Die Frau in der Balkontür

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Hagen

Mitglied
Die Frau in der Balkontür

Das Radio ließ das Deutschlandlied, schwerer, träger Lava gleich über meinen Computer quellen, als ich die Story, die ich soeben beendet hatte, schnell noch einmal durchlas.
Eine Geschichte, wie sie das Leben zu schreiben pflegt – wie sie in Programmzeitschriften als 'wahre Geschichte der Woche' in unendlichfacher Variante wieder und wieder gebracht und von den Menschen an den Fernsehern während des Wortes zum Sonntag oder der Waschmittelwerbung – an der halb geleerten Dose Bier vorbeigelesen wird; - Wortmüll!
Da brachte ein Mann einen Brief zur Post, für seine Firma, er hat zuhause noch gearbeitet. Spät war es geworden, und wie er auf dem Weg zum Briefkasten ist, sieht er auf dem Balkon des Hauses gegenüber eine Frau stehen.
Eine schöne Frau, und die Frau winkt ihm zu. Der Mann gibt den Brief auf – und die Frau ist noch immer da, und sie winkt.
Der Mann zählt die Stockwerke und die Balkone ab, geht zu der Frau, und die wartet schon auf ihn. Sie gehen hinaus in die Nacht, stöpseln zwei Ohrhörer in einen Walkman und tanzen Tango auf der Straße – sie tanzten auf der Straße – der Titel der Story.
Es gab da so eine Agentur, die vertrieb derartigen Wortmüll, neben meinem Arbeitslosengeld eine gute Einnahmequelle. Es durfte nur keiner erfahren, keiner!
Ich sog ein letzte Mal an meiner letzten Selbstgedrehten, gab meinem Computer den Druckbefehl und zerquetsche die Kippe im Ascher.
Ich stopfte die Blätter, nachdem der Drucker seine Arbeit getan hatte, zusammen mit dem üblichen Begleitschreiben in den vorbereiteten Umschlag, es fehlte nur noch die Briefmarke zu einem Euro fünfundvierzig.
'Morgen', dachte ich, 'morgen, gleich nach dem Aufstehen.'
Ich hatte meinen Computer nahe am Bett, nur zwei Schritte, der Radiowecker war gestellt. Ich hätte mich nur ausziehen, ins Bett fallen, und morgen nach dem Aufstehen den Brief wegbringen brauchen.
Morgen?
Ich wollte es heute noch zu Ende bringen, ich wollte die Story nicht noch einmal durchlesen, ich hätte sie miserabel gefunden, ich hätte das Ergebnis von vielen Stunden am Computer in die Schublade der missglückten Geschichten geworfen, der Schublade, in denen die Träume von früher schon dutzendweise ruhten.
Ganz unten die begonnenen Träume, die ich irgendwann mal vollenden wollte, wenn ich soweit war, mich nicht mehr in meine eigenen Protagonistinnen zu verlieben.
Etwas höher kamen dann die genormten Träume, dreißigzeilenweise, eineinhalbzeilig auf Din A4 Blättern – und die Träume wurden nach oben hin immer dünner, trauriger und – realer. Noch mit der Schreibmaschine geschrieben, zu Zeiten, als ich noch ein bisschen Zeit hatte, ich wollte schon damals Schriftsteller werden, aber meine Frau Jutta … ach Scheiße!
Nein, die Geschichte musste weg, sofort, zumal in der Nachbarwohnung wieder ein Beziehungskrach losging. Da warf der Kerl seiner Frau wieder lautstark vor, dass sie Hängetitten gekriegt hatte!
Wenn ich vom Briefkasten heimgekehrt wäre, hätten sie sich sicherlich beruhigt, wie üblich.
Die Nacht war warm und mondlichtdurchflutet, das gleiche Mondlicht, dass mich in dem von mir angefangenen Stück umfing, erwartete mich draußen. Ein Detail, das sich ständig wiederholt, mit wechselnden Protagonisten und wechselnden Orten, viel Raum für Varianten blieb nicht mehr ohne kitschig zu werden.
Ich klebte den Umschlag im Gehen zu, ging die Balustrade entlang, und mein Daumen senkte sich auf den Rufknopf des Fahrstuhls.
Irgendwo, tief unten in der Nähe des Erdgeschosses setzte sich die Kabine in Bewegung, sie würde in fünfzig Sekunden oben sein.
Ich legte die Ellenbogen auf die Klinkersteine und sah auf die Straße tief unter mir. Das Betonband war leer, gespenstisch leer, irgendwo geigte eine einsame Grille unverdrossen, auf eine Grillendame hoffend, ihre kleine Nachtmusik, und das Hochhaus gegenüber zeichnete sich scharf gegen die samtene Schwärze der Nacht ab. Bunte Balkone mit schwarzen Türen dahinter klebten an dem Grau des Waschbetons. Schwarze Fenster, zwölf Stockwerke hoch und sechs in der Vertikalen, alle schützten sie schlafende Menschen – bis auf eines, im achten Stockwerk ganz links.
Leicht rötliches Licht durchdrang das Negligé einer Frau, die in der Balkontür derart stand, dass sich meinem Blick ihr Körper scherenschnitthaft darbot.
Es musste eine schöne Frau sein, die sich die warme Nachtluft in die Lungen sog, denn in dem durchsichtigen Stoff glich sie den antiken Statuen, die den Menschen in seiner ethischen und körperlichen Gesamtheit darstellten. Frauengestalten, wie ich sie nur allzu gerne für meine Geschichten erschaffen hatte.
Der Aussenflur, in dem ich stand, wurde hell, als die Kabinentüren des Fahrstuhles zur Seite glitten.
Die Frau gegenüber hob den Arm und winke mir zu, während ich den Brief unter den Arm klemmte und den Lift betrat.
Schnell drückte ich die unterste Taste, lehnte mich an und trommelte mit den Fingernägeln an die Wand der Kabine.
Der Aufzugsmotor schien eine halbe Ewigkeit zu surren, bis ein Ruck durch die Kabine kroch und sich die Türen zur Seite schoben.
Grelles Licht aus Leuchtstoffröhren sprang mich an, ich warf mich mit der Schulter an die Riffelglastür nach draußen und stand kurz darauf wieder im Mondlicht der Nacht.
Mein Blick glitt die Balkone des gegenüberliegenden Hauses hoch, acht Stockwerke, und da war das rötliche Licht. Die Silhouette der Frau davor, und die Frau sah zu mir herunter und winkte.
Ich winkte zurück, und die Frau beugte sich über die Balkonbrüstung. Ich nahm den Brief unter dem Arm wieder hervor, hob ihn hoch, deutete mit der freien Hand zuerst auf den Brief und dann in Richtung Postamt.
Die Frau auf dem Balkon nickte, ich überquerte die Straße, aber ich ging etwas schneller als gewöhnlich.
Vor dem Postamt fluchte ich die Sterne vom Himmel, weil ich kein Kleingeld mit hatte, dem Automaten Briefmarken zu entlocken.
Es half nichts, ich musste in die Kneipe an der Ecke. Uschi, die Qualmgebadete, stellte mir auch gleich wie üblich ein Henkelglas unter den Zapfhahn.
Na, gut, ein Bier, Briefmarken ziehen, den Brief aufgeben und zurück zu der Frau in der Balkontür.
„Haste mah' einsfünfundvierzig?“
„Was?“
Die Jukebox dröhnte Oldies aus den Siebzigern.
Ich schmiss meinen Oberkörper über den Tresen bis ich Uschis Haarspray riechen konnte.
„Einsfünfundvierzig Cash für einen Stammgast.“
Ich hob den Brief hoch und deutete auf die Stelle wo die Briefmarke hin gehört.
„Ach so“, Uschi nickte, griff in die Kasse und zählte mir mit rotlackierten Fingernägeln Kleingeld hin.
„Aber du kommst doch gleich wieder?“
„Logisch!“
Ich ließ mich zurückfallen und während ich das Geld einsteckte, knallte eine Hand auf meine Schulter.
„Hallo Alter, lange nicht gesehen.“
„Stimmt.“
Das war Kurt.
„Wir können ja mal wieder einen zusammen trinken! Ich geb' auch einen aus.“
„Right“, sagte ich und hob den Brief kurz hoch, „bin gleich wieder da.“
Ich nahm erst das Bierglas, dann einen Schluck daraus und ging den Brief aufgeben.
Das Bierglas wäre mir fast vom Automaten gerutscht, als ich die Briefmarken zog – mit Bier geklebt hielten die Marken fest wie das Versprechen eines Mannes, sofort zurück zu kommen.
Langsam das Bier austrinkend ging ich zurück in die Kneipe, ließ mir nochmal Kleingeld geben, zog Tabak, gab das Glas zum Nachfüllen ab und setzte mich zu Kurt an den Tisch.
Ich hatte wirklich nicht vor, lange zu bleiben, aber Patricia, eine junge Dame aus der Nachbarschaft, war auch da und Kurt ließ die Jukebox laufend Oldies feuern.
Patricia passte hier irgendwie nicht her, schon ihr Parfum war unpassend, zu 'tough', weise Fältchen um die Augen und ein 'lass den Jungs mal ihren Spaß – Lächeln' um die Mundwinkel, aber sie war Kurts Freundin.
Sie trug keinen BH, es war durch ihren Pulli jedenfalls keiner zu sehen, und ihre Brüste hingen nur ein wenig.
„Ich hab' dich auch auf dieser Lesung Freitag hier gesehen“, sagte Patricia, „du mich nicht?“
„Nein, 'hab mehr auf die Lyrikerin geachtet.“
„Hab' dich aber gesehen“, ihr Lächeln vertiefte sich, „ich wusste gar nicht, dass du dich für Lyrik interessierst.“
„Tja, ich mag Literatur im Allgemeinen.“
Patricias Brüste waren eigentlich nicht schlecht, wie kam Kurt bloß an solch eine Frau?
Egal, er war zuerst da, sonst hätte ich mein Glück bei ihr versucht, schließlich hat jeder Mann jederzeit das Recht, sein Glück bei jeder Frau zu versuchen.
„Ja, die war gut, nicht wahr?“, fuhr Patricia fort, „du, die Uschi will hier regelmäßig Lesungen veranstalten. Sie hat mich gefragt, ob ich auch mal lesen will, in zwei Wochen bin ich dran, du kommst doch auch?“
Alle Welt wichste neuerdings Lyrik.
Ich nickte.
Es setzte sich noch einer dazu – schon leicht bezecht – und bestellte eine Runde.
„Hay Dieter“, sagte Patricia, „wie geht's?“
Ich sah zur Uhr und wollte wieder aufstehen, die Frau in der Balkontür würde sicher nicht ewig warten.
„Dich kenn' ich“, sagte Dieter zu mir und begann übergangslos auf seine Alte zu schimpfen, sie hatte ihn richtig gekrallt, gleich nach der Hochzeit kam die tote Hose auf im Bett, „und Hängetitten hat die auch ruckartig gekriegt, mein lieber Mann!“
Das musste mein Nachbar sein, es gab regelmäßig lautstarken Beziehungskrach aus der Nachbarwohnung.
Seltsam, dass ich noch nie jemanden aus dem Haus kennengelernt hatte, mit Ausnahme Patricias, sie wohnte auch irgendwo im Haus, ich hatte ihren Nachnamen aber schon wieder vergessen.
Die Biere kamen.
Na gut, eins noch.
Wir tranken, und Dieter zog einige Fotos hervor.
„Ist doch gar nicht so schlecht“, meinte Kurt nach fachmännisch-chauvinistischem Blick.
„Nee, das war vorher, aber guck' mal, wie die jetzt aussieht, nur drei Monate später!“
„Komm, steck's weg“, sagte Patricia, „was würde Sabine wohl dazu sagen, wenn sie wüsste, dass du Nacktbilder von ihr in der Kneipe rumzeigst.“
„Is mir doch egal. 'kann sich doch in Form halten, die Alte, oder?“
„Gegen Hängetitten kannste nix machen“, sagte Kurt mit fachmännisch-markantem Gesichtsausdruck, „das kommt oder es kommt nicht.“
„Hahaha“, sagte Patricia, „man kann Gymnastik machen, das hilft, mach' ich auch! – Und dann gibt's da noch 'ne andere Möglichkeit.“
„Welche denn?“, fragte Kurt, doch Patricia lächelte geheimnisvoll.
Wir erwarteten natürlich, dass Patricia sich wenigstens andeutungsweise in Positur stellen würde, aber sie behielt nur ihr Lächeln bei.
„Und was hältst du davon?“
Dieter schob mir die Bilder hin.
„Muss das sein?“
Die Frau auf den Fotos hatte verzweifelt die Schultern zurückgenommen und die Arme gehoben. Sinnlos!
So sah Jutta auch aus, nachdem sie was mit einem Schlauchbootvertreter gehabt und ich daraufhin ausgezogen war.
Egal, aus und vorbei, dieser Abschnitt meines Lebens, verbucht unter dem Kapitel 'Lebenserfahrung'.
„Hat sie auch mal was mit'n Schlauchbootvertreter gehabt?“, fragte ich etwas gedankenlos und wollte noch: 'wie meine Ex' nachsetzen, aber da sprang er schon auf, dass der Stuhl unter ihm wegflog, packte mich vorn am Hemd, zwei Knöpfe flogen ab, und er keuchte mir seine Bierfahne ins Gesicht: „Woher weißt du das???“
„Oh, Mann, lass hängen! Interessiert mich doch gar nicht, dein Problem.“
Was für ein Arsch!
Es gibt kaum etwas Dümmeres als eine öffentliche, männliche Eifersuchtsszene.
„Du bist doch arbeitslos! Den ganzen Tag zuhause! Deine Alte ist dir auch weg! – Treibst es wohl auch mit ihr, wenn ich arbeite, was? Ich mach' dich platt – duuuu!“
„Reg' dich ab Mann!“, sagte ich, „ich hab' deine Frau noch nie gesehen!“
„Du wohnst nebenan, das kannst du deiner Oma erzählen!“
„Heyheyhey“, ging Uschi dazwischen, „wenn ihr euch kloppen wollt, dann macht das draußen!“
„Ich schlag' mich nicht wegen einer Frau“, sagte ich, „lohnt sich nicht!“
„Stimmt“, sagte Kurt.
Patricia schaute ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Feminismus an.
„Kommt auf die Frau an!“ Ich schaute Patricia auf die Brüste, sie verstand und fuhr die Schultern zurück.
„Okay okay“, Dieter ließ mein Hemd los, „trinken wir lieber noch einen.“
„Geht klar“, sagte Uschi und Kurt stand auf, eine neue Platte drücken. 'Calling out around the word, there'll be dancing in the streets’, dröhnte die Box daraufhin.
„Haben wir in Vietnam immer gehört“, legte ich einen vor um das Thema zu wechseln, aber ich hätte den dummen Spruch gleich wieder zurücknehmen mögen.
„Du warst in Vietnam?“, fragte Patricia und das 'lass den Jungs mal ihren Spaß'- Lächeln erschien wieder.
„Du warst doch nie in Vietnam!“ sagte Dieter.
„Brauchst ja nicht zu glauben“, knurrte ich.
Es war keine gute Idee, das jetzt zu erwähnen.
„Wo sonst kann man umsonst Hubschrauber fliegen lernen?“, fuhr ich fort, „ich bin fürs Rote Kreuz geflogen, aber der Vietcong hat keinen Unterschied gemacht, zwischen 'nem Huey mit einem roten Kreuz drauf und einem Sikorsky der Green Baretts.“
Ich drehte mir eine Zigarette und begann von dem 'Bullshit Band' zu erzählen: „Wisst ihr, im militärischen Radiofrequenzbereich gab es damals am oberen Ende des Frequenzbandes einen Kanal, der nur im Notfall angewählt werden sollte. In Wahrheit benutzte ihn jeder, der ein Funkgerät hatte – und jeder Trupp hatte mindestens eins – als private Quasselstrippe. Einige von den Jungens wurden von zuhause regelmäßig mit Schallplatten versorgt, und die haben dann die Funke an den Plattenspieler gehängt.“Das Bier kam, ich trank einen mächtigen Schluck, wischte den Schaum vom Bart und fuhr fort: „Tja, der coole Albert aus Detroit eröffnete seine Sendung immer mit 'dancing in the streets'. Wir, weiter vorne und dicht am Feind in den Bunkern, pflegten dann das Bullshit Band rein zudrehen, die Joints reinzuziehen, C-Rationen zu fressen und uns dreckige Witze zu erzählen, aus purer Angst, dass der Vietcong reinkommt in den Bunker – aber mit einem bisschen Hasch in der Blutbahn sowie Diana Ross und den Supremes im Ohr ist der Tod besser zu ertragen. – Kennt ihr das Gefühl, wenn der Kumpel, mit dem du am Tag zuvor noch deinen letzten Joint geraucht hast, plötzlich nicht mehr da ist? Das ist dann die Zeit, wo du die ganz großen Fragen stellst, oder dich nur fragst, was, zum Teufel, du jetzt, hier und in diesem Leben überhaupt machst; - warum um alles so ist, wie es ist, und wo der übergeordnete Sinn dessen liegt, was sich auf dieser Daseinsebene überhaupt abspielt.“
Irgendwie hatte ich das Gefühl, Bedeutendes gesagt zu haben, trotz des Schunds, den ich in der letzten Zeit geschrieben, aber etwas Geld verdient hatte.
Patricia nickte und stellte die Frage nach dem Daseinssinn.
Dieter sackte langsam ab und schleppte sich nach Hause, Kurt machte dicke Augen, ich erzählte weiter, erklärte den Unterschied zwischen herausgehendem und hereinkommendem Feuer und beschrieb Ratten und Schlamm, die in die Bunker krochen, verglich sie mit den Einflüssen, die den bewussten Menschen zu hindern suchen, sich Gedanken über den Sinn des Lebens zu machen.
Kurt wurde sentimental und drückte: 'Yesterday, all my troubles seemed so far away’ …
Der neue Tag war knappe zwei Stunden alt, als ich mein letztes, von Kurt spendiertes Bier aus hatte, aufstand und die Jukebox den Beat Mick Jaggers ausspie: 'Baby, better come back, maybe next week; can 't you see – I'm 'all – a losing sleep; I can get no! Satisfaction! Oh no, no, no!'
Die Frau in der Balkontür war natürlich nicht mehr da, als ich zuhause ankam.
Ich setzte mich noch an den Computer bis der Krach in der Nachbarwohnung wieder losging.

Irgendwann am nächsten Abend, nachdem ich mich wieder mal erfolglos beworben, aber erfolgreich betrunken hatte, einigermaßen ausgenüchtert, zog ich die Schublade mit den Träumen darin wieder auf.
Klar, im kaufmännischen Bereich hätte es den einen oder anderen Job für mich gegeben, und der Vermittler auf dem Arbeitsamt hatte mir sogar vorgeschlagen, mich
kaufmännisch weiterzubilden, aber das war alles nicht das, was ich mir als mein weiteres Leben vorstellte – zudem kam ich mit meinem Roman, an dem ich ernsthaft arbeitete, auch nicht weiter.
Ganz unten und noch mit der Schreibmaschine geschrieben, lag ein angefangener Roman. Doch zuerst fiel mir meine Pistole in die Hände, die Steyr, Modell M40-A1, und ich setzte sie an meine Schläfe.
Was sollte es denn noch?
Aber abdrücken konnte ich nicht.
So saß ich erst mal da, wie lange ich die Pistole an meine Schläfe gehalten hatte, weiß ich nicht, aber ich legte sie wieder zurück.
Wäre ja noch schöner, mich unterkriegen zu lassen!
Mein Roman handelte von der Geschichte einer Prostituierten – auf Jutta adaptiert – die das Schlimmste getan hatte, was eine Dirne tun kann. Seit dem findet sie keine Ruhe, bis ja, bis was eigentlich?
Es fehlte noch eine brillante Idee …
Mit einer Hand die aufgewärmte Fertiggulaschsuppe aus dem Sonderangebot des nahen Supermarktes löffelnd, las ich in dem alten Manuskript.
Damals wollte ich eigentlich nur einen weiblichen 'fliegenden Holländer' oder eine 'Wiedergängerin' schaffen. Ich hatte einfach angefangen zu schreiben und die Heldin nach Jutta, meiner damaligen Frau geformt, damals, als ich noch glaubte, in sie verliebt zu sein, als sie noch keine Hängebrüste gehabt hatte, als sie noch nicht mit einem anderen im Bett gewesen war … des Dichters profane Rache, aber es blieb beim ersten Kapitel.
Ich sollte eigentlich mal wieder ins Theater gehen; - warum war es um Harold Pinter eigentlich so still geworden?
Am Ende dieses ersten Kapitels stand die Prostituierte im Mondlicht auf dem Balkon wie damals beim Kollegen William Shakespeare die Julia in Erwartung ihres Romeos.
'Das Ding ist eigentlich nicht schlecht‘, dachte ich, als ich den Teller abwusch und die leere Suppendose in den Mülleimer warf, 'ich sollte es eigentlich in den Computer tippeln, überarbeiten und weitermachen.'
Der gefräßige Bottich verschlang die Dose, aber der Deckel ging nicht mehr zu. Zeit den Müllschlucker aufzusuchen.
Irgendwas fehlte noch an dem Roman, etwas magisches, mystisches – ich hatte mir doch neulich das 'Buch der Flüche' gekauft, vielleicht stand da was Verwertbares drin!
Na, gut. Ich ging mit dem Eimer nach draußen, dabei glitt mein Blick wie von selber zu dem Haus gegenüber, und ich zählte die Balkone ab. Achtes Stockwerk ganz links, das Fenster dahinter war dunkel.
Ich fütterte den Müllschlucker, ging zurück in meine Wohnung, legte mich aufs Bett um noch ein wenig nachzudenken und schaltete den Fernseher an. Ein gewöhnlicher Arbeitnehmerfeierabend, wie damals, als ich noch ordentlich zur Arbeit ging, nahm mich zu sich, ich schlief irgendwann ein und erwachte von dem Gelächter eines unsichtbaren Publikums während einer Midnightcomedy. Gelegentlich sollte ich mal eine Mimik erfinden, die den Fernseher abschaltete, wenn ich eingeschlafen war.
Langsam fand ich wieder zu mir, quälte mich vom Bett und in die Küche, einen schönen, starken Kaffee zubereiten.
Bisher hatte ich es immer durchgehalten, täglich einige Stunden zu schreiben, und ich ärgerte mich, heute eingeschlafen zu sein. Seit der Lesung bei Uschi hing ich nur noch herum und träumte von den wundervollen Gedichten der Lyrikerin, die gelesen hatte, von der Liebe bis zum Tod.
Verdammt, recherchieren wollte ich noch, recherchieren im Buch der Flüche!
Während die Kaffeemaschine unmelodisch vor sich hin gurgelte und der Sprecher im Küchenradio den Hörern Mut zusprach, die in dieser, der ersten Stunde des Tages, noch dazu in solch einer schönen, lauen Sommernacht, irgendwo ihre Nachtschicht abzureißen hatten, lehnte ich, in dem Buch der Flüche blätternd, an der Spüle.
Hatte sich was mit lauer Sommernacht, schwül war es, schweißtreibend.
Irgendwo hing ein Gewitter wie drohendes Unheil in der Luft.
Im Buch der Flüche war von einem 'Dirnenfluch' die Rede – interessant, was es alles gibt, wenn man dran glaubt!
Ich legte das Buch weg und sah auf das Haus gegenüber.
Das linke Fenster des achten Stockwerkes war erleuchtet, leicht rötlich, und die Frau stand wieder in der Balkontür. Der laue Nachtwind zupfte wie streichelnd an ihrem halbdurchsichtigen Gewand. Die Frau hatte ihren Arm zu einem winkenden Gruß erhoben, sie grüßte in meine Richtung.
'Verdammt', dachte ich, 'das ist der Traum eines jeden Mannes! Eine schöne Frau winkt dir zu‘!
Mit einem Faucher tat die Kaffeemaschine kund, dass sie das Wasser durch hatte. Ich nahm den Blick von der Frau gegenüber, die Kanne aus der Kaffeemaschine und einen Becher von der Spüle. Mit einer schnellen Bewegung goss ich den Becher voll, hob ihn hoch und prostete der Frau gegenüber zu.
Die Frau drüben hatte plötzlich eine Flasche in der Hand, eine Sektflasche, und hob sie in meine Richtung. Kein Zweifel, sie meinte mich. Ich stellte meinen Kaffeebecher ab, steckte Tabak und Hausschlüssel ein, verließ die Wohnung, rannte die Treppen herunter und über die Straße.
Drüben, an dem Haus gegenüber summte der Türöffner schon als ich ankam, und ein Fahrstuhl war auch schon da.
Ich fuhr in die Höhe, und da stand sie als Silhouette in der Wohnungstür, mit einer Champagnerflasche in der Hand, in zartem Negligé, von rötlichem Licht übergossen.
Schweiß brach mir aus den Poren.
Lag es an der Erwartung oder an der Schwüle der Sommernacht?
„Hallo“, sagte die Frau im Negligé mit leiser, sonorer Stimme, „schön, dass du endlich gekommen bist.“
Ich sagte nichts, stand nur da und wartete, dass alles seifenblasenmäßig zerplatzen würde, wie es sich für einen ordentlichen Traum dieser Art gehört.
„Komm' doch herein.“
Ihre Stimme klang wie Samt.
Es war Jutta, die da im rötlichen Licht ihres Flurs vor mir stand, mit schwarzer Perücke und hautfarbenem Büstenhalter unter ihrem Negligé!
Ich folgte ihr in ein Appartement, angefüllt mit der Musik Vivaldis, dem Duft von Ylang-Ylang und einem großen runden Bett.
Das war es also!
„Es ist nicht so, wie du jetzt denkst“, sagte sie. Mit einem kurzen Knall löste sich der Korken aus der Flasche, „vielleicht sollten wir uns wieder vertragen.“
"Ach du jeh.“
„Auch nicht, wenn ich dir alles erzähle, ich meine, wie es wirklich war?“
„Da bin ich aber gespannt“, sagte ich.
Jutta goss langsam zwei Gläser voll.
„Ich kann nicht mehr weiter“, sagte sie, „nichts geht mehr. Es passiert nichts, es kommt niemand, es ist, als läge ich in einer geschlossenen Schublade. Abends stehe ich wie gelähmt auf dem Balkon und finde keine Ruhe.“
Sie gab mir ein Glas.
„Seit dieser dummen Sache damals, bin ich in dieses 'Gewerbe' hineingerutscht …“
„Du meinst die Nummer mit dem Schlauchbootvertreter?“
„Woher weißt du das?“, ihre Augen weiteten sich.
„Ich ahne Zusammenhänge. – Fandest du das gut, damals?“
„Naja 'hätte ich man doch nicht tun sollen.“
„Allerdings!“
„Du hast doch immer nur an deiner blöden Schreibmaschine gesessen, wenn du zuhause warst, du begnadeter Schriftsteller, du!“
„Vernahm ich da einen leicht hämischen Unterton? Jedoch, du gabst mir ein Stichwort! Ob ich begnadet bin oder nicht, wird sich herausstellen. Ich glaube kaum, dass diese Vorgehensweise der rechte Weg ist, sich wieder mit mir zu vertragen. Aber mach' ruhig weiter mit deiner Geschichte, ich ahne, wie gesagt, Zusammenhänge! – Du bist dann also hin und wieder zu deiner Freundin gegangen und hast ihr 'ausgeholfen', oder was?“
„Naja, aber nicht lange. Weißt du, die hat dann doch noch einen gefunden, der sie geheiratet hat.“
„… und hat dann gar munter weitergemacht.“
„Ja – Nein – nur ein oder zweimal – weißt du, ihr Kerl ist irgendwie misstrauisch geworden.“
„Ach? Die wohnen nicht zufällig neben meiner jetzigen Wohnung?“
„Zufällig ja.“
„Und dann?“, unterbrach ich und trank einen Schluck in Erwartung, dass sich diese hämische Geschichte aus der Vergangenheit wie mit glühenden Nadeln in mein Bewusstsein bohren würde.
Nichts dergleichen.
„Naja, am Anfang ging es ja noch ganz gut, aber dann …“
„Ach, trotz deiner Hängetitten?“
„Die hatte ich damals ja noch nicht! Ich weiß auch nicht, wie das so schnell gekommen ist.“
„Aber ich!“
"Klar doch! Du bist überhaupt der Größte! Du weißt mehr, als die Ärzte, die ich deswegen aufgesucht habe!“
„Na, da lugt doch ein Hauch von Sarkasmus hervor! – Aber erzähl ruhig weiter, ich lausche andächtig!“
„Naja, ich habe einen Mann ruiniert. Er hat sich in mich verknallt, sich scheiden lassen, total überschuldet und wollte mich unbedingt retten.“
„Und du hast ihn hingehalten, solange er noch was hatte und ihn dann weggeworfen und ausgelacht.“
Jutta hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Was sollte ich denn machen? Ich brauchte das Geld doch. Und außerdem, wenn der so blöd ist …“
„Das schlimmste, was eine Frau – und nicht nur deines Gewerbes – tun kann“, sagte ich langsam, „ist, wenn sie nicht verhindert, dass sich ein Mann in sie verliebt, und sogar seine Ehe kaputt macht. – Du bist dem 'Dirnenfluch' anheimgefallen. Der besagt, dass du Hängebrüste kriegst, also für einen aufrechten Mann unattraktiv wirst, sozusagen als Strafe.“
„Quatsch“, sagte Jutta, „du glaubst doch nicht, dass ich daran glaube“.
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: Du müsstest einen Mann finden, der noch nie bei einer Prostituierten war und mit dem koitieren. – 'wird allerdings schwer sein, so einen zu finden“, sagte ich und trank das Glas leer.
Die Gewitterluft stand im Raum wie festgerammt, nicht nur die bereitete mir körperliches Unwohlsein.
„Ah, ja. Das leuchtet ein“, murmelte Jutta, „woher weißt du das?“
„Steht im Buch der Flüche. Hab' ich mir neulich gekauft.“
„Ach so. Ich glaub' da zwar nicht dran, aber versuchen können wir's ja mal. Du hast mir mal gesagt, dass du noch nie – oder hast du mich da angelogen? Oder kannst du etwa wieder nicht, wie damals, als wir es im Fahrstuhl tun wollten?“
Jutta ließ ihr Negligé fallen. Mit Sicherheit war sie inzwischen total pleite, und versuchte sich wieder bei mir einzuklinken.
Es war keine Grazie, keine Anmut in ihren Bewegungen, sie löste ihren BH, und die Hängebrüste fielen heraus wie die Hüllen eines Schlauchbootes – allerdings nachdem jemand die Luft abgelassen hatte.
„Oh Gott“, stöhnte ich, nahm ihre Brüste in die Hände und ließ sie wieder fallen, sie klatschten an ihren Körper. Sie setzte sich auf das Bett und ließ sich zurückfallen, ihre Brüste rollten zu den Seiten.
Diese Frau hatte ich einst geliebt!
Sie kam wieder hoch, mit schaukelnden, wabbelnden Brüsten, kniete sich vor mir nieder und begann meine Hose zu öffnen.
„Lass' das!“, knurrte ich.
„Warum? Du hast es früher doch immer gern gemocht! Du warst ganz geil darauf! – Oder hast du das auch gelogen? Du Scheißkerl! Kannst du etwa wieder nicht?“
„Ich lüge nie, das weiß jeder! Ich habe aber trotzdem einen miesen Charakter. Außerdem ist es mir zu schwül heute, da liegt ein Gewitter in der Luft! Danke für den Champagner.“
„Und was ist die zweite Möglichkeit?“, fragte Jutta.
„Das wirst du sehen!“
Ich griff mir die Flasche, ging nach Hause und suchte mir nochmal den Dirnenfluch aus dem Buch der Flüche heraus:

Dieser Fluch kann aufgehoben werden,
wenn ein begnadeter Schriftsteller sich der Dirne
annimmt und ihre Geschichte aufschreibt.
Wie er sich den Schluss wünscht, so soll er ihn schreiben -
und die Geschichte wird so enden.​

Ich holte die Schreibmaschine aus dem Keller und das Romanfragment aus der Schublade, spannte das letzte Blatt ein, die Stelle, an der die Heldin meines Stückes auf dem Balkon steht, schaltete die Schreibmaschine an und schrieb:
Springt verzweifelt vom Balkon.

'Eine Kurzgeschichte ist auch ganz hübsch‘, dachte ich, 'ich glaube zwar nicht an die zweite Möglichkeit, aber wir werden sehen', schaltete die Maschine wieder aus und ging in die Küche, lauwarmen Kaffee trinken, ‚zur Not kann ich das Ding ja der Agentur schicken, vielleicht gibt’s da ‘n Bisschen Geld für.‘
Zwei Becher später, als der erste Blitz weit entfernt aus dem nachtschwarzen Himmel zu Boden fuhr, hielt ein Notarztwagen mit funkelndem Blaulicht unter der linken Balkonreihe des Hauses gegenüber.
Selbst ich brauchte eine Weile, bis ich das Buch der Flüche in die Hand nehmen konnte.
Sollte da doch was dran sein?
Einige Blitze und Donner später, und lange nachdem man einen leblosen Frauenkörper weggebracht, sich die neugierig schauenden Menschen hinter ihre Fenster zurückgezogen und die Lichter gelöscht hatten, schickte ich mich an, das zu tun, was die Kollegen Bukowski und Hesse aus solch einer Situation heraus auch zu tun pflegten; - ich machte mich auf, einen trinken zu gehen.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Horst,
herzlichen Dank für die Sterne und das positive Feedback.
Mehr davon kannst Du gerne haben, denn das Ding mit der Frau in der Balkontür ist einer Storytrilogie entrissen. Ich schicke Dir gern auf Unterhaltung den Anfang; - für den Rest brauche ich allerdings Deine Mailadresse, weil das Ding ist zu lang.
Herzlichst
Yours Hagen
 

Hagen

Mitglied
Wieder mal abgelinkt





Ich blieb danach aus Frust drei Tage im Bett, weil mein Manuskript abgelehnt worden war und es mir auch nicht gelungen war, Horst am Flipper zu schlagen. Danach muckste ich zu später Stunde ein Wenig am Auto rum und verbrannte mir prompt beim Nachfüllen des Kühlwassers die Hand. Trotz meiner verbrannten Hand suchte ich die Notdienstapotheke auf. Es dauerte eine Weile, bis die leicht verschlafen dreinblickende Apothekerin entlang kam und die kleine Klappe öffnete. Ich fragte nach einer Salbe gegen Brandblasen und steckte die Hand durch die Klappe.


„Das sieht ja schlimm aus! Moment, ich lasse sie mal rein“, sagte die Apothekerin.


Die Türen glitten zur Seite. Etwas irritiert betrat ich die Apotheke. Der Kittel der Apothekerin war von blendendem Weiß, ihre Haare trug sie rund um den Kopf hochgesteckt, ohne festigendes Haarspray. Eine zeitintensive Frisur, die im Lauf der Nacht langsam zerfällt. Einige Löckchen fielen bereits in Hals und Nacken und zwei, drei Haarsträhnen umwehten ihre Augen bei jeder Bewegung. Diese Bewegungen waren sorgsam, präzise dimensioniert und drauf bedacht, nichts zu berühren oder umzustoßen, als sie bedächtig hinter die Theke glitt.


„Dann lassen sie mal sehen! Wie ist das denn passiert?“


Sie strich mir ungefragt etwas Salbe auf die Hand und klebte ein Pflaster auf die Brandblase.


„Kleiner Unfall beim Heilfasten“, hörte ich mich sagen. Irgendwie war ich auf einmal gut drauf und hatte den Wunsch, die schöne Apothekerin zum Essen einzuladen. Sie würde bestimmt nicht rumzicken wie Irene und auf rein vegetarischem Zeug bestehen.


Die Apothekerin lachte hell auf.


„Dass sie Heilfasten machen, nehme ich Ihnen nicht ab!“


Einfach zum Essen einladen, also, das lief absolut nicht. Da musste bei dieser Frau schon originelles Beiwerk her. Überhaupt war es Zeit für eine kleine Affäre meinerseits, da Irene mich ja auch betrog.


„Naja, wir haben anschließend Feuerlaufen gemacht, ging bei mir auch glatt durch, die Nummer mit barfuß über glühende Kohlen. Ich war etwas skeptisch danach und hab’ mal eine der Kohlen angefasst. – Tja ...“


Irgendwie kam sie mir bekannt vor, vielleicht hatte ich ihr mal Alstromeria, Freesien, Calla oder Eustoma verkauft.


„Auch das glaube ich ihnen nicht!“


Lachfältchen bildeten sich um die schönen Augen der Apothekerin, „aber eine hübsche Geschichte. Im Grunde genommen ist es mir egal, ob die Geschichte stimmt, oder nicht. Hauptsache sie ist gut.“


Ergänzend zu den Lachfältchen hob sie ihre Mundwinkel und legte die Schneidezähne mit mildem Lächeln frei.


„Stimmt. Die Wahrheit ist meistens etwas zu langweilig. Ich musste einen Grund finden, sie zu sehen, um Ihnen ein Lächeln zu entlocken. Darum habe ich den Kühlwasserbehälter meines Autos mal etwas leichtsinnig aufgeschraubt ... Tja“, ich zuckte die Achseln, „und dann möchte ich sie gerne zum Essen einladen.“


In ihren Augenwinkeln verstärkten sich die lächelnden Fältchen. Das Gestell der Brille, die sie trug, war von konventionellem, strengem Schwarz, aber einige farbige Tupfer schwächten den strengen Ausdruck etwas ab, wie ein kleiner Ausflug in die Flippigkeit.


„In der Tat. Aber welche Möglichkeit hätte ich sonst gehabt, sie zu sehen?“


„Ach sie ...“, ihre ferrariroten Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, „wenn ich mal Zeit habe, können wir mal essen gehen … und wir können hinterher noch etwas Originelles tun …! – Haben sie sonst noch einen Wunsch?“


„Keinen, den sie mir erfüllen würden. Nur, dass sie am Wochenende mal mit mir essen gehen ...“


Ganz vorsichtig hob sich ihre linke Augenbraue, ‘sprich’s aus!’


Ich hätte sie gerne gefragt, ob ich einen Kuss von ihren ferrariroten Lippen hätte pflücken dürfen, wenn nicht jetzt, dann später.


„Vielleicht möchten sie ja mal mit mir picknicken“, fragte ich vorsichtig, „auf lauschiger, mondlichtdurchfluteter Lichtung mit einem Fläschchen Prosecco, in einem Wald aus knorrigen Bäumen und mit wispernden Farnen ...“


Ich suchte noch nach einem originellen Spruch, aber da kam ein grobschlächtiger Kerl, der aussah, als hätte einer an seinem Gesicht schnitzen geübt, herein und wollte ganz schnell ein Präparat gegen Falten haben. Eins aus der Fernsehwerbung, die man täglich nehmen sollte, um eine glatte Haut zu kriegen und bei denen es auf einen Tag nicht ankommt.


Die Apothekerin löste ihr gespanntes Lächeln, sie trennte ihren Blick von mir und wandte sich dem Mann mit den Falten zu.


Ich schaute nachdenklich in ein kleines Aquarium mit Goldfischen und stellte mir vor, mit der Apothekerin in einer niveauvollen Bar nach dem Essen zu später Stunde noch einen Whisky zu trinken ... der Klavierspieler spielt as time goes by ... der Barkeeper gähnt ein wenig verhohlen während er an irgendwelchen Gläsern rumpoliert ... schließlich gehen wir Arm in Arm zum Taxi ... ich halte ihr die Tür auf, weil der schofelige Fahrer seinen Hintern nicht raus kriegt ... sie gleitet ins Taxi, nennt ihre Adresse und schmiegt sich an mich ...


Um nicht verrückt zu werden, beobachtete ich eine Goldfischdame, die ihre zahlreichen Babys unter einen Stein in der Ecke des Aquariums trieb, oder war es ein Herr?


Egal.


Die kleinen Fische kümmerten sich überhaupt nicht darum.


Auch egal.


Der Mann kaufte das Präparat ging wieder raus.


„Hab‘ doch glatt vergessen, die Tür zu schließen“, Die Apothekerin lächelte, machte irgendwas hinter Theke, worauf ein metallisches Geräusch an der Tür ertönte.


„So, jetzt stört uns keiner mehr.“


Die Mundwinkel der Apothekerin glitten wieder in die Höhe.


Ich sah sie herausfordernd an.


„Tja ...“, jetzt musste schnell etwas Originelles her. Ich zahlte mit einem großen Schein und steckte die angebrochene Salbentube ein.


Sie tat den Schein in die Kasse und gab mir das Wechselgeld.


„Sie habe gar nicht geprüft, ob der Schein echt ist. Ich mache das manchmal, Geldscheine fälschen. Habe ich von meiner Oma gelernt, wir haben damals Rabattmarken gefälscht.“


„Ach, tatsächlich?“


„Wissen Sie, wenn meine Oma mich damals zum Kindergarten gebracht hat, hab ich immer auf dem Weg Granatsplitter gesammelt. Meine Oma kannte sich da aus. Sie war im Krieg Flakhelferin. Sie hat mir sogar rein theoretisch beigebracht, wie man eine Flak abfeuert. Egal. Die Granatsplitter habe ich auf dem Heimweg bei einem Buntmetallhändler gegen Zigarettenbildchen eingetauscht, vorzugsweise die mit Flugzeugen. Die habe ich dann wiederum alleine gefälscht und eingetauscht, bis ich eine Serie echter Bildchen komplett hatte. – Gehen Sie denn jetzt am Sonntag mit mir essen?“


„Und was machen wir anschließend?“


Ihr Blick loderte mir entgegen. Es war kein sinnliches Begehren, es war ein Begehren nach etwas ungewöhnlichem, originellem, nicht Alltäglichem, nicht was von jedem Kerl kommt, der alles anbaggert, was zwei Brüste hat.


Bisher zeichnete sich eine heiße Nacht dynamisch ab, nicht so ein rumgezicke wie mit Irene, die ich bisher zum Essen eingeladen hatte. Diese Frau wollte etwas Originelles, fast hätte ich ‘Dynamitfischen’ gesagt. Ins Bett gehen und guten Sex haben war natürlich auch total daneben.


„Wir könnten eine Zockerrunde hoch nehmen“, sagte sie, „wäre ein gelungener Abschluss für einen interessanten Abend. Meinen sie nicht auch?“


„Klar, das machen wir. Ist mal was Anderes, eine Zockerrunde hoch nehmen!“


War natürlich ins Blaue geschossen, und nicht ernst gemeint. Ich erwartete einen Lacher, so einen, den der Zuschauer abgibt, wenn während eines humorigen Films einer in eine Tonne fällt.


Die Apothekerin blieb ernst.


„Genau das machen wir.“


„Diesen Sonntag habe ich leider schon was vor. Wie wäre es mit Sonnabend?“


Sie lächelte verschmitzt.


„Ich denke, das klappt! Geben sie mir sicherheitshalber ihre Telefonnummer? Ich rufe sie dann an. Nur für den Fall der Fälle!“


Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn mir. War tatsächlich eine Telefonnummer drauf. Und ihr Name: Rosemarie von Ehrenkroog. Ein schöner Name. Ich schrieb meinen Namen und Telefonnummer auch auf einen Zettel.


„Jetzt nehme ich sie beim Wort“, fuhr ich fort, „erst gehen wir essen und dann nehmen wir eine Zockerrunde hoch. Haben sie schon einen Plan? Eine Pistole nebst Munition habe ich. Den Rest besorgen sie.“


„Woher haben sie denn eine Pistole?“, fragte sie.


„Wissen sie, ich bin nebenberuflich Taxifahrer, weil der Blumenladen nicht genug einbringt. Habe ich mal einem Fahrgast weggenommen, eine Steyr M-A1 Pistole Modell M40-A1“, sagte ich mit treuherzigem Gesicht, „der hat sie plötzlich gezogen und wollte mein Wechselgeldportemonnaie haben. Silvester war das. Ich hab‘ sie ihm weggenommen, ihm eine geknallt und ihn dann aus dem Taxi geschmissen. Mitten im Wald bei einer Saukälte. Der macht sowas bestimmt nicht mehr wieder.“


„Sind Sie denn nicht zur Polizei gegangen, den Mann anzeigen und die Pistole abgeben? Bei Ihnen kann man nämlich nie wissen, ob Sie nur ein Märchen erzählen, oder es ernst meinen.“


„Zuviel Nerverei, so mit zur Polizei gehen und Protokolle ausfüllen! – Außerdem weiß doch jeder, dass ich niemals lüge! Wir können die Pistole gut gebrauchen, wenn wir die Zockerrunde hochnehmen.“


„Ja, das stimmt! Den Plan sollten wir allerdings gemeinsam erarbeiten. Nachher teilen wir die Beute halbe halbe. Das trifft sich gut, mein Auto ist nämlich irreparabel kaputt, ich brauche unbedingt ein Neues.“


Sie sah mir verschwörerisch in die Augen als ich den Zettel mit ihrer Telefonnummer sorgsam faltete und einsteckte.


„Eine ruhige Nachtschicht noch ...“


Meine Stimme war ein ganz klein wenig heiser als ich sagte: „Danke. Das wünsche ich Ihnen auch.“


Ich drehte mich langsam um und ging zur Tür. Sie schaute mir versonnen nach, ich sah es im Spiegel der Glasscheiben in den Türen.


„Nicht vergessen, nach dem Essen nehmen wir eine Zockerrunde hoch“, sagte sie und die Türen glitten zur Seite, „ich nehme sie beim Wort!“


„Was denn sonst?“


Ich fühlte mich ein wenig beklommen, als ich in die Nacht hinaustrat.


Das Rosemarie von Ehrenkroog mit mir eine Pokerrunde hochnehmen wollte, glaubte ich nicht im Ernst, überhaupt nicht.


Ich sah sie in der nächsten Zeit nicht mehr, aber sie rief mich am Sonnabend, als ich mich gerade mal wieder mit Irene gezofft hatte, an und wollte sich nur nochmal vergewissern, ob ich sie nicht vergessen hätte. Ich sollte meine geladene Pistole mitbringen, weil wir nach dem Essen eine Zockerrunde hochnehmen wollten, sie wäre ja schon ganz gespannt und hätte die anderen Sachen schon besorgt.


„Welche anderen Sachen?“, fragte ich und freute mich, dass Irene mit unbekanntem Ziel abgedampft war. Sicher zu ihrem Liebhaber, aber das war mir aus der momentanen Situation heraus egal.


„Naja, ich habe zum Beispiel ein Gas besorgt, das deine Stimme verfälscht. Du bist doch als Florist und Taxifahrer, recht bekannt. Da soll man dich doch nicht an deiner Stimme erkennen! Ups, jetzt habe ich einfach ‚du‘ gesagt, ist das in Ordnung?“


„Natürlich. – Gut, dass du dran gedacht hast!“


„Och, ich habe sonst auch an alles gedacht“, plauderte Frau von Ehrenkroog weiter, als würde sie einen Einkaufszettel durchsprechen, „da ist erst mal die Skimütze oder Sturmhaube, oder wie das heißt, und einen Pullover, den du später ausziehen und wegwerfen kannst.“


„Was?“


„Ja, Moment, ich bin noch nicht fertig! – Ich habe rausgefunden, dass am Sonnabend immer im Hinterzimmer der Bierschwemme illegal gepokert wird. Da liegen Summen auf dem Tisch, da träumst du von! Das Hinterzimmer hat einen zweiten Eingang zum Garten. Du kannst da ganz leicht rein, indem du mit einer Axt die Tür einschlägst. Dann kannst du die Pokerrunde hochnehmen. Ich würde vorschlagen, du schießt erst mal die Lampe über dem Tisch aus und sammelst dann das Geld, das auf dem Tisch liegt, ein und packst das in einen unauffälligen Jutesack. Die Axt habe ich, den Jutesack auch, und dann fahren wir mit Fahrrädern in die Kleingartenkolonie hinter der Bierschwemme, ganz unauffällig …“


„Na, toll!“, unterbrach ich, „und wo kriegen wir die Fahrräder her?“


„Habe ich auch schon besorgt! Die stehen am Bahnhof, ganz unauffällig. – Wir radeln dann zu mir nach Hause und … äh … trinken ein Glas Rotwein und dann … äh … schauen wir mal.“


„Na, wenn das mal gut geht.“


„Was soll denn schief gehen? Du hast doch eine Pistole, hast du jedenfalls gesagt. Oder hast du mich da etwa angesponnen?“


„Weiß doch jeder, dass ich niemals lüge! Da bietet sich meine Steyr M-A1, doch förmlich an. Da sind noch acht Schuss drin. Allerdings habe ich noch nie daraus geschossen.“


„Die Pistole ist ein technisches Gerät“, sagte Frau von Ehrenkroog, „da kann man nie wissen!“


„Die Frage bei einem technischen Gerät muss nicht lauten warum es kaputt geht“, antwortete ich, „sondern wann! – Aber den einen Schuss wird sie schon noch durchhalten, denn umlegen werde ich keinen!“


„Das verlangt ja auch niemand! Aber glücklicherweise wissen das die Anderen nicht.“


„Eben! – Haben wir’s? Oder gibt es noch was zu besprechen?“


„Details können wir beim Essen besprechen. Ich glaube aber an alles gedacht zu haben.“


„Ja, ich auch. Weißt du, liebe Rosemarie, langsam beginnt mir die Sache auch zu gefallen! Bisher hieß es nämlich immer: Mach du mal eben! Mit Betonung auf ‘mal eben‘. – Das eine Frau etwas organisiert und dabei an alles denkt, sogar an ein Gas, welches die Stimme verfälscht, ist für mich absolut ungewöhnlich.“


„Da kannst du mal sehen, was Frauen so alles können! – Sehen wir uns in zwei Stunden beim Chinesen am Bahnhof?“


„Natürlich! Und dann lassen wir die Kuh fliegen.“


„Prima! Ich freue mich!“


„Ich auch!“


Ich hätte gerne noch ein paar Wortblümchen abgelassen, aber Frau von Ehrenkroog legte einfach auf.


Was half’s?


Ich zog mich um, den guten Anzug mit ganz normaler Tiger of Sweden – Krawatte und steckte die Pistole ein. Die Krawatte könnte ich bei dem Hochnehmen der Zockerrunde unter dem Pullover tragen und anschließend wegwerfen. Ich konnte sie sowieso nicht mehr sehen, zu spießig. Für später band ich probehalber eine der Sorte Schlipse um, wie Ganoven, die sich für geschmackvoll halten sie tragen, wenn sie nicht wie Ganoven aussehen wollen. Irgendwie mochte ich derartige Krawatten, aber Irene hasste sie, ich sollte im Blumenladen lieber modische Krawatten tragen, wegen der Kundschaft. Aber ich war mir sicher, dass Frau von Ehrenkroog diese Krawatten auch mochte.


Sodann stopfte ich mir Watte in die Ohren und feuerte, als Irene nicht da war, um mal eben was im Laden zu kontrollieren, aus der Steyr einen Schuss ab. Ging einwandfrei, nur in der Wand unserer Küche war nun ein Loch. Machte nix, ich würde gelegentlich einen Zierteller drüber hängen. Ich nahm die Watte aus den Ohren, öffnete das Küchenfenster, und steckte die Pistole ein.


Und dann kam Irene wieder und behauptete einen Schuss gehört zu haben.


„Wie, Schuss?“, fragte ich, „ich habe nix gehört.“


„Das war aber ganz deutlich“, meinte Irene, „wieso stinkt das hier so, als hätte man eine Kanone abgefeuert? – Na, du wirst schon sehen!“





Ich war sogar schon fünf Minuten eher da, beim Chinesen. Frau von Ehrenkroog wartete schon und schaute demonstrativ zur Uhr. Ich nahm sie kurz in den Arm, setzte mich ihr gegenüber hin und bestellte, weil der Kellner sofort herbei gewieselt kam, zwei Tsingtao – Bier und eine ‚Verlobungsplatte‘.


„Ist dir doch recht, oder?“


Sie nickte und der Kellner entfernte sich.


„Wenn du nachher, wenn wir die Zockerrunde hochnehmen, auch so kurz entschlossen bist, habe ich da keine Bedenken. – Zeig mir bitte erst mal die Pistole!“


Das tat ich. Sie nahm die Waffe, öffnete sie routiniert und zählte die Geschosse im Magazin.


„Sehr gut! Du scheinst es also erst zu meinen!“


„Natürlich! – Gehen wir anschließend zu dir oder zu mir?“


Sie senkte die Pistole unter den Tisch weil die Biere kamen. Der Ober schenkte etwas lieblos ein und meinte: „Die Verlobungsplatte dauert noch einen kleinen Moment. Der Chef möchte es ganz besonders schön für sie machen.“


„Das ist nett“, meinte Frau von Ehrenkroog, „wir haben aber mächtig Hunger.“


„Gut Ding will lange Weile haben“, sagte ich und hob mein Glas während sich der Kellner wieder entfernte, „‘Egészségedre‘, meine Liebe.“


„Was?“


„Ach so. In Ungarn sucht man beim Anstoßen zuerst den Augenkontakt, hebt das Glas auf Augenhöhe und sagt “Egészségedre” was so viel wie "Prost" bedeutet. Bei der Aussprache von “Egészségedre” muss man aber vorsichtig sein, denn die falsche Aussprache kann auch schnell "für deinen Hintern" anstatt "für deine Gesundheit" heißen.“


„Ah ja. – Jámas! Ich war kürzlich mal in Griechenland. Warst du schon mal in Ungarn?“


„Noch nie. Was soll ich da auch? Ich finde nur den Trinkspruch so schön. “Egészségedre”, das hat doch was. Weil die Österreicher ihren Sieg über die Ungarn mit dem Anstoßen mit Bier feierten, wurde dieser Brauch in Ungarn verboten. Wir sind aber nicht in Ungarn, sollten deshalb Anstoßen und endlich trinken.“


„Sollten wir.“


Sie gab mir die Pistole wieder, ich stellte mein Glas ab, steckte die Waffe wieder ein und hob mein Glas erneut. Wir stießen an und tranken. Die Verlobungsplatte kam auch bald. Wir aßen schweigend und mit Genuss, und dann sollten wir noch einen Digestif zu uns nehmen, die Zockerrunde hochnehmen und zu ihr nach Hause fahren.


Klar, dass ich einverstanden war und während des Digestifs noch mal schnell zur Hochform auflief.


Frau von Ehrenkroog sah mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf.


„So, können wir dann die Zockerrunde hochnehmen und dann zu mir fahren?“


„Wir können natürlich auch zum Baggersee fahren und kleine Steinchen ins Wasser werfen“, meinte ich.


„Ach, jetzt bist du doch zu feige, die Zockerrunde hochzunehmen? Habe ich mir gleich gedacht! Die Männer sind doch alle gleich! Erst große Sprüche machen und dann kneifen!“


„Sollte ein Witz werden. Natürlich nehmen wir die Zockerrunde hoch! – Aber nun sollten wir uns wirklich beeilen!“


Wir gingen unauffällig, wie ein verliebtes Paar durch den Tunnel unter den Gleisen hindurch. Ich nahm ihr einen der beiden Jutesäcke, die sie beim Chinesen sorgsam verborgen hatte, ab und nahm sie in den Arm. Sie ließ es geschehen bis wir wieder aus dem Tunnel herauskamen und zum Fahrradständer gingen. Ich zog mich um wie einer, der sich zu einem ganz normalen Ausflug mit dem Fahrrad umzieht. Frau von Ehrenkroog steckte meine gute Jacke einfach in einen Jutebeutel und gab mir den Anderen. Dort war die Axt drin und eine Sturmhaube. Sie schloss zwei alte Hollandräder auf und gab mir einen Pullover. Ich band meinen geschmacklosen Schlips ab und die Tiger of Sweden – Krawatte um, zog den Pullover an und meinte: „Jetzt können wir eigentlich.“


„Moment noch!“


Frau von Ehrenkroog fummelte eine Sprühdose aus ihrem Jutebeutel, „da hätte ich doch fast das Gas vergessen, dass deine Stimme verstellt.“


„Ah, ja. Helium.“


„Quatsch, Helium! Helium ist leichter als Luft, deshalb bekommst du dadurch auch eine Micky-Maus-Stimme und man nimmt dich nicht ernst. Zudem hast du nach ein paar Sätzen deine alte Stimme wieder, und das wollen wir ja nicht! Du kriegt ein Gas, das schwerer ist als Luft! Schwefelhexafluorid! Es ist allerdings schwer, das Zeugs in Sprühdosen zu kriegen. Du musst intensiv einatmen!“


„Was?“


„Schwefelhexafluorid ist ein relativ inertes, ungiftiges Gas. Es verursacht eine tiefere Stimme, solange man es in ausreichender Menge in den Lungen hat und zum sprechen benutzt. Da die Abatmung von Kohlendioxid verhindert wird und es als Gas mit höherer Dichte als das Atemluftgemisch ist, verbleit es in der Lunge und verdrängt den Sauerstoff. Du bekommst auch eine schöne, tiefe Stimme, musst aber aufpassen, dass du nicht erstickst! Du wirst nachher einen Handstand machen müssen um das Gas wieder aus deiner Lunge auszulassen! – Nun mach mal den Mund auf, es guckt gerade keiner!“


„Na, da bin ich aber gespannt!“


Sie zischte mir etwas von dem Zeug in den Hals, „los, sprich mal einen Satz!“


„Ich kenne kein Problem, welches man nicht durch Sex, Pizza, Alkohol, Drogen, Erpressung, Weinen, eine Therapie oder Mord beheben könnte“, sagte ich, weil mir zu dem Zeitpunkt nichts Besseres einfiel. Meine Stimme klang schon merklich tiefer, kaum noch zu identifizieren.


„Das war schon mal ganz ordentlich, aber einen kleinen Schuss brauchst du noch! Du hast wahrscheinlich nicht intensiv genug eingeatmet. Mach den Hals noch mal auf!“


„Auf Befehle reagiere ich seit meiner Bundeswehrzeit nicht mehr!“


„Dann mach bitte nochmal den Mund auf! Etwas tiefer muss deine Stimme schon sein, sonst kommst du nicht glaubhaft rüber!“


„Na, gut! Aber nicht, dass das Zeugs rauschartige Zustände hervorruft. Rauschartige Zustände können wir anschließend mit etwas Rotwein oder Bier bei dir erlangen!“


„Ja, natürlich können wir das. – Aber jetzt mach den Mund bitte nochmal auf!“


„Aber nur, weil du das Zauberwort benutzt hast.“


Ich machte den Mund auf, Frau von Ehrenkroog sprühte, ich atmete tief ein.


„So, und nun sag‘ mal einen Satz.“


„Gute Menschen brauchen keine Gesetze um gezeigt zu bekommen, was sie nicht dürfen, während böse Menschen einen Weg finden werden, die Gesetze zu umgehen.“


Meine Stimme war erstaunlich tief, wirkte tatsächlich bedrohlich und war nicht zu erkennen.


„Sehr gut!“, sagte Frau von Ehrenkroog. „Wo nimmst du eigentlich immer die Sprüche her?“


Doch ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Fast hätte ich ja auch noch die Handschuhe vergessen! Zieh die bitte an, wisch‘ die Axt damit ab und hinterlass‘ nirgends Fingerabdrücke! – Und jetzt fahren wir! Beuge dich bitte nicht nach vorne, sonst entweicht das Gas aus deiner Lunge!“


„Oh man, an was man nicht alles denken muss!“


Etwas flau im Magen stieg ich auf das Fahrrad, Frau von Ehrenkroog folgte mir und wir radelten die kurze Strecke zur Bierschwemme. Es war seltsam ruhig in der Stadt, keine Menschenseele ließ sich blicken, nur vor der Bierschwemme stand ein Taxi.


„Holt der gerade jemanden ab, oder bringt die jemanden?“, fragte ich, „wir sollten abwarten.“


Wir fuhren um die Ecke und beobachteten.


„Hier ist übrigends der Garten hinter der Bierschwemme“, meinte Frau von Ehrenkroog, „und dahinten die Außentür zum Hinterzimmer in dem gezockt wird.“


Ein etwas ungepflegtes Gärtchen breitete sich vor uns aus, eingezäunt mit einer Art Jägerzaun und kleiner Pforte, die nur noch an einer rostigen Angel hing. Einige Solarlampen erhellten mühsam den Weg, einige waren entweder kaputt oder wegen asthmatischer Akkus schon erloschen. Durch eine Lücke in der Buchsbaumhecke konnte ich sehen, wie sich der Taxifahrer bemühte, einen offensichtlich schwer Bezechten in sein Taxi zu kriegen, wie es sich um diese Zeit und vor dieser Kneipe gehörte.


„Sag‘ nochmal einen Satz“, flüsterte Frau von Ehrenkroog.


„Moral ist, wenn man so lebt, dass es gar keinen Spaß macht, so zu leben“, sagte ich leise, „aber wir wollen jetzt Spaß haben.“


„Klingt gut! Zieh die Handschuhe an, wisch‘ die Axt ab und dann hinein. Ich warte hier.“


Der Taxifahrer schien das Problem mit dem Fahrgast gelöst zu haben, denn er startete sein Taxi und fuhr weg.


Stille breitete sich wieder aus.


„Du hast zwar das Zauberwort vergessen, ich gehe aber trotzdem“, sagte ich leise, nahm die Axt aus dem Jutebeutel, wischte sie ab, zog die Sturmhaube und die Handschuhe über und ging los.


Es war nicht sonderlich weit und die Tür zum Hinterzimmer der Bierschwemme war noch nicht mal abgeschlossen. Ich öffnete sie, warf die Axt in ein Gebüsch, zog meine Pistole und trat ein.


„Guten Abend die Herren. Schön die Hände auf den Tisch legen und keine Zicken“, sagte ich mit tiefer Stimme und fuchtelte ein wenig mit der Pistole herum. War wirklich geil, das Gas, denn die Leute am Tisch kamen meiner freundlichen Aufforderung sofort nach. Sogar Maurice deBouygues, der mich dereinst ‘Sackgesicht‘ genannt hatte, saß auch am Tisch. Wie mochte er nur hierhergekommen sein?


Egal.


Er saß neben Frau Doktor Gelbspötter, einer Dame, die sonst immer hochwertige Taiwan Desert Rosen kaufte. Die anderen Leute kannte ich nicht.


Es lag tatsächlich einen Menge Geld auf dem Tisch, ohne Umweg über irgendwelche Chips. Wie es sich gehörte standen auch einige Whiskyflaschen rum und Zigarillos qualmten in den Aschenbechern. Genau das Klischee wie aus den guten, alten Filmen, die ich so sehr liebe.


Ich schloss erst mal die Tür zum Schankraum ab und begann das Geld auf dem Tisch mit der Pistole in meinen Jutesack umzuladen. Ging ganz einfach, ich brauchte nicht mal die Lampe auszuschießen. Etwas bedauerlich war allerdings, dass Maurice deBouygues seine Karten in der Hektik offen auf den Tisch gelegt hatte. Kreuzstraße bis zum Ass!


Ärgerlich, aber nicht zu ändern, zumal er eine Glückssträhne zu haben schien. Konnte für mich nicht besser laufen und auf dem Tisch lag auch noch eine sauteure Uhr, eine Hublot Big Bang Evolution in Gelbgold.


Die sackte ich natürlich auch ein und Maurice deBouygues, der mich damals ‘Sackgesicht‘ genannt hatte, trug eine Breitling for Bentley Motors am Handgelenk. Ob es eine Limited Edition war oder nicht, konnte ich so schnell nicht sehen, aber ich tippte auf mein Handgelenk, zeigte auf ihn und deutete in den Jutesack.


Maurice deBouygues begriff nicht sogleich. Die Lampe wollte ich nicht unbedingt ausschießen um meiner freundlichen Bitte etwas Nachdruck zu verleihen. Die Lampe war die einzige Lichtquelle im Raum. Einfach in die Decke schießen ginge zwar zur Not, war aber etwas unter meiner Würde. Stattdessen schoss ich eine der Whiskyflaschen vom Tisch. Schade drum, aber es war nur ein bescheidener Bourbon, nicht etwa ein vierzehn Jahre alter Single Malt mit leicht torfigem Aroma. Den hätte ich wahrscheinlich auch mitgenommen um ihn nach dieser Aktion in Ruhe zu genießen.


Egal, es rumste zwar fürchterlich in einem geschlossenen Raum, und der wurde auch gleich mit beißendem Qualm angefüllt, aber Maurice deBouygues begriff plötzlich, legte die Uhr ab und in meinen Jutesack.


Obwohl mir die Ohren noch ein wenig klingelten, bedeutete ich Frau Doktor Gelbspötter mit einigen ähnlichen Gesten sich ihrer Halskette, Ohrringen und Armbänder zu entledigen und in den Jutesack zu überführen. Nicht, dass ich unbedingt scharf darauf war, Frau Doktor Gelbspötter um ihre Kleinodien zu erleichtern, aber irgendwie wäre es aufgefallen, sie bei meinem Raubzug zu verschonen.


Nachdem Frau Doktor Gelbspötter ihre Klunker auch in den Jutesack gelegt hatte, verabschiedete ich mich mit den Worten: „So, meine Damen und Herren, es war mir ein entsetzliches Vergnügen! Bis zum nächsten Mal, und immer schön fröhlich bleiben!“, denn irgendjemand wummerte von außen gegen die Tür zum Hinterzimmer.


Der Schuss war den Leuten in der Kneipe mit Sicherheit nicht entgangen und sie stellten möglicherweise Überlegungen an, die in die Richtung liefen, doch mal nachzusehen, was denn im Hinterzimmer so los war.


Ich steckte die Steyr in meine Hosentasche und beeilte mich diese gastliche Stätte zu verlassen.


Rosemarie von Ehrenkroog war nicht mehr da und die Fahrräder auch nicht.


Was half’s?


Nichts half’s!


Ich rannte zunächst in die Kleingartenkolonie, weit weg der Bierschwemme. Fast überall waren irgendwelche Gartenfeste am laufen, sodass ich kein dunkles Plätzchen fand, um mich umzuziehen und einen Handstand zu machen. Das wäre sicher irgendwie aufgefallen. Nur die Sturmhaube riss ich vom Kopf und warf sie in eine Hecke, den blöden Tiger of Sweden-Schlips und die Handschuhe auch.


Ich ging weiter. Schließlich fand ich doch ein dunkles Plätzchen, an dem ich einen Handstand absolvieren konnte, um das Gas aus meinen Lungen wieder abfließen zu lassen, und ich hängte den Jutebeutel an einen Zaunpfahl.


Kaum hatte ich zum Handstand angesetzt, löste sich ein Radfahrer aus der Dunkelheit, schnappte sich den Jutebeutel mit meiner Beute und entschwand wieder in der Dunkelheit.


„Es gibt zwei Dinge, die unendlich sind“, sagte ich laut zu mir, „die menschliche Dummheit und das Universum. – Beim Universum bin ich mir noch nicht so sicher.“


Meine Stimme klang wieder normal.





Als ich einige Tage später in die Apotheke ging, um Kopfschmerztabletten für Irene zu kaufen, tat Frau von Ehrenkroog so, als ob sie mich nicht kennen würde.


Zu denken gab mir allerdings, dass sie eine Hublot Big Bang Evolution in Gelbgold am Handgelenk hatte. Die Ohrringe, die sie trug, gehörten sicherlich auch mal zu Frau Doktor Gelbspötter, aber welcher Mann achtet schon groß auf Bijouterie?


Als ich wieder wegfuhr, fiel mir der nagelneue Triumph TR7 Coupé vor der Apotheke auf …


Was half's, das Leben ging weiter, und das nicht ganz ohne eine gewisse Härte.


Ich schwor mir, mich nie wieder um eine Frau zu bemühen.
 



 
Oben Unten