Die Gästin

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Immer wenn ich kam, war sie schon da.
Mindestens einmal in der Woche und jeweils nur selten am gleichen Wochentag aß ich im „Palermo“ meine Pizza „Quattro formaggi“, manchmal auch eine „Frutti di mare“. Dazu trank ich ein Glas Mineralwasser und zum Schluss zumeist noch einen doppelten Espresso. Nur an Feiertagen – ich habe meine Prinzipien – bestellte ich gelegentlich einen Chianti Riserva.
Immer saß sie in der Ecke am Einzeltisch unter der holzgeschnitzten lächelnden Madonna mit dem nackten rosafleischigen Kind.
Von ihrem Tisch aus konnte sie aus dem großen Schaufenster sehen, konnte beobachten, wer zur Tür hereinkam, konnte Enzo, dem Mann an der Bar, Enrico, dem Pizzabäcker und Gabriella, der Serviererin zugucken.
Die für ihr kleines blasses Gesicht zu große bläulich getönte Hornbrille war nur nachlässig geputzt. Ihre dunkelbraunen und mit vielen grauen Fäden durchzogenen Haare waren glatt herunter gekämmt und glänzten fettig.
Auf dem runden Tisch vor ihr stand stets ein Glas Rotwein, an dem sie in nahezu gleichen Abständen nippte und das sie während meines zumeist nie länger als einstündigen Gaststätten-Aufenthalts wenigstens einmal nachfüllen ließ.
Dazu aß sie Pizzabrötchen, die sie mit ihren ungewöhnlich feingliedrigen Fingern jeweils in vier gleichgroße Stücke teilte.
Nach jedem zweiten Schluck Wein steckte sie sich eines dieser Stücke vorsichtig an den grellrot geschminkten Lippen vorbei zwischen ihre mitgeröteten Zähne und kaute langsam darauf herum, bis der große Adamsapfel an ihrem dürren Hals anzeigte, dass wieder ein Schluck ihn passierte.
Gut vierzig mochte sie sein, obwohl ihr lachfaltiges Gesicht sie älter erscheinen ließ.
Oft beobachtete sie mich, wie alle anderen Gäste und wie Gabriella, Enzo und Enrico. Dabei trafen sich unsere Blicke immer einmal wieder. Meist wich ich den ihren aus. Sie hielt stand. Auch wenn ich sie manchmal längere Zeit ansah und gar zurück lächelte.
Schon wenn ich zu der niedrigen Tür hereinkam und sie begrüßte, verzog sie ihre Falten zu etwas, das ich vermutlich für ein strahlendes Lächeln halten sollte.
An irgendeinem Montag winkte sie mich gleich, als ich die kleine Pizzeria betrat, zu sich, zog einen Stuhl vom Nebentisch heran und bot ihn mir an. Zunächst schwieg sie, um sich plötzlich mit unerwartet fester, tiefer Stimme mir zuzuwenden. „Wissen Sie, ich freue mich jedes Mal, wenn ich Sie zur Tür hereinkommen.“ Hastig nahm sie die Brille ab und wischte sich mit den Handrücken über die feuchten Augen. „Irgendwie erinnern Sie mich an meinen Bruder!“ Sorgfältig setzte sie die Brille wieder auf. „Er starb vor zehn Jahren.“
„Oh, ich bin Einzelkind. habe mir aber immer eine kleine Schwester gewünscht! Doch nachdem meine Mutter mich geboren hatte, mochte sie nicht mehr gebären. Ich hatte angeblich einen viel zu dicken Kopf und musste ihr bei der Geburt ziemlich weh getan haben.“
Sie nickte. „Ein Kind hatte ich auch. Einen Sohn. Bernd ist mit 8 Jahren – wenige Tage nach dem Tod meines Bruders - bei einem Autounfall umgekommen. Er sah meinem Bruder sehr ähnlich. Der hieß übrigens auch Bernd.“
„Oh, ich heiße auch Bernd,“ sagte ich leise, als müsste ich mich dafür entschuldigen.
„Habe ich mir schon gedacht.“ Sie musste sich heftig räuspern.
Ich war versucht, ihr den dünnen nackten Arm zu streicheln. „Tut mir echt Leid, das mit Ihrem Sohn und ihrem Bruder.“
Sie erhob sich, rief Gabriella zu, sie werde morgen zahlen und verließ die Pizzeria ohne Gruß.
Für meinen nächsten Besuch im „Palermo“ ließ ich mir mehr als zwei Wochen Zeit.
Als ich zur Tür hereinkam, saß sie nicht an ihrem Platz.
Als Gabriella meine Bestellung annahm, fragte ich sie, wo denn ihr Dauergast sei.
„Ach, unsere Gästin. Sie legt Wert darauf, dass wir Frau Gästin zu ihr sagen. Ihren Namen wollte sie uns nie anvertrauen. Sie mochte Männer wohl nicht.“
In der letzten Woche sei sie nur noch einmal hier gewesen, um ihre Zeche zu bezahlen. Schulden habe sie einfach nicht ertragen können.
Gabriella runzelte die Stirn: „Sie war noch nie länger als einen Tag nicht hier bei uns.“

Auch in den nächsten drei Wochen kam sie nicht.
Vorgestern ging ich an der Pizzeria vorbei und sah sie durch das Schaufenster an ihrem Tisch sitzen. Erst wollte ich weiter gehen.
Als ich das Palermo betrat, sah sie nicht einmal auf. Ihre Haare hatte sie schwarz gefärbt. Sie ließen ihr Gesicht noch blasser erscheinen.
Ich nickte ihr zu und setzte mich an den Nebentisch.
Aber erst als sie an ihrem Rotweinglas genippt und sich ein Stück Pizzabrot in den Mund geschoben hatte, blickte sie auf.
„Oh, Bernd!“ Langsam nahm sie ihre Brille ab, wischte sich mit dem Handrücken über beide Augen, erhob sich, ging zu Gabriella und zahlte. Da ich noch nichts bestellt hatte, verließ ich das „Palermo“ mit ihr.
Sie ging sehr langsam. Ich blieb an ihrer Seite.
„War in den letzten Tagen öfter auf dem Friedhof am Grab. Geh jetzt auch hin. Willst du mitkommen?“
Ich zögerte.
„Du musst nicht. Aber es wäre lieb, wenn du mich begleitest.“
Als wir durch das Friedhofstor gingen, wurde sie plötzlich schneller.
Unter einer hohen Lärche neben einem breiten Familiengrab stand ein schmaler Stein aus braunem Marmor. „Bernd“ stand darauf und „Es blieb kaum Zeit“. Weiter nichts.
„Ich heiße übrigens Johanna.“ Sie räusperte sich und starrte auf den Stein.
Lange schwieg sie. Dann hakte sie sich bei mir ein. „Seht mal, wen ich euch mitgebracht habe.“ Sie zog mich ein wenig näher auf den Stein zu und schüttelte meinen Arm. „Sag doch mal was! Sag ihnen, dass du sie auch besuchen willst. Sag’s ihnen.“
Ich zuckte mit den Schultern, sie riss an meinem Arm. „Nun sag doch!“
„Hallo Bernd!“
„Frag sie, wie es ihnen geht.“
Sie kniete sich hin. „Hier unten verstehe ich sie besser. Beide hatten schon immer eine leise Stimme.“
Sie forderte mich auf, mich neben sie zu knien. Zögernd hockte ich mich neben sie.
„Ich weiß, dass sie tot sind und mich nicht hören können. Aber ich genieße es, wenn andere Menschen mit mir so tun, als würden sie noch leben. Verstehts du?“
„Wer ist denn hier begraben? Dein Sohn und dein Bruder? Ich meine, weil da nur einmal Bernd steht.“
„Für mich waren sie immer einer- mein kleiner Bruder und mein kleiner Sohn. Immer. Die meisten glaubten, mein Bruder wäre der Vater. War er auch. Der leibliche Vater ist während meiner Schwangerschaft abgehauen. Wollte kein Kind. Ich weiß nicht genau, wo der jetzt lebt. Irgendwo in den Staaten.“
Ich wollte mich wieder hinstellen. Doch sie hielt mich fest. „Sag ihnen was. Bitte!“
„Hallo, ich bin Bernd…“ begann ich murmelnd.
Sie lachte laut. „Bernd, der dritte…! Ja, ich habe wieder einen Bernd, einen, der es noch nicht sein will.“ Immer noch lachte sie.
„Ich muss jetzt gehen!“ behauptete ich, obwohl ich an diesem Abend bisher nichts vor hatte, schon gar nicht in meine Altenwohnung, in mein Komfort-Single-Appartement zurückzukehren. Im Gegenteil, es tat mir gut, für jemanden wichtig zu sein, selbst als Ersatz für einen oder gar zwei Verstorbene.
Ich hielt Johanna die Hand hin, um mich zu verabschieden. Sie blickte mich aus feuchten Augen an, ergriff sie mit beiden Händen und ließ sie nicht los. „Darf ich dich noch ein Stück begleiten?“
Ich nickte und sie winkte zum Grabstein hin, drehte sich abrupt um, hakte sich bei mir unter und zog mich auf den Hauptweg des Friedhofs. Dort ging sie zügig weiter in Richtung Ausgangstor, das auf seiner rechten Seite von einem steineren Skelett mit geschulterter Sense bewacht wurde. Ich wunderte mich, da ich die Figur beim Betreten des Friedhofs wohl nicht bemerkt hatte.
Die Sonne, ein glühend roter Riesenball, stand tief über Häusern des Stadtviertels.
An einer roten Fußgängerampel wollte ich stehen bleiben. Johanna zog mich hastig weiter.
Der schwarze Mercedes kam quietschend zum Stehen und erfasste mich so, dass ich auf der Kühlerhaube zu sitzen kam.
Johanna hatte mich losgelassen, um mit drei schnellen Schritten auf den Bürgersteig zu flüchten.
Der Fahrer des Mercedes, ein grauhaariger Mann, stieg mit hochrotem Gesicht aus. „Ich hatte grün!“ schnaufte er, holte tief Luft. „Hauptsache Ihnen ist nichts passiert!“
„Doch, doch. Ohne diese Frau wäre mir nichts passiert.“
Der Fahrer runzelte die Stirn und sah mich verständnislos an.
Ich stand von der Kühlerhaube auf, sah die mir genau an und tastete sie sorgfältig ab. „Habe nicht einmal eine Beule hinterlassen.“
Der Grauhaarige strich über den schwarzen Lack und lächelte mich schließlich erlöst an.
„Nein, keine Beulen!“
Er sah zur Ampel hinüber, an der gerade noch Johanna gestanden hatte. „Sie ist weggelaufen!“
Ich nickte. „Die läuft schon seit Jahren vor der Wirklichkeit weg.“
Der Grauhaarige zuckte mit den Achseln. „Sind Sie sicher, das alles mit Ihnen in Ordnung ist?“
„So lange ich keinen Toten spielen muss!“
Lachend stieg der Fahrer
in seinen Wagen und fuhr langsam an, obwohl die Ampel rot leuchtete. Ich winkte ihm hinterher.
Von nun an mied ich die Pizzeria „Palermo“.
Allerdings wenn ich auf dem Fußweg davor vorbeiging, versuchte ich jedes Mal, Johanna durch die große Schaufensterscheibe der ehemaligen Bäckerei zu entdecken.
 

Bertram

Mitglied
Hallo Karl

Deine Geschichte hat mich reingezogen. Sie entwickelt sich dicht aus einer scheinbar harmlosen Situation zu einem kleinen Albtraum, ohne jedoch Johanna zu dämonisieren. Sie ist vielmehr eine sehr tragische Figur, weil es für sie wohl keine Rettung gibt.

Auch der Erzähler ist ein einsamer Knochen und so durchweben sich die beiden Schicksale zu einem schwermütigen Bild, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

Liebe Grüsse
Bertram
 
Lieber Bertram,
natürlich freue ich mich, dass du offenbar mit meiner Geschichte etwas anfangen konntest. Danke dir fürs Lesen, Interpretieren und Kommentieren.
Herzliche Grüße
Karl
 
U

USch

Gast
Hallo Karl,
sehr schön geschriebene Geschichte. Ein paar kleine Anregungen und Fehlerhinweise im Folgenden, wenn du magst:

Von ihrem Tisch aus konnte sie aus dem großen Schaufenster sehen[red][strike], konnte[/strike][/red][blue]und [/blue]beobachten, wer zur Tür hereinkam, wer zur Tür hereinkam, konnte Enzo, dem Mann an der Bar, Enrico, dem Pizzabäcker und Gabriella, der Serviererin zugucken.
Dreimal [red]konnte [/red]dicht hintereinander klingt nicht gut.

„Wissen Sie, ich freue mich jedes Mal, wenn ich Sie zur Tür hereinkommen [blue]sehe[/blue].“
Doch nachdem meine Mutter mich geboren hatte, mochte sie [blue]das [/blue]nicht mehr [red][strike]gebären[/strike][/red].
Sie forderte mich auf, mich neben sie zu knien. Zögernd hockte ich mich [red][strike]neben sie[/strike][/red][blue]zu ihr[/blue].
neben... neben klingt nicht gut.

[red]Verstehts [/red]du?“
[blue]Verstehst[/blue]..

LG USch
 
Immer wenn ich kam, war sie schon da.
Mindestens einmal in der Woche und jeweils nur selten am gleichen Wochentag aß ich im „Palermo“ meine Pizza „Quattro formaggi“, manchmal auch eine „Frutti di mare“. Dazu trank ich ein Glas Mineralwasser und zum Schluss zumeist noch einen doppelten Espresso. Nur an Feiertagen – ich habe meine Prinzipien – bestellte ich gelegentlich einen Chianti Riserva.
Immer saß sie in der Ecke am Einzeltisch unter der holzgeschnitzten lächelnden Madonna mit dem nackten rosafleischigen Kind.
Von ihrem Tisch aus konnte sie aus dem großen Schaufenster sehen und beobachten, wer zur Tür hereinkam, konnte Enzo, dem Mann an der Bar, Enrico, dem Pizzabäcker und Gabriella, der Serviererin zugucken.
Die für ihr kleines blasses Gesicht zu große bläulich getönte Hornbrille war nur nachlässig geputzt. Ihre dunkelbraunen und mit vielen grauen Fäden durchzogenen Haare waren glatt herunter gekämmt und glänzten fettig.
Auf dem runden Tisch vor ihr stand stets ein Glas Rotwein, an dem sie in nahezu gleichen Abständen nippte und das sie während meines zumeist nie länger als einstündigen Gaststätten-Aufenthalts wenigstens einmal nachfüllen ließ.
Dazu aß sie Pizzabrötchen, die sie mit ihren ungewöhnlich feingliedrigen Fingern jeweils in vier gleichgroße Stücke teilte.
Nach jedem zweiten Schluck Wein steckte sie sich eines dieser Stücke vorsichtig an den grellrot geschminkten Lippen vorbei zwischen ihre mitgeröteten Zähne und kaute langsam darauf herum, bis der große Adamsapfel an ihrem dürren Hals anzeigte, dass wieder ein Schluck ihn passierte.
Gut vierzig mochte sie sein, obwohl ihr lachfaltiges Gesicht sie älter erscheinen ließ.
Oft beobachtete sie mich, wie alle anderen Gäste und wie Gabriella, Enzo und Enrico. Dabei trafen sich unsere Blicke immer einmal wieder. Meist wich ich den ihren aus. Sie hielt stand. Auch wenn ich sie manchmal längere Zeit ansah und gar zurück lächelte.
Schon wenn ich zu der niedrigen Tür hereinkam und sie begrüßte, verzog sie ihre Falten zu etwas, das ich vermutlich für ein strahlendes Lächeln halten sollte.
An irgendeinem Montag winkte sie mich gleich, als ich die kleine Pizzeria betrat, zu sich, zog einen Stuhl vom Nebentisch heran und bot ihn mir an. Zunächst schwieg sie, um sich plötzlich mit unerwartet fester, tiefer Stimme mir zuzuwenden. „Wissen Sie, ich freue mich jedes Mal, wenn ich Sie zur Tür hereinkommen sehe.“ Hastig nahm sie die Brille ab und wischte sich mit den Handrücken über die feuchten Augen. „Irgendwie erinnern Sie mich an meinen Bruder!“ Sorgfältig setzte sie die Brille wieder auf. „Er starb vor zehn Jahren.“
„Oh, ich bin Einzelkind. habe mir aber immer eine kleine Schwester gewünscht! Doch nachdem meine Mutter mich geboren hatte, mochte sie nicht mehr gebären. Ich hatte angeblich einen viel zu dicken Kopf und musste ihr bei der Geburt ziemlich weh getan haben.“
Sie nickte. „Ein Kind hatte ich auch. Einen Sohn. Bernd ist mit 8 Jahren – wenige Tage nach dem Tod meines Bruders - bei einem Autounfall umgekommen. Er sah meinem Bruder sehr ähnlich. Der hieß übrigens auch Bernd.“
„Oh, ich heiße auch Bernd,“ sagte ich leise, als müsste ich mich dafür entschuldigen.
„Habe ich mir schon gedacht.“ Sie musste sich heftig räuspern.
Ich war versucht, ihr den dünnen nackten Arm zu streicheln. „Tut mir echt Leid, das mit Ihrem Sohn und ihrem Bruder.“
Sie erhob sich, rief Gabriella zu, sie werde morgen zahlen und verließ die Pizzeria ohne Gruß.
Für meinen nächsten Besuch im „Palermo“ ließ ich mir mehr als zwei Wochen Zeit.
Als ich zur Tür hereinkam, saß sie nicht an ihrem Platz.
Als Gabriella meine Bestellung annahm, fragte ich sie, wo denn ihr Dauergast sei.
„Ach, unsere Gästin. Sie legt Wert darauf, dass wir Frau Gästin zu ihr sagen. Ihren Namen wollte sie uns nie anvertrauen. Sie mochte Männer wohl nicht.“
In der letzten Woche sei sie nur noch einmal hier gewesen, um ihre Zeche zu bezahlen. Schulden habe sie einfach nicht ertragen können.
Gabriella runzelte die Stirn: „Sie war noch nie länger als einen Tag nicht hier bei uns.“

Auch in den nächsten drei Wochen kam sie nicht.
Vorgestern ging ich an der Pizzeria vorbei und sah sie durch das Schaufenster an ihrem Tisch sitzen. Erst wollte ich weiter gehen.
Als ich das Palermo betrat, sah sie nicht einmal auf. Ihre Haare hatte sie schwarz gefärbt. Sie ließen ihr Gesicht noch blasser erscheinen.
Ich nickte ihr zu und setzte mich an den Nebentisch.
Aber erst als sie an ihrem Rotweinglas genippt und sich ein Stück Pizzabrot in den Mund geschoben hatte, blickte sie auf.
„Oh, Bernd!“ Langsam nahm sie ihre Brille ab, wischte sich mit dem Handrücken über beide Augen, erhob sich, ging zu Gabriella und zahlte. Da ich noch nichts bestellt hatte, verließ ich das „Palermo“ mit ihr.
Sie ging sehr langsam. Ich blieb an ihrer Seite.
„War in den letzten Tagen öfter auf dem Friedhof am Grab. Geh jetzt auch hin. Willst du mitkommen?“
Ich zögerte.
„Du musst nicht. Aber es wäre lieb, wenn du mich begleitest.“
Als wir durch das Friedhofstor gingen, wurde sie plötzlich schneller.
Unter einer hohen Lärche neben einem breiten Familiengrab stand ein schmaler Stein aus braunem Marmor. „Bernd“ stand darauf und „Es blieb kaum Zeit“. Weiter nichts.
„Ich heiße übrigens Johanna.“ Sie räusperte sich und starrte auf den Stein.
Lange schwieg sie. Dann hakte sie sich bei mir ein. „Seht mal, wen ich euch mitgebracht habe.“ Sie zog mich ein wenig näher auf den Stein zu und schüttelte meinen Arm. „Sag doch mal was! Sag ihnen, dass du sie auch besuchen willst. Sag’s ihnen.“
Ich zuckte mit den Schultern, sie riss an meinem Arm. „Nun sag doch!“
„Hallo Bernd!“
„Frag sie, wie es ihnen geht.“
Sie kniete sich hin. „Hier unten verstehe ich sie besser. Beide hatten schon immer eine leise Stimme.“
Sie forderte mich auf, mich neben sie zu knien. Zögernd hockte ich mich zu ihr.
„Ich weiß, dass sie tot sind und mich nicht hören können. Aber ich genieße es, wenn andere Menschen mit mir so tun, als würden sie noch leben.“
„Wer ist denn hier begraben? Dein Sohn und dein Bruder? Ich meine, weil da nur einmal Bernd steht.“
„Für mich waren sie immer einer- mein kleiner Bruder und mein kleiner Sohn. Immer. Die meisten glaubten, mein Bruder wäre der Vater. War er auch. Der leibliche Vater ist während meiner Schwangerschaft abgehauen. Wollte kein Kind. Ich weiß nicht genau, wo der jetzt lebt. Irgendwo in den Staaten.“
Ich wollte mich wieder hinstellen. Doch sie hielt mich fest. „Sag ihnen was. Bitte!“
„Hallo, ich bin Bernd…“ begann ich murmelnd.
Sie lachte laut. „Bernd, der dritte…! Ja, ich habe wieder einen Bernd, einen, der es noch nicht sein will.“ Immer noch lachte sie.
„Ich muss jetzt gehen!“ behauptete ich, obwohl ich an diesem Abend bisher nichts vor hatte, schon gar nicht in meine Altenwohnung, in mein Komfort-Single-Appartement zurückzukehren. Im Gegenteil, es tat mir gut, für jemanden wichtig zu sein, selbst als Ersatz für einen oder gar zwei Verstorbene.
Ich hielt Johanna die Hand hin, um mich zu verabschieden. Sie blickte mich aus feuchten Augen an, ergriff sie mit beiden Händen und ließ sie nicht los. „Darf ich dich noch ein Stück begleiten?“
Ich nickte und sie winkte zum Grabstein hin, drehte sich abrupt um, hakte sich bei mir unter und zog mich auf den Hauptweg des Friedhofs. Dort ging sie zügig weiter in Richtung Ausgangstor, das auf seiner rechten Seite von einem steineren Skelett mit geschulterter Sense bewacht wurde. Ich wunderte mich, da ich die Figur beim Betreten des Friedhofs wohl nicht bemerkt hatte.
Die Sonne, ein glühend roter Riesenball, stand tief über Häusern des Stadtviertels.
An einer roten Fußgängerampel wollte ich stehen bleiben. Johanna zog mich hastig weiter.
Der schwarze Mercedes kam quietschend zum Stehen und erfasste mich so, dass ich auf der Kühlerhaube zu sitzen kam.
Johanna hatte mich losgelassen, um mit drei schnellen Schritten auf den Bürgersteig zu flüchten.
Der Fahrer des Mercedes, ein grauhaariger Mann, stieg mit hochrotem Gesicht aus. „Ich hatte grün!“ schnaufte er, holte tief Luft. „Hauptsache Ihnen ist nichts passiert!“
„Doch, doch. Ohne diese Frau wäre mir nichts passiert.“
Der Fahrer runzelte die Stirn und sah mich verständnislos an.
Ich stand von der Kühlerhaube auf, sah die mir genau an und tastete sie sorgfältig ab. „Habe nicht einmal eine Beule hinterlassen.“
Der Grauhaarige strich über den schwarzen Lack und lächelte mich schließlich erlöst an.
„Nein, keine Beulen!“
Er sah zur Ampel hinüber, an der gerade noch Johanna gestanden hatte. „Sie ist weggelaufen!“
Ich nickte. „Die läuft schon seit Jahren vor der Wirklichkeit weg.“
Der Grauhaarige zuckte mit den Achseln. „Sind Sie sicher, das alles mit Ihnen in Ordnung ist?“
„So lange ich keinen Toten spielen muss!“
Lachend stieg der Fahrer
in seinen Wagen und fuhr langsam an, obwohl die Ampel rot leuchtete. Ich winkte ihm hinterher.
Von nun an mied ich die Pizzeria „Palermo“.
Allerdings wenn ich auf dem Fußweg davor vorbeiging, versuchte ich jedes Mal, Johanna durch die große Schaufensterscheibe der ehemaligen Bäckerei zu entdecken.
 



 
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