Die Frage, ob es einen Gott gibt

Walther

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Die Frage, ob es einen Gott gibt, verbleibt im Ungefähren, dachte er in den Nebel seiner Gedanken. Es war drei Uhr dreißig. Der alte Wecker hatte gerade die Ziffern zwei und neun durch Umklappen in drei und null verwandelt. Das Zimmer wurde durch das Licht seiner beiden Großbildschirme beleuchtet. Auch die Anzeige des Weckers, in der sich verschwommen die Farben der Monitore spiegelten, profitierte von dieser Lichtquelle.
Er meinte, er hätte das sanfte Klackklack dieses Umklappens gehört. Es machte ihn, wenn er schlaflos wach lag, wahnsinnig. Als ob das Geräusch der Anlass dieses Zustands wäre. Nein, sagte er sich, es ist die Folge. Die Folge von… Ja, von was denn bitte? Von der Unruhe in der Unterbauchgegend? Von der Angst? Vor was bitte? Selbst sie war unspezifisch, sie kam aus dem Ungefähren.

Apropos ‚aus dem Ungefähren‘: War da nicht diese eine Frage gewesen? Der Gedankennebel hob sich etwas, die Schwaden verzogen sich in die linke Schläfe und den unteren Hinterkopf, direkt über dem Atlas. Nein, jetzt drückte es rechts. Und dann schloss vorne wieder der Riegel hinter der Stirn, und die Augäpfel begannen zu schmerzen. Er sollte wenigstens etwas trinken. Und aufs Klo sollte er auch.

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Ein eingeschlafener Arsch ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, lief durch seinen Stirnlappen, als er aufschreckte. Seine Zunge war gegen die kalten Dekorationsplatten gelaufen, als er sich im Halbschlaf die trockenen Lippen ablecken wollte. Er war nach dem großen Geschäft weggeknackt und wie durch ein Wunder nicht von der Schüssel geplumpst, sondern sanft nach rechts auf die Seite gerutscht. Manchmal hatte eine fette Wampe auch ihr Gutes. Sie verhinderte, dass sein Torso sich beim Schlafen über eines der Knie nach vorne neigte und anschließend zur Seite glitt und den Rest mitriss.
Es war, sagte seine iWatch, 5:39 – diesmal digital. Den Hintern jetzt abzuwischen, war nichts Empfehlenswertes, da eine trockene Angelegenheit. Ein leise gezischtes „Scheiße!“ erwies sich als perfekter Euphemismus und führte zum Schluss: „Der Erfolg liegt auf der Hand!“ sowie danach zu einer Waschorgie, die konsequenterweise unter der Dusche endete. Anschließend fand er gerade noch sein ungemachtes Bett, in das er mehr rutschte als stieg.

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Als die iWatch lange genug am linken Handgelenk geschlackert hatte, wachte er endlich richtig auf. Es war taghell – insofern man Anfang Dezember das überhaupt überhaupt so nennen könnte. Er fühlte sich auf eine fast hinterhältige Art und Weise gut. Der Kopf war erstaunlich klar. Der Magen grummelte, und die Blase drückte. Das drängendste Problem sollte man zuerst lösen, meinte seine Schaltzentrale. Gesagt, getan.
Das ziemlich leergeschnullte iPhone befand sich exakt fort, wo er hinwollte. 20%. Mist. Wer hat denn angerufen. Sanne. Was will die denn um diese Zeit. Er fuhr sich durch seine viel zu langen Strähnen. Frisur konnte man das schlechterdings nicht mehr nennen. Die sollte ich zurückrufen, entschied er.

„Hey“, räusperte er sich, „was geht?“
„Nice, dass du anrufst, Dicker. Die Seite ist hypergeil geworden. Die Kids sind begeistert. Du hast sogar TikTok, Insta und Twitter eingebunden. Du bist ein Schatz.“
„Ey, echt jetzt, Sanne?“
„Yesss. Du bringst es mit dem IT-Zeugs, aber voll, ey.“
„Aber gerne doch, Sanne.“
„Ich knuddel dich, Dicker. Bist ein feiner.“

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Zum Glück war so ein iPhone schnell geladen. Man war ja nicht mehr mit der Welt verbunden, wenn das blöde Ding nicht mehr funkte. War man das wirklich?
Er saß am Küchentisch und rührte in seinem Müsli. Richtig Lust, etwas zu essen, hatte er nicht. Das war zwar eigentlich nicht er. Denn normalerweise fraß er wie ein Scheunendrescher, wenn er Hunger hatte. Seine Crispies waren so lasch wie seine Stimmung. Ohne Biss und ohne Geschmack.

Unvermittelt wuchtete er sich aus dem Stuhl und ging zielstrebig ins Schlafzimmer, um die Bettwäsche abzuziehen. Er hatte beschlossen, dass das nötig wäre. Danach ging er in den Keller und machte die erste Waschmaschine voll. Die erste seit Wochen. Seit wie vielen Wochen? Seit viel zu vielen. Zum Glück kam eine Putzfrau. Sonst wäre sein großes Haus inzwischen mit Spinnweben und Fusseln voll bis an die Decke. Vom Staub wäre zu abstrahieren. Die Bäder und Klos ebenfalls. Und die Fenster erst!
Der Tag war gerettet. Die Nacht auch. Fast.

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Schweißgebadet wachte er auf. Wieder der Alptraum, vor dem er sich so fürchtete und an dessen Inhalt er sich ums Verrecken nicht erinnern konnte. Diesmal musste er auf die andere Seite des Betts robben, wo sein alter Wecker stand. Er hatte ihn wie immer aus dem Arbeitszimmer mitgenommen.
Die iWatch war beim Laden auf dem dortigen Schreibtisch. Sein iPhone hatte er in einem Anfall von Gesundheitswahn ebenfalls aus dem Schlafzimmer verbannt. Warum eigentlich? Ja, wozu die ganze Kacke hier eigentlich? Übrigens, sagte er sich, es ist genau vier Uhr dreiundfünfzig. Du tickst nicht richtig, Dicker. Nix Digga. Dicker. Claro Amigo?
Er krabbelte aus dem Bett, rutschte in die Hausschlappen, machte schlurfend einen Umweg über die Küche, um sich eine Mineralwasserflasche zu greifen. Nein, keine Coke Zero diesmal. Ist eh nur Selbstbetrug, das mit dem Zero. Und bitter schmeckt sie auch noch, wenn sie mal weniger als eiskalt ist.

Er startete das MacBook und begab sich in die virtuelle Welt. Der echten, physischen ging er aus dem Weg, seit Steffi weg war. Für sie hatte er die Firma verscheppert. Sie hatte sich beschwert, dass er keine Zeit für sie hätte. Danach hatte er zu viel davon für sie. Und für sich. Er verlor beide: erst Steffi, dann sich. Jetzt hatte er nichts mehr außer einem Haufen Geld auf der Bank und in irgendwelchen lukrativen Anlagen.
Ja, sie waren lukrativ, diese Papiere und Immobilien. Und jetzt? Jetzt hatte er Kohle und eine Frage, die sich immer wieder in seine Gedanken stahl: Gibt es einen Gott? Vielleicht wäre genauer, etwas anders zu fragen: Was machen wir hier eigentlich? Welchen Sinn hat dieser ganze scheiß Aufriss, den wir um uns selbst, dieses Universum und diesen von uns kaputtverbrauchten Planeten machen? Sein Gedankennebel war wieder da.

Dann las er die Message von Sanne. Erst verschwommen, dann – im zweiten Durchgang – glasklar:

„Hey, Dicker, du könntest mal aus deiner verdammten Bärenhöhle ans Licht kommen. Wie wärs? Wir haben da ne kleine Party, die Kids und wir vom Team. Morgen, ab 22 Uhr. Ist ein Kompromiss. Da ist Licht, und es ist nicht Tag. Du weißt schon wo, oder?“

Die kleine Spitze konnte sie nicht sein lassen. Er mochte sie dafür. Quatsch. Er mochte sie doch eh schon zu sehr. Jedenfalls: Das sorgte dafür, dass er auf einmal nicht couchpotatomäßig vor den Monitoren saß, sondern aufrecht und kerzengerade. Das ist ja heute, holy fuck!, flüsterte er ins Halbdunkel. Donner und Doria. Er hatte auf einmal kalten Schweiß auf der Stirn und Hummeln im Bauch.

Nein, einen Gott gab es wohl eher nicht. Aber vielleicht Göttinnen. Wie Steffi zum Beispiel. Mensch, war die schön. Einfach göttlich. Er schwelgte in Erinnerungen. Hey, Dicker, das war gestern, rief er sich zur Ordnung. Ja, und sicher gab es Engel. Engel wie Sanne. Die machte christliche Jugendarbeit. Sie war ein guter Mensch, der an etwas glaubte. An Gott, zum Beispiel. Auch wenn es den vielleicht nicht gab. Aber war das wichtig? War es nicht wichtiger, überhaupt an etwas zu glauben? Vielleicht am Anfang erstmal nur an sich selbst und daran, dass es einen richtigen, echten, Sinn hatte, dass es einen gab? Und den ganzen Aufzug am Ende dann auch?
Es wurde Zeit, unter die Dusche zu gehen. Aus verschiedenen Gründen. Aber besonders deshalb, weil es gestern half, nicht nur ein-, sondern auch durchzuschlafen.

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Es tat richtig gut, unter Leuten zu sein. Vor allem, verbuchte er als Weisheit dieses Tages, wenn ein Engel auf dem Schoß saß und sich an einen schmiegte, nachdem sie, der Engel also, ihn erst in die lauschige Sofaecke mit den vielen Kissen außerhalb des Schlagschattens der Diskoleuchten geschoben und dann einfach endlos geküsst hatte.
Er war auf weitere Weisheiten und Antworten auf einmal saumäßig gespannt.
 
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