Die Frau aus dem Block 10

Hagen

Mitglied
Die Frau aus dem Block 10

Als ich das Atelier meines verstorbenen Vaters aufräumte, stieß ich zwischen zahlreichen Plastiken, Skulpturen, ausgeführten und nicht ausgeführten Entwürfen, hunderten von Ölgemälden und dutzenden von Büsten, auf die Büste einer Frau.
Irgendwie hat mich diese Büste berührt, nicht weil Frauen sehr selten Büsten von sich anfertigen lassen, sondern weil sie eine Erinnerung in mir geweckt hat.
Das war ‘Tante Unnewehr‘.
Gewiss, ich war damals noch ganz klein, knappe drei Jahre nach dem Krieg geboren und in einen Künstlerhaushalt hineingewachsen. Es war einfach so, nix besonderes. Der Vater von meinem Freund Günter betrieb eine Klempnerei und wir gingen öfter mal zugucken. Besonders fasziniert war ich, wenn die Gesellen flexten und schweißten, weil da so schöne Funken flogen. Außerdem hatte Günters Vater schon ein Auto. Wenn das nichts war!
Wir spielten Fußball auf den damals noch autofreien Straßen im Ostertor und ich kann mich nicht erinnern, Günter mal mit nach Hause genommen zu haben, weil ich stets still zu sein hatte, weil mein Vater Ruhe brauchte.
Genauso selbstverständlich wohnte und saß ‘Tante Unnewehr‘ manchmal mit uns bei Tisch‚ wenn überhaupt geregelte Essenszeiten stattfanden. Nur meine Großeltern achteten darauf, das ‘der Junge‘ regelmäßig was zu essen bekam, aber ich wollte eigentlich lieber wieder raus zum Fußballspielen.
Ob jemals eine Blutsverwandtschaft zu Tante Unnewehr bestanden hat, weiß ich nicht, ich werde es auch niemals herausfinden, denn wenn sie vom KZ sprach, von Auschwitz, in dem sie damals gesessen hatte, wurde das gewissenhaft totgeschwiegen, ich wurde rausgeschickt oder das Gespräch wurde mit den Worten abgewürgt: „Das war ganz grauenhaft. Aber davon verstehst du noch nichts, wir haben das damals auch nicht gewusst. – Und jetzt darfst du wieder Fußball spielen.“
Als ich zehn war, sind wir umgezogen. Tante Unnewehr suchte sich eine eigene Wohnung, ihre Besuche wurden immer seltener, bis sie schließlich ganz ausblieben.
Aber das Bisschen, war sie erzählte und was haften geblieben ist, will ich nun aus ihrer Sicht schildern:

Wir waren eingepfercht in Viehwagen, tagelang waren wir unterwegs und wussten nicht wohin. Als der Zug endlich zum Stillstand kam und die Waggontüren aufflogen, erblickten wir lebende Skelette in Lumpen hinter Stacheldraht, soweit das Auge reichte: Auschwitz.
Dazwischen liefen Deutsche mit riesigen Schäferhunden herum und brüllten ständig: "Los! Los!".
Wir stiegen aus und mussten uns in Fünferreihen aufstellen, Männer und Frauen getrennt. Der Gestank war unerträglich. Langsam schritten die Reihen vorwärts, an SS-Männern vorbei.
Einer von ihnen, ein schöner Mann mit einem Engelsgesicht, stand sichtlich gelangweilt da und bewegte nur seinen rechten oder linken Daumen, um damit die Richtung anzuzeigen, in die man gehen sollte.
Wir wurden von Dr. Mengele sortiert, noch an der ‘Judenrampe‘.
Ich weiß nicht, ob einige gleich in die Gaskammern gingen, ich kam jedenfalls in den Block 10, in die Hand von grausamen SS-Ärzten und mir wurde eine Nummer auf die Haut tätowiert. Mithäftlinge enthüllten den Neuankömmlingen nach anfänglichem Schweigen schließlich den grausamen Zweck von Block 10.
Block 10 galt als den "Inbegriff für Auschwitz schlechthin".
Die Insassen waren für ‘medizinische Versuche‘ ausersehen!
Die Tage waren quälend lang in Block 10, wo jeweils bis zu 200 Versuchspersonen gleichzeitig von früh bis spät in den beiden 250 Quadratmeter großen Sälen verbringen mussten. Die Frauen waren erfüllt von einer abgründigen Langeweile, in der – im Schatten der Kamine von Auschwitz – kein anderes Ende abzusehen war als der Tod. Sowas wie Hofgang war absolut unbekannt, sie waren im Block wie Mastschweine eingesperrt.
Bewacht wurden die Insassen von der SS.
Die SS war ein Orden und ein Zweckverband zugleich, in dem der neugermanische Führernachwuchs erzogen werden sollte. Für den SS-Mann war das ‘Kämpfersein‘ eine Grundeinstellung seines Lebens, er gehorchte den Befehlen ohne zu überlegen.
Der SS-Mann zeigte Härte gegenüber allen menschlichen Regungen, gegen sich selbst und gegen andere, er zeigte ein Elitebewusstsein bei gleichzeitiger Verachtung der Minderwertigen, und die Insassen von Auschwitz wurden als ‘minderwertig‘ angesehen. Durch diese Mentalität setzte sich der SS-Mann von der Masse der Parteigenossen bewusst ab.
Der Dienst im KZ wurde als ein Frontdienst gegen innere Feinde gesehen.
Der Kern der Wachmannschaft des KZ Auschwitz waren SS-Männer, die jahrelang in einem KZ Dienst verrichtet hatten. Dem Lagerkommandanten standen die Schutzhaftlagerführer (mit der unmittelbaren Lagerverwaltung betraut), die Rapport-, Block-, Posten- und Kommandoführer zur Seite.
Eine eigene Gruppe bildeten die SS-Ärzte, die für die Gesundheit der SS, die ärztliche Betreuung der Häftlinge und den Zustand der sanitären Anlagen verantwortlich waren. An der Spitze stand der SS-Standortarzt.
Viele SS-Ärzte, nahmen an Häftlingen diverse ‘wissenschaftliche Versuche‘ vor, an deren Folgen die meisten verstarben. Zu den Aufgaben der SS-Ärzte gehörte auch die Durchführung von Selektionen sowohl an der ‘Judenrampe‘ als auch im Lager.
Zu den Aufsehern sind auch jene Funktionshäftlinge – meist Kriminelle – zu zählen, die als verlängerter Arm der SS an den Häftlingen Verbrechen begingen.
Unter den Aufseherinnen waren Irma Grese und Elsa Margot Drechsel besonders gefürchtet.
Irma Grese war, trotz ihres Aussehens und jugendlichen Alters, bei den Häftlingen sehr gefürchtet. Ihre Brutalität, die ihr den Namen ‘Hyäne von Auschwitz‘ einbrachte, gefiel ihr. Einige Aufseherinnen hatten für etwa eine Woche Peitschen, die in den Lagerwerkstätten hergestellt wurden. Mit einer solchen hat sie Häftlinge geschlagen, bis die Benutzung der Peitschen verboten wurde.
Elsa Margot Drechsel war auch äußerst brutal, besonders bei weiblichen Gefangenen war sie gefürchtet. Sie misshandelte Häftlinge bis zum Tod und war an der Auswahl von Personen für die Gaskammer beteiligt.
Im Stammlager von Auschwitz hatte die SS im April 1943 das ehemalige Kasernengebäude zunächst für Sterilisationsversuche an jüdischen Frauen ausstatten lassen. Verantwortlicher Mediziner war der Gynäkologe Prof. Dr. Carl Clauberg. Er verklebte ahnungslosen Frauen die Eileiter mit einer Einspritzung durch die Gebärmutter für immer.
Auch andere Ärzte missbrauchten Frauen aus diesem Block für ihre Experimente: Dr. Horst Schumann verbrannte mit Röntgenstrahlen die Sexualorgane ausgewählter Häftlinge, SS-Standortarzt Dr. Eduard Wirths ließ Häftlingsärzte für einen Test zur Früherkennung von Gebärmutterkrebs üben, und der Leiter des SS-Hygieneinstituts in Auschwitz, Dr. Bruno Weber, beauftragte Helfer, Jüdinnen Blut mit der falschen Blutgruppe zu übertragen oder ihnen große Mengen Blut für Wehrmachtslazarette abzunehmen. Einige Frauen wurden regelrecht ‘ausgeblutet‘ bis sie starben …

An dieser Stelle wechselte Tante Unnewehr stets das Thema, zu etwas Fröhlichem. Wie ich heraushörte hat Annemarie Unnewehr die ersten Tage ‘in einem Zustand von Abgestumpftheit‘ verbracht. In Block 10 wurde sie zunächst von dem SS-Arzt Hans Münch für bakteriologische Versuche missbraucht. Sie erinnert sich an mehrfache Einspritzungen unter die Brusthaut:
"Ich fühlte mich danach sehr schlecht, hatte Fieber, die Einspritzstellen wurden rot und bildeten eine Kruste, die sehr lange bis zur Abheilung dauerte."
Den Sterilisierungsexperimenten Claubergs entging sie nur mit Glück. Ihr war bereits eine erste Spritze als Kontrastmittel verabreicht worden, um die Durchlässigkeit der Eileiter zu testen – dann wurde sie kurzfristig einem Arbeitskommando in Auschwitz-Birkenau zugeteilt.

Was ‘Tante Unnewehr‘ dort gemacht hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, mir fehlt ein Stück Erinnerung. Ich bin einfach nicht dazu gekommen, sie zu fragen, und meine Eltern haben sehr selten, eigentlich nie davon erzählt. Wie gesagt, nach unserem Umzug suchte ‘Tante Unnewehr‘ sich eine eigene Wohnung, die Besuche wurden seltener und blieben schließlich ganz aus.
Ich hatte meine erste Freundin, machte eine Lehre, ging zur Bundeswehr, Beruf, Weiterbildungen, Ehen absolviert – und zwischendurch habe ich immer wieder meinem Vater bei seiner Arbeit geholfen; - er war schließlich Künstler, für profane Arbeiten nicht zu haben; - aber das ist eine andere Geschichte.
Er hat mir stückweise was von ‘Tante Unnewehr‘ erzählt oder ich habe was aufgeschnappt, - stückweise, wenn ich gerade mal da war, und sie auch.

Bis zu ihrer Befreiung im Mai 1945 erlebte Annemarie Unnewehr auch die Todesmärsche, auf denen viele ihrer Leidensgefährtinnen ums Leben kamen.
Als Todesmarsch von KZ-Häftlingen werden verschiedene “Räumungsaktionen“ der SS-Wachmannschaften in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Dabei löste die SS ab Ende 1944 frontnahe Konzentrationslager – so auch das berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – auf und zwang die meisten KZ-Häftlinge zum Abmarsch in Richtung Reichsmitte oder sperrte sie zum Abtransport in Eisenbahnwagen ein.
Sehr oft wurden nicht marschfähige Häftlinge in großer Zahl erschossen. Viele Lagerteile wurden von der SS in Brand gesetzt. Zahlreiche KZ-Häftlinge überlebten die tage- und wochenlang dauernden Märsche bzw. Transporte nicht: Sie erfroren, verhungerten oder brachen geschwächt zusammen und wurden dann von den SS-Wachmannschaften, denen es immer zu langsam ging, erschossen. Besonders diese willkürlichen Tötungen führten zur Bezeichnung ‘Todesmarsch‘.
Einzelne Züge gerieten zufällig unter Beschuss durch im Bodenkampf eingesetzte Kampfflieger der alliierten Truppen, andere blieben unversorgt auf Ausweichstrecken liegen.
Die Bezeichnung ‘Todesmarsch‘ wurde im Nachhinein von Opfern geprägt.

Auch Annemarie Unnewehr ist marschiert und marschiert, immer wenn es den Wachmannschaften zu langsam ging, wurden die Letzten erschossen oder mit einem Fußtritt exekutiert. Dabei wurde das Kinn des Probanden auf den Kantstein oder irgendetwas Höheres gelegt. Ein kräftiger Fußtritt zwischen die Schulterblätter brach das Genick.
Annemarie Unnewehr ist wie in Trance marschiert, sogar im Schlaf ist sie weitergelaufen, bis von hinten keine Schüsse mehr zu hören waren, trotzdem lief sie weiter.
Sie wusste nicht mehr wo sie war, aber sie ging weiter, weiter, weiter.
Irgendwann waren auch keine Wachmannschaften mehr da, sie waren einfach weg, hatten ihre Gewehre weggeworfen und ihre Parteiabzeichen und waren … verschwunden.
Annemarie Unnewehr ging weiter, einen Tag, zwei … bis sie erschöpft zusammenbrach.
Das erste, woran sie sich erinnerte, nach einem langen Schlaf der Erschöpfung, waren einige Jeeps und ein grinsender, schwarzer Sergeant.
Annemarie Unnewehr war von amerikanischen Soldaten befreit worden!
Gewiss, die Soldaten haben sie wieder aufgepäppelt, nach zwei, drei Wochen im Lazarett konnte sie nach Hause gehen … aber wo war das?
Die Soldaten hatten anderes zu tun, in dem ‘befreiten Deutschland‘.
Tschüs Annemarie!
Wieder stand sie auf der Straße und wusste nicht wohin.

Wie ‘Tante Unnewehr‘ nach Bremen zu meinen Großentern und Eltern gekommen ist, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum mein Vater ausgerechnet von ‘Tante Unnewehr‘ eine Büste gefertigt hat.
Ich weiß nur, dass sie ein kleines Zimmer bewohnte, sehr selten ‘zuhause‘ war, und sich mit plätten und Nähen durchschlug. Manchmal wurde ihr sogar ein Anzug zum ‘wenden‘ gebracht.
Sie soll sogar geheiratet haben, Kindersegen soll ihr allerdings verwehrt geblieben sein …
 



 
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