: Doch eines Tages ... ("eines Tages" steht in deiner Version auch schon in S1)
S4: Chronologischer Rückschritt. In S3 war sie schon fort; darum passt das Imperfekt jetzt nach meinem Geschmack nicht. Vielleicht so: Wir merkten erst am übernächsten Tage, dass sie veschwunden war, die fremde Frau ... Die letzte Zeile von S4 finde ich blass.

Vielleicht kannst du mit meinen Gedanken etwas anfangen. Gern gelesen!
LG von
Herrn H.
 
S

steky

Gast
Hallo, hermannknehr,

Dein Gedicht finde ich echt klasse! Du zeigst hier ein existentes Leben, das nicht zu existieren scheint - ein Leben im Nebel, wenn man so will. Vielleicht haben das ruhige Menschen so an sich.

Auf jeden Fall eine tolle Charakterisierung!

Frage: Soll dieser Text sozialkritisch sein? Überlege noch, inwiefern sich das verbinden ließe.

LG
Steky
 

hermannknehr

Mitglied
Die Flüchtlingsfrau

Im Orte kannte keiner ihren Namen.
Die Fremde war ganz unvermutet da.
Sie kam vom Osten, woher alle kamen,
von dem man wusste, dass dort was geschah.

Sie war sehr schweigsam aber äußerst fleißig
und nahm auch willig jede Arbeit an,
man sah ihr an, sie war so Mitte dreißig
und dass sie heimlich weinte, dann und wann.

Bald hatten wir sie fast schon lieb gewonnen
und jeder grüßte freundlich sie im Ort,
sie dankte, leise lächelnd und versonnen
und eines Tages war sie wieder fort.

Sie ging ganz leise, erst am nächsten Tage
bemerkte man das Fehlen dieser Frau,
bald war sie nur Geschichte, an die vage
man sich erinnerte, doch nicht genau.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Herr H.,
vielen Dank für Deine wohlwollende Kritik. Ich habe fast alles übernommen. Mit dem "Orte" in der ersten Zeile bin ich zwar nicht so zufrieden, aber mir fällt im Augenblick auch nichts besseres ein.
Zu Z4/S1: Im Osten geschah etwas. Zuerst die grausame russische Armee, dann der Kommunismus, die DDR mit Stasi, Mauer etc. Also: Flüchtlinge kamen immer vom Osten, nie vom Westen, das meinte ich damit.
Dein letzter Einwand in S4 mit der 2.Vergangenheit habe ich nicht ganz verstanden. Wenn man "das Fehlen" bemerkte (Imperfekt), dann beinhaltet das eigentlich, dass das Weggehen schon vorher (Plusquamperfekt) geschehen war. Aber vielleicht liege ich damit auch falsch.

Das wiederholte "man" und das zweimalige "und eines Tages" hatte ich eigentlich bewusst gesetzt, um das monotone, vage, etwas traurige, der Geschichte zum Ausdruck zu bringen. Aber jetzt gefällt sie mir so doch besser.

Vielen Dank
Hermann
 

anbas

Mitglied
Hallo hermannknehr,

als ich die Überschrift las, befürchtete ich Schlimmes - irgendetwas zwischen grausamster Betroffenheitslyrik und überdimensionalem mahnenden Zeigefinger. Ich war dann beim Lesen positiv überrascht. Gut, es ist jetzt kein Gedicht, das mich zu Begeisterungsstürmen hinreißt (wahrscheinlich arbeite ich dafür schon zu lange im sozialen Bereich, darunter auch viele Jahre mit Flüchtlingen) - aber es gefällt mir.

Nun zur ersten Zeile. Mein Lösungsvorschlag lautet:
Es kannte von uns keiner ihren Namen.
Was denkst Du?

Liebe Grüße

Andreas
 

molly

Mitglied
Hallo hermannknehr,

Dein Gedicht gefällt mir.

"Bald hatten wir sie fast schon lieb gewonnen
und jeder grüßte freundlich sie im Ort",

Trotz ihrer Stille muss sie eine eindrucksvolle Frau gewesen sein, da sie so bald schon im Ort angenommen wurde.

Gern gelesen!

Viele Grüße

molly
 

hermannknehr

Mitglied
Die Flüchtlingsfrau

Die Fremde, keiner kannte ihren Namen
und eines Tages war sie plötzlich da,
sie kam vom Osten, woher alle kamen,
von dem man wusste, dass dort was geschah.

Sie war sehr schweigsam aber äußerst fleißig
und nahm auch willig jede Arbeit an,
man sah ihr an, sie war so Mitte dreißig
und dass sie heimlich weinte, dann und wann.

Bald hatten wir sie fast schon lieb gewonnen
und jeder grüßte freundlich sie im Ort,
sie dankte, leise lächelnd und versonnen
und eines Tages war sie wieder fort.

Sie ging ganz leise, erst am nächsten Tage
bemerkte man das Fehlen dieser Frau,
bald war sie nur Geschichte, an die vage
man sich erinnerte, doch nicht genau.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo zusammen,
vielen Dank für die wohlwollenden Kommentare. Ich habe den Anfang nochmal umgeschrieben, ähnlich wie ursprünglich formuliert. Die "Orte" sind wieder weg, Dein Vorschlag, anbas, entsprach auch nicht so recht meinen Vorstellungen. Vielleicht fällt mir noch etwas besseres ein.
LG
Hermann
 
Hallo hermannknehr,

mich hat dein Gedicht sehr berührt. Und es hat mir gefallen, dass jemand dieses Thema Flüchtlinge aufgreift und dichterisch verarbeitet, weil es mich selbst auch beschäftigt.

Gewöhnlich stehe ich nicht so sehr auf Reimgedichte, gerade in der heutigen Zeit erscheinen sie mir antiquiert und anachronistisch.

Aber in deinem Gedicht wirkt das überhaupt nicht so, auch, weil es so schlicht und trotzdem bewegend geschildert wird. Die Reime passen auch zusammen, und nachdem ich dein Gedicht gelesen hatte, ging es mir länger im Kopf herum.

Herzliche Grüße,
sternschwester
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Sternschwester,
vielen Dank für Deine schönen Worte über mein Gedicht. Besonders gefreut hat es mich, dass es jemanden gefallen hat, der eigentlich nur ungereimte Gedichte mag. Ich habe früher auch nur ungereimt geschrieben, weil das "modern" war. Erst mit der Zeit habe ich den harmonischen Reim wieder kennen und lieben gelernt.
LG
Hermann
 



 
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