Die folgenreiche Verstörung des Friedbert K.

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Es ereignete sich an einem Dienstag im Frühling des Jahres 1972 in Meßkirch, einer an sich eher unbedeutenden kleinen Stadt im südlichen Baden-Württemberg. Friedbert K. ein streng lutherisch erzogener, aufrechter und gradliniger junger Mann, der sehr zum Stolz seiner ihn beinahe schon abgöttisch liebenden Mutter soeben in das dritte Lehrjahr in der städtischen Sparkasse aufgestiegen war und bereits zwei Mal im kaufmännischen Berufswettbewerb Preise errungen hatte, nutzte die ihm zustehende Mittagspause dazu, sich auf einer der Bänke im nahegelegenen Park des Schlosses ein wenig Sonne in das noch winterblasse Gesicht scheinen zu lassen.
Plötzlich, ohne zu fragen, ob es Friedbert genehm wäre, nahm ein in dickes, graues Loden gewandeter vierschrötiger alter Mann neben ihm Platz. In seiner Hand hielt er eine vor Fett nur so triefende sowie einen strengen Geruch verströmende Bratwurst in einer dieser Schalen aus Pappe, in denen man in Schnellimbißlokalen das Essen zu servieren pflegt. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand schob er den gamsbartbesetzten Hut aus der Stirn, fingerte umständlich ein altertümliches, reich mit Perlmutt verziertes Klappmesserchen aus einer der Taschen seiner Weste hervor und begann, hoch konzentriert und mit präzise angesetzten Schnitten, die Wurst in einer Weise zu zerteilen, die Friedbert recht sonderbar vorkam.
Anstatt sie nun aber zu verspeisen, hielt er sich die Schale mit der gleich mehrfach der Länge nach aufgeschnittenen Wurst dicht vor die mit buschigen Brauen besetzten Augen und inspizierte sie genauestens, wobei sich tiefe Sorgenfurchen auf seiner Stirn abzuzeichnen begannen. Schließlich klappte er das Messer wieder zusammen, hielt die Schale mit der Wurst am ausgestreckten Arm weit von sich, drehte den Kopf halb zur Seite und musterte sie nun argwöhnisch aus den Augenwinkeln heraus.
Dann räusperte er sich ausgiebig, und sprach zu der Wurst in feierlichem Ernst: „Wurst, du bist mir zuhanden. Zuhandenes begegnet innerweltlich. Das Sein dieses Seienden, die Zuhandenheit, steht demnach in einem wurstlichen Bezug zur Welt und folglich zur Wirklichkeit. Wurst ist in allem Zuhandenem immer schon "da". Wurst ist vorgängig mit allem Begegnenden schon entdeckt, obzwar die Wurst in ihrem Voll-Wurst-Seienden voller Nicht-Fleisch-Gewesenem ist. Sie kann aber auch in gewissen Würsten des umweltlichen Umgangs aufleuchten. Wurst ist es, aus der Zuhandenes zuhanden ist. Wie kann Welt-Seiendes Wurst-Zuhanden-Sein begegnen lassen? Die vermittels des So-Sein im Da-Sein Noch-Wurst-Seiende Welt-Gewesenheit dürfte einst gehabt gewesen sein; darum deduziert die Derart-Gewesenheit das Deshalb-Sein des Fleisch-illuminierenden Weg-Seins als solches natürlich überhaupt. Und nun, eben weil das innerwurstlich Begegnende für die besorgende Umsicht, das Rechnungenaustragen, in seinem Sein freigegeben ist, gelangt dasselbe, jedoch nur demnach, zurück in den Zustand nicht der Erhaben-, sondern der Wurst-Gewesenheit.“
Gequälten Gesichtsausdrucks und mit rasselnden Bronchien noch einmal schwer aufatmend, besah der alte Mann noch ein letztes Mal die zerstückelte Wurst, ehe er sie mit einer Geste der des Abscheus in den neben der Bank angebrachten Abfallkorb fallen ließ. Dann lehnte er sich ächzend zurück, hob sein Gesäß ein wenig an und entließ, der Welt entrückt und mit sichtlicher Erleichterung, einen lang anhaltenden Darmwind.
Friedbert, vom merkwürdigen Treiben seines Banknachbarn in nicht geringe Verunsicherung gestürzt, war gerade im Begriff darüber nachzusinnen, ob es wohl unhöflich sei, sich des recht argen Duftes wegen die Nase zuzuhalten, als er, absolut grundlos, wie er später stets beteuern würde, von dem unvermittelt in Rage geratenen Alten mit roher Gewalt attackiert wurde. Urplötzlich hatte der sich nämlich herum- und zur Hälfte auf Friedbert hinaufgeworfen, ihm den ungemein spitzen und harten Zeigefinger der rechten Hand so heftig in die Seite gestoßen, dass sofort ein scharfer Schmerz unter dem getroffenen Rippenbogen aufbrandete, und ihm schaumspeichelnd ins Ohr gezischt: „Ich warne dich, Bürschlein, kein Wort zu Hannah!“
Hier nun geriet der empfindsame Friedbert endgültig außer Fassung, sprang auf und rannte, ohne dabei auf den neuen, von feinen hellgrauen Streifen durchwirkten nachtblauen Geschäftsanzug achtzugeben, ins dichte Unterholz des nur mäßig gepflegten Schlossparks, wo er sich die nächsten eineinhalb Stunden unter dem Blattwerk eines in voller Blüte stehenden Perückenbaumes versteckte und bitterlich weinte.
Nachdem die Tränen endlich versiegt waren und er sich aus seinem Versteck wieder hervortraute, trödelte er, anstatt zu seinem Arbeitsplatz zurückzukehren, den ganzen Nachmittag über ziellos durch die Straßen und Spelunken der Stadt, und war das erste Mal in seinem jungen Leben heillos betrunken, als er schließlich gegen Mitternacht zu Hause eintraf und der bereits hochgradig besorgten Mutter schluchzend in die Arme fiel.
Friedbert K. hat die Sparkasse seither nie wieder betreten. Zur Enttäuschung seiner dann auch recht bald an der über sie gekommenen Schande zugrunde gegangenen Mutter widmete er sein Leben fortan dem Mißbrauch alkoholischer Getränke, deren Finanzierung zum Missfallen der Meßkircher Bürger alsbald der kommunalen Sozialverwaltung oblag.
Manchmal, so berichten Einheimische, säße Friedbert mit seiner üblichen zweieinhalb Liter Rotwein fassenden Flasche auf einer der Bänke im Schlossgarten und kläre die ihn umgurrenden Tauben lautstark über das Seiende, die innweltlichen Gewesenheiten und das immer schon Zuhandene auf. Zuweilen, so will man beobachtet haben, soll er auch unvermittelt loskrakeelen, alles Zuhandene, ganz gleich ob nun Wurst-Gewesenheit, Schupfgenudeltes oder selbst Veganes ginge ihm schlichtweg am Arsch vorbei, Zuhandenheiten jedweder Art und Beschaffenheit interessierten ihn nicht die Bohne, es sei denn, sie enthielten berauschende Substanzen; auf nichts anderes als darauf käme es letzten Endes an.
Sobald sich der Inhalt der jeweils in Arbeit befindlichen Flasche dem Ende zuzuneigen beginne, so wird seitens gemeinhin gut unterrichteter Kreise gern kolportiert, höre man ihn gelegentlich nur noch leise vor sich hinflüstern: „In die Wurst mit dem Alten! Ab in die Wurst!“

(Diese Geschichte entstand nach dem kläglich gescheiterten Versuch, zu verstehen, was uns M. Heidegger mit seinem Werk „Sein und Zeit“ hat mitteilen wollen.)
 

Matula

Mitglied
Sehr lustig ! Bei Sloterdijk kann man einiges darüber erfahren !

Schöne Grüße aus Wien,
Matula
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja, witzige Geschichte. Gefällt mir. Zu Heidegger; im Grunde ist das alles ganz einfach: Heidegger wirft den Philosophen vor, dass sie immer nur abgesondert über das "Objekt" den "Menschen" oder das "Existieren" geredet hätten. Aber jedes Objekt erscheint immer nur für ein Subjekt. Es gibt die Welt nur in diesem Bezug, deswegen wird alle Welterfahrung eben "erlebt" und deswegen, ist bei Heidegger alles immer auf den Menschen bezogen, dann wurstet die Wurst den Menschen, das Nichts nichtet, alles ist (für den Menschen) zuhanden etc. etc.

Und im Grunde hat Heidegger damit wirklich einen Punkt, wenn über Subjekt und Objekt im Bezug gesprochen wurde, dann immer nur Erkentnistheoretisch, nie als Welterfahrung. Und nur über das Objekt, oder das Subjekt (sein) zu reden, ist nach Heidegger Metaphysik, klar, denn es ist uns als etwas abgesondertes ja unzugänglich.
 
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