Die Frau im Bordell

4,80 Stern(e) 4 Bewertungen

Wotawa

Mitglied
Niemand hätte Cem zugetraut, dass er Champagnergläser abtrocknen konnte, ohne dass jedes einzelne davon sofort unter seinen riesigen Pratzen zerbrach. Mehr als zwei Meter groß und gute 130 Kilo schwer war er ein Mann wie ein LKW und damit sicher der beste Barkeeper und Bodyguard, denn Dragan für uns anheuern konnte. Dennoch war er der zärtlichste Typ, den wir uns vorstellen konnte – zumindest in dem Verhältnis, das die meisten von uns gewohnt waren. Wir hielten ihn alle für schwul, was sicher auch in Dragans Sinn war, aber er schwieg sich über sein Vorleben aus. Das Einzige, was wir über ihn wussten, war, dass er acht Jahre wegen Totschlags gesessen hatte. Aber auch darüber verlor er kein Wort. Wir hingegen konnten mit ihm über alles reden, selbst über Dinge, die wir sonst nur untereinander besprachen. Cem war wie ein großer Bruder für uns, vielleicht sogar mehr.
Es war der vierundzwanzigste Dezember, Weihnachten letztes Jahr, als gegen acht Uhr abends diese Frau in die Bar kam. Wie alt mochte sie sein, fünfzig sicher, ein farbloses Kleid unter einem farblosen Mantel, darin eine ebenso farblose Frau, der man ansah, dass sie ihr Leben lang hart gearbeitet und nur wenig Dank dafür bekommen hatte. Sie blieb im Eingang stehen und sah erst zur Bar, an dem sich zwei einsame Freier den Weihnachtsblues weg- und Mut antranken, dann zu uns.
»Die sucht bestimmt ihren Mann«, kicherte Joy. Ich grinste zurück. Gut möglich, sie wäre nicht die erste gewesen.
Ein Ruck ging durch die Frau, als würde sie sich an eine schwere Arbeit machen, dann kam sie langsam zu uns Vier, die wir halbnackt auf den Sofas herumfläzten. Joys Kichern bekam einen hysterischen Ton und Melli sah mich kopfschüttelnd an. Claire hingegen wurde bleich, als würde sie wissen, was nun kam.
Natürlich hatte auch Cem bemerkt, was gerade vorging. Vorsichtig, fast liebevoll, stellte er das Glas, das er gerade poliert hatte, ab und kam von der Theke hervor, leise und sanft wie immer, bis er hinter der Frau stand. Die drehte sich mit einem Ruck um, sah Cem unverwandt an, dann zeigte sie auf Claire und sagte: »Die da. Die ganze Nacht.«
Cem zog eine Augenbraue hoch, dann sah er zu Claire. Die schüttelte nur stumm den Kopf und blickte zu Boden.
»Die macht es nicht mit Frauen«, sagte Cem.
»Es soll nicht hier sein, sondern bei uns zuhause«, sprach die Frau weiter, ohne auf Cems Einwand einzugehen.
Wieder ein Blick von Cem zu Claire, doch von der kam nichts mehr.
»Die macht auch keinen Dreier«, erklärte Cem, »schon gar nicht woanders.«
»Ich zahle auch extra dafür.«
Cem schüttelte den Kopf, was immer etwas komisch aussah mit seiner Glatze und den dichten schwarzen Bart. Dennoch fanden wir das im Moment nicht lustig. Irgendwie schien sich eine seltsame Art von Ernsthaftigkeit unter uns auszubreiten. Oder war es gar sowas wie Trauer?
«Wie gesagt, nicht woanders, keinen Dreier, nicht mit Frauen.« Cem blieb hart und dennoch weich zugleich.
»Es ist nicht für mich«, sagte die Frau weiter und wurde rot.
»Dann sagen Sie Ihren Mann, er wird sich schon selbst herbemühen müssen.“
»Es ist auch nicht für meinen Mann.«
»Ist mir egal, für wen es ist, Lady, das geht nicht.«
»Es ist für meinen Sohn.« Die Frau blickte zu Boden, noch immer hochrot. Ihre Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern geworden.
Einer der Freier an der Bar begann laut aufzulachen. »Die Alte holt sich eine Nutte für ihren Bankert als Weihnachtsdessert!«
Ohne ihn anzublicken, fuhr Cems Hand in die Höhe, seinen Zeigefinger wie eine Waffe ausgestreckt. Sofort brach das dämliche Lachen ab.
»Warum kommt denn ihr Sohn nicht selbst her?», fragte Cem die Frau, mit dem gleichen Sanftmut wie vorhin.
»Er kann nicht.« Die Frau fand ihre Stimme wieder, ihr Gesicht hob sich und sie sah Cem direkt an. »Er ist querschnittsgelähmt.«
Wir erstarrten alle. Bis auf Claire. Die sprang auf und lief nach hinten, wo die Separees waren. Mein Blick fiel auf Cem und ich sah, wie er mit sich selbst kämpfte, oder mit einem Dämon, den er in sich trug.
»Es war ein Motorradunfall«, erzählte die Frau weiter. »Heuer im März. Vierter Halswirbel gebrochen. Tetraplegie, wenn Ihnen das was sagt. Er kann weder Arme noch Beine bewegen.«
Cem streckte sich durch, als würde sie über seine Wirbelsäule reden.
»Er ist neunzehn.«
Waren das Tränen auf Cems Gesicht?
»Und er hat noch nie mit einer Frau geschlafen.«
Cem bewegte den Kopf, als wollte er etwas von sich abschütteln, die Loyalität zu Dragan, vielleicht? Fast hilflos sah er zu uns her. Joy hatte sich hinter meinen Rücken versteckt, Melli starrte stumm in ihr Champagnerglas.
»Ich mach es!« Verdammt, war ich es, die das gerade gesagt hatte?
»Sicher?« Cem sah mich ernst an.
Ich nickte.
»Nein«, sagte die Frau, »die andere. Die eben weggelaufen ist, die soll es sein.«
Wäre sie ein Mann gewesen, Cem hätte ihn höflich, aber bestimmt zum Ausgang begleitet. Wenn nötig auch mit etwas körperlichen Nachdruck. Vor dieser Mutter aber, schien er es zu sein, der völlig entwaffnet war.
»Warum sie?«
Die Frau schwieg.
Plötzlich kam Claire zurück. Sie trug Jeans, ihre Winterstiefel und die Lederjacke. Stellte sich zu den beiden, sah Cem an und sagte: »Weil ich auf dem Sozius saß.«
Dann hakte sie sich bei der Frau ein und ging mit ihr in die Stille der Nacht hinaus.
 

Hundsstern

Mitglied
Die Ich-Erzählerin bleibt blass, im Hintergrund, (vermeintliche) Nebendarsteller wie Cem und die Hinterzimmer-Atmosphäre nehmen vergleichsweise viel Platz auf der Bühne ein, füllen ihn dann aber seltsam adäquat aus. Am Ende bleiben mehr Fragen offen [Beziehung, Unglück, Realitätsgehalt], als es Antworten gibt. Ich mag das, versuche Lücken selbst zu schliessen. Danke für die Chance dazu.
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo W,

interessante Geschichte, die ich mit Spannung gelesen habe.
Vom Ende war ich enttäuscht. Das hätte besser vorbereitet werden müssen: Die Frau hätte schon mal ein paar Hinweise fallen lassen müssen, warum gerade diese Nutte. Plötzlich geht Claire einfach so mit - ohne Überredung? Fühlte sie sich schuldig? Das hätte man auf jeden Fall näher beleuchten können. Ich fand es schade - diese Geschichte hätte ein besseres Ende verdient.

Gruß, Heinrich
 

Anders Tell

Mitglied
Lieber Wotawa,
Du weißt schon sehr genau, worüber Du hier schreibst. Solche Einblicke haben nur Leute, die mit dem Thema Querschnittlähmung zu tun haben. Ich habe im Zivildienst Tetraplegiker gepflegt und war auch danach beruflich damit verbunden. Jede Unfallchirurgie in Deutschland habe ich von innen gesehen und dabei viele junge Männer kennen gelernt, die durch einen Motorradunfall in diese Situation geraten sind. Sie sind zu körperlicher Liebe fähig und haben auch Verlangen danach. Das Empfinden ist natürlich nicht dasselbe wie vor der Verletzung.
Mit der Partnerinnensuche durch die Mutter, der Sozia, die in die Prostitution abgerutscht ist, hast Du die Schraube eine Windung zu weit in Richtung irreal gedreht. Mir sind viele Gelähmte begegnet, die ohne Probleme eine Partnerin gefunden haben. Oft haben Krankenschwestern sich in sie verliebt und nicht wenige haben später geheiratet. Eine Prostituierte ist eine Frau mit vielleicht denselben Empfindungen, sich eines körperlich hilflosen Menschen annehmen zu wollen. Es hätte also, finde ich, gereicht, wenn die Dame sich entschlossen hätte, den Auftrag anzunehmen.
 

Wotawa

Mitglied
Lieber Anders Tell.
Nach 43 Jahren beruflicher Tätigkeit in der Neurologie und Psychiatrie gebe ich dir in weiten Teilen recht. Bloss läuft das Leben oft nicht so, wie wir uns das vorstellen und auch die Menschen reagieren manchmal ganz anders als erwartet. Und das sind dann oft die Geschichten, die es wirklich wert sind, erzählt zu werden. Danke, dass du diese gelesen hast.
 

Wotawa

Mitglied
Ach ja, die Enttäuschungen, Heinrich VII. Wie schön dass sie unseren Täuschungen (und manchmal auch unserer Selbstgerechtigkeit) ein Ende bereiten. Danke, dass du die Geschichte trotzdem gelesen hast. Und, wie es Clint Eastwood am Schluss von "Erbarmungslos" so schön gesagt hat: "Behandelt eure Huren mit Respekt, sonst komme ich wieder!"
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo Wotawa,

Ach ja, die Enttäuschungen, Heinrich VII. Wie schön dass sie unseren Täuschungen (und manchmal auch unserer Selbstgerechtigkeit) ein Ende bereiten. Danke, dass du die Geschichte trotzdem gelesen hast. Und, wie es Clint Eastwood am Schluss von "Erbarmungslos" so schön gesagt hat: "Behandelt eure Huren mit Respekt, sonst komme ich wieder!"


Tja - was soll man so viel Weisheit entgegen setzen?
Ah, da fällt mir etwas ein, was ich längst mal los werden wollte: Zuweilen kommen mir die Menschen um mich vor, als hätten sie
eine neue Droge eingenommen, die jegliche Logik auflöst. Und ich bin der Einzige, der noch stocknüchtern ist.
Das muss nicht zwingend auf deinen Text gemünzt sein, ist mir nur gerade so eingefallen.
Der Geist arbeitet, wenn er gefüttert wird - mit was auch immer. ;)

Gruss, Heinrich
 
Ich gebe Heinrich teilweise recht, auf das Ende der Geschichte hätte man besser hinarbeiten können, auch wenn der Schluss an sich gut gelungen ist.

Die Ich-Erzählerin hätte man weglassen können. Sie ist völlig unwichtig, der eine Satz, den sie sagt, auch. Man hätte die Geschichte aus der Perspektive eines neutralen Erzählers schreiben können.

Oft haben Krankenschwestern sich in sie verliebt und nicht wenige haben später geheiratet. Eine Prostituierte ist eine Frau mit vielleicht denselben Empfindungen, sich eines körperlich hilflosen Menschen annehmen zu wollen. Es hätte also, finde ich, gereicht, wenn die Dame sich entschlossen hätte, den Auftrag anzunehmen.
Wenn alle Geschichten nur das wahre Leben widerspiegeln würden, wäre das Lesen sehr langweilig.
 

Anders Tell

Mitglied
Liebe Silberne Delfine,
bitte nehme es mir nicht krumm, aber ich glaube, dass das Leben immer noch die besten Geschichten schreibt und ich könnte manche erzählen, von der man annehmen wird, dass sich so etwas keiner ausdenken kann. Wenn das Lesen immer fantastisch sein muss, könnte ja auch das Leben langweilig sein, oder?

Dass eine Mutter gezielt in das Bordell geht, von dem sie weiß, dass dort das Mädchen arbeitet, welches beim Unfall ihres Sohnes mit auf dem Motorrad saß, ist nach meinem Empfinden etwas zu fantastisch.

Anders
 



 
Oben Unten