Halle – Rotterdam
Bernburg an der Saale, 07:30, 14. Januar 2028
Ein kalter Wind fegte die verwaiste Bundesstraße hinunter und trieb die letzten Fetzen des morgendlichen Frühnebels vor sich her. Kern richtete den Feldstecher prüfend auf den Horizont. Ja, im Norden waren die ersten Häuser des südlichen Ortsrandes nun deutlicher zu sehen. Im Süden nichts Neues, auf beiden Seiten der Straße immer noch hektische Aktivität, wo sich die Überlebenden des Vortags hastig eingruben. Zwei Panzerkompanien – was davon übrig war - und vielleicht noch knapp 500 Mann regulärer Infanterie aus verschiedenen Einheiten der ehemaligen Bundeswehr, dazu alles, was die Rechten innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hatten zusammenkratzen können. Insgesamt schätzte er die Stärke des Gegners auf kaum mehr als 2000 – bunt zusammengewürfelt, höchst unterschiedlich bewaffnet und von bestenfalls bedingtem Kampfwert. Dem, womit sie es heute zu tun bekommen würden, waren sie jedenfalls in keiner Weise gewachsen. Er lächelte grimmig. Fast taten sie ihm leid. Das Meldungssignal des comlinks in seinem rechten Ohr riss ihn aus diesen Gedanken.
„General, incoming call from outside. Some woman wants to talk to you personal, claiming she’s a friend of yours. She says she is currently in Halle.”
“Did she give a name?”
“Yes, but the lieutenant didn’t get it straight. Could be Hanna or something. Didn’t ask for a last name either. Sorry, Sir.”
Kern grinste in sich hinein. „Put her through.“
„Copy. Out.“
Es knisterte kurz, dann kam ihre Stimme, deutlich verrauscht zwar, aber doch verständlich.
„Paul?“
„Hanna? Schön, dich zu hören! Geht’s dir gut?“
Sie atmete hörbar auf. „Endlich! Ich hatte schon befürchtet, ich komme nie durch. Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich’s versucht habe.“
„Ich kann’s mir denken, Hanna. Ich bin erstaunt, dass sie die Verbindungen nicht längst alle unterbrochen haben. Anscheinend ist denen nicht klar, wie wichtig das ist.“
„Es ist schlimm, hier, Paul, die Leute sterben in den Straßen.“
Er unterdrückte einen Fluch. „Morgen früh, spätestens, sind wir da. Ihr müsst bis morgen durchhalten.“
„Viele werden eine weitere Nacht in ihren kalten Häusern nicht überstehen, wir sind seit Tagen ohne Trinkwasser und die letzten Lebensmittel aus dem Umland kamen vor fast drei Wochen herein. Für die Verwundeten und Kranken haben wir keine Medikamente mehr. Wenn ihr nicht bald kommt, könnt ihr nur noch Leichen bergen. Wo seid ihr?“
„Darf ich dir nicht sagen, sie hören vielleicht mit“, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. „Aber wir sind nahe, sehr nahe sogar. Wir werden den äußeren Belagerungsring heute durchbrechen, dann ist es noch ein Tagesmarsch. Wir kommen mit allem, was wir haben. Ich habe einen großen Konvoi mit Versorgungsgütern zusammengestellt, der euch über die ersten Tage helfen wird. Den bringen wir spätestens morgen Früh `rein, du hast mein Wort darauf. Durchhalten, Hanna, du weißt, ich brauche dich.“
„Ich hoffe, ihr schafft es Paul. Gibt es etwas, was wir tun können?“
Er dachte kurz nach. „Nein, eigentlich nicht. Haltet euch so gut es geht bedeckt und haltet die Stellung. Morgen früh werden wir die Außenbezirke säubern – vielleicht schon heute Nacht. Ihr werdet es merken, wenn wir da sind.“
„Wenn wir sonst nichts tun können, werden wir beten. Für uns und für euch.“
„So wie wir. Alles Gute, Hanna – und bleib am Leben!“
„Ich werd’s versuchen. Das gilt aber auch für dich. Alles Gute, dir und euch allen!“ Sie legte auf.
Noch eine Stunde. Vorbei die Zeiten, da man auch bei völliger Finsternis Laser- oder GPS-gelenkte Waffen in vordefinierte Zielkoordinaten lenken konnte. Die Dunkelheit hätte den alten Leopard-II Panzern mit ihren Wärmebildgeräten heute nur einen unnötigen Vorteil verschafft, also würde der Angriff bei vollem Tageslicht beginnen.
Angespannt starrte er in das Halbdunkel zu den feindlichen Linien hinüber. Um ihn herum ereignete sich die konzentrierte Geschäftigkeit, die man von einem vorgeschobenen Befehlsstand in einer solchen Situation erwarten konnte. Ein bestimmtes Geräusch, ein sich rhythmisch wiederholendes Klappern hob sich jedoch von den übrigen Geräuschen ab und ließ ihn aufhorchen. Er drehte sich um und suchte die Ursache, die er im Gewehrmagazin eines jungen Soldaten fand, das wieder und wieder aus der Waffe gelöst wurde, nur um anschließend wieder hörbar eingesetzt zu werden.
„Nervous, soldier?“
Der Mann reagierte zunächst nicht und fuhr mit seiner Tätigkeit unbeirrt fort, ohne auch nur den Kopf zu heben. Kern sah, dass er sehr jung war, wahrscheinlich keine zwanzig und ziemlich blass.
„Nervös, Soldat?“
Englisch war seit Bestehen der Republik Amtsprache und in den Streitkräften Pflicht, was aber nicht bedeutete, dass es schon deshalb jeder beherrscht hätte. Tatsächlich zeigte der Sprachwechsel Wirkung: Der junge Mann sah - in seiner Muttersprache angesprochen – überrascht auf.
„Äh, ja…ziemlich…“, sagte er leise.
Kern nickte. „War ich auch, als ich zum ersten Mal in den Kampf musste.“
„Sie? Wirklich?“
„Ja, sicher, was dachtest du denn? Auch beim zweiten Mal noch. Ganz streift man das nie ab, es ist ja auch ein Schutz, damit man nicht leichtfertig wird.“
Stumm sah ihn der Junge an, das Magazin verharrte vergessen in der rechten Hand.
„Wie heißt du?“
„Jan Rodewald.“
„Und wie alt bist du, Jan?“
„Achtzehn.“
„Hm.“ Kern dachte kurz nach. Wie war es wohl für einen, der die alte Zeit gar nicht mehr kennen gelernt hatte? Konnte er auch nur ahnen, was der Menschheit verloren gegangen war?
Konnte man so einem begreiflich machen, wie strahlend die Welt war, als es Energie und Treibstoff noch im Überfluss zu geben schien, so reichlich, dass der Himmel an klaren Tagen kreuz und quer mit den Kondensstreifen ziviler Flugzeuge überzogen war? Eine Illusion, natürlich, gegründet auf Unrecht und Gier, wie sich ja erwiesen hatte, als sie mit Feuerwerk und Knall an der Wirklichkeit zerschellte, aber dennoch…
„Sir…stimmt es, dass sie Autofahren können?“
Er lachte. Mit einer solchen Frage hatte er nun wirklich nicht gerechnet – dann aber wurde ihm klar, dass man ja schon mindestens Mitte dreißig sein oder einem Spezialberuf angehören musste, um diese Fertigkeit noch erlernt zu haben.
„Ja, es stimmt. Nicht gut allerdings, ich konnte mich nie allzu sehr dafür erwärmen.“ Darüber also redeten Rekruten heutzutage, wenn sie unter sich waren.
„Wirklich? Ich meine, wirklich nicht?“
„Nein“, erwiderte Kern Schulter zuckend, „es schien mir schon vor dem Krieg irgendwie verschwenderisch.“
Am verständnislosen Blick des anderen konnte er ermessen, wie viel sich seither verändert hatte.
„Wo kommst Du her?“
„Ich komme nirgendwo her“, kam die trotzige Antwort. „Ich bin in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Oldenburg geboren worden.“
„Und deine Eltern?“
„Mein Vater starb kurz vor meiner Geburt, meine Mutter kurz danach. Beide Krebs.“ Das Thema war ihm offensichtlich unangenehm.
Krebskranke Flüchtlinge also, die zum Sterben nach Norddeutschland gekommen waren, vermutlich Holländer, aus der Zeit, als es die Niederlande noch gab. Der Sohn war heute achtzehn, geboren also wohl 2010, gezeugt wahrscheinlich 2009, im Jahr von Rotterdam.
„Sie kamen aus den Niederlanden?“
Der Junge wirkte jetzt deutlich gequält. „bitte, Sir…können wir das nicht…ich meine…ich weiß es nicht und ich will es auch nicht wissen. Jeder hat doch irgendwelche Leichen im Keller und niemand spricht gerne darüber.“
„Leichen im Keller?“ Kern war perplex. „Wie meinst du das?“
„Ich meine, im Lager redete niemand darüber, keiner fragte einen, wo man herkam, wo die Eltern oder wo sonst irgendwer herkam. Von Niederlanden weiß ich nichts, wie kommen sie darauf?“
„Wie ich darauf komme?“ Seine Verwirrung nahm zu. „Nun, ich habe achtzehn Jahre zurückgerechnet und mir darüber Gedanken gemacht, dass deine Eltern schon um 2009 herum Flüchtlinge gewesen sein müssen – früher als die meisten. Und sie starben an Krebs – da schien mir der Zusammenhang mit den Niederlanden nahe liegend.“
„Was für ein Zusammenhang? Was für Niederlande? Keine Ahnung, wovon sie sprechen, Sir.“, erwiderte der Junge, aufkeimenden Ärger im Gesicht.
„Du weißt nicht, was die Niederlande waren?“ Fassungslos starrte er den Jungen an.
„Nein, Sir, und es interessiert mich auch nicht. Kann ich jetzt weiter machen?“
Für einen Augenblick schloss Kern entsetzt die Augen, dann drehte er sich abrupt um, während in seinem Geist jener Film ablief, der ihn seit neunzehn Jahren jede Nacht mindestens einmal aus dem Schlaf riss.
Schon Jahre zuvor hatte ihn eine unerklärliche Unruhe ergriffen, wenn er nachts durch die Straßen seiner Stadt wanderte. Dann, im August 2007 hatte seine Freundin ihm zum Geburtstag einen Hubschrauberflug geschenkt, etwas, das er sich schon sehr lange gewünscht hatte. Als er dann mit ihr in der lauten, engen Maschine über seiner Heimat schwebte und auf den riesigen Ölhafen blickte, den größten Europas, als er die gewaltigen Raffineriekomplexe, die großen Lagertanks und das unüberschaubare Netzwerk von Rohrleitungen sah, da wurde ihm schlagartig klar, dass dieser Ort keine Zukunft haben konnte, dass er ihm den Rücken kehren musste, wenn ihm sein Leben lieb war.
2007: Der Krieg im Irak stand im vierten Jahr und die Konflikte der kommenden Jahre begannen sich abzuzeichnen, während die Weltwirtschaft unter der Bankenkrise sanft zitterte, aber noch nicht schwankte, Russland zur unerklärten Diktatur wurde und die Preise für Öl und Gas ungeahnte Höhen erklommen. Wer hatte damals geahnt, dass es noch so viel schlimmer kommen würde? Paul Sebastian Kern hatte es geahnt. Im Januar des folgenden Jahres verließ er die Stadt und ging nach Deutschland, ließ sich in Leer nieder, nah genug der alten Heimat und gleichzeitig, wie er dachte, weit genug entfernt. Er hatte Deutsch gelernt und auf das Beste gehofft.
Besaß der Iran seine eine, einzige Atombombe, die im Frühjahr 2009 als Reaktion auf die massiven Israelischen Luftangriffe den gesamten Norden des Landes verwüstete schon im Jahr 2007? Von denen, die das hätten wissen können, war dank der israelischen Vergeltung niemand mehr am Leben. Wahrscheinlich war es keine im Iran entwickelte Bombe, sondern ein altes russisches Baumuster, auf dem nuklearen Schwarzmarkt als Rückversicherung beschafft. Gab es das iranische Atomwaffenprogramm, das die Israelis so fürchteten, tatsächlich? Vielleicht, wahrscheinlich, möglicherweise? Auch über diese Frage hatte der Krieg das Leichentuch ewiger Unaufklärbarkeit gebreitet. Der Rauch am Golf verzog sich nicht, sondern verteilte sich, breitete sich aus und trübte weltweit das Sonnenlicht um einige Prozent. Die so geschwächte Sonne schien auf eine Welt, die durch dieses unvorstellbar große Blutopfer in zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager geteilt war. Kein Land der Erde konnte in dieser Phase des Geschehens und angesichts dieser Ereignisse Neutralität waren. Ein ungleiches Ringen begann, das auf der Seite des ‚Westens’ mit Geld, scharfer Diplomatie und – wo beides nichts half – mit Waffengewalt geführt wurde, während die andere Seite mit der systematischen Störung der weltweiten Öl- und Gasversorgung dagegen hielt.
Georgien hatte in diesem unerklärten Krieg den ersten kurzen und dramatischen Auftritt als Schlachtfeld, da es dank der Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline gleichsam im Zentrum der Frontlinie stand. Pakistan, seit dem Mord an Butho ohnehin sturmreif, folgte, und Afghanistan, der Irak, Saudi Arabien sowie die übrigen Golfstaaten schlossen sich an. Bis zu den als Terrorakten islamischer Fanatiker getarnten russischen Angriffen auf die Ölförderung in der Nordsee war es dann nur noch ein kurzer Weg, ein Weg, der schließlich und endlich, über einige Stationen auch nach Rotterdam führte, zwangsläufig führen musste.
Im comlink knackte es erneut.
„General Kern?“
„Yes?“
„Major Savid, 23rd recon reporting. Possible soft spot close to riverbank. Ground conditions there soaked and muddy, not supporting heavy equipment of theirs, suitable for our MWUs, though.”
“Mines?”
“Not likely, Sir.”
“Why?”
“We kept a close watch right from when they started digging. So far we haven’t seen them doing it.”
“As predicted earlier, yes. They’ve probably run out of stock. Just as well. Proceed as planned, Major.
“Understood. Out.”
Er wandte sich zu seinem Kommunikationsoffizier um. Der junge Soldat hinter ihm, der ihn noch immer mit offenem Mund anstarrte, war vorübergehend vergessen.
„Captain?“
„Sir?“
„I want a secure broadcast channel.”
Der Mann reichte ihm ein zusätzliches Mikrofon. „Ready, Sir“
Kern räusperte sich und nahm das Mikrofon.
„This is General Colonel Paul S. Kern, Commander in Chief of the Armed Forces of Global Republic.
Soldiers! Men and women of the Second Integrated Armygroup!
Twenty minutes from now, you will move forward to break the siege of Halle.
I have just received word on the conditions in the city. Halle is dying. Its citizens are dying due to lack of food, lack of water, lack of everything needed to keep human beings alive.
We will end that today.
As you will rise to fight the last remnants of this last warlord’s army, you will remember all the things they have done in the past, all the things we have found in Hannover and Braunschweig and all the other places. But I want you to remember something else also:
You are not like them.
They have tortured and killed prisoners and civilians, you haven’t so far and you will not do today.
They stand for racism, intolerance and injustice. You try to salvage what civility you can from the wreckage of the old world, to build a new and better one.
You will stay strong. You will keep your resolve. You will not sway nor falter on the last yards of this hard and bitter race that we have been running together for all those years.
The day has come to put an end to this civil war that has drowned all our nations, all our societies in a sea of blood. You can do that today.
Today, you can truly build one new and united society, one new and united nation, one peaceful and united world. And you will succeed!”
Das musste genügen, dachte er, während er das Mikrofon zurückreichte. Die Predigt zum zivilen Verhalten hatten sie aus seinem Mund schließlich oft genug gehört. Vermutlich zu oft. Die historische Größe dieses Tages blieb den meisten von ihnen trotz seiner Hinweise wahrscheinlich verborgen, waren sie doch in ihrer Mehrheit deutlich zu jung. Bis auf die höheren Offiziersränge hatte ja praktisch niemand die alte Zeit noch bewusst erlebt. Zwanzig kurze Jahre, und all das war nur noch Legende. Gerüchte übers Autofahren… er schüttelte den Kopf. Nur gut, dass er den Rekruten nie von den Staus zur Urlaubszeit erzählt hatte. Er nahm sich vor, den jungen Jan nach dem Kampf mal für eine Geschichtsstunde ins Hauptquartier zu zitieren. Falls der den heutigen Tag überlebte. Als er sich nach ihm umdrehte, konnte er ihn allerdings nirgendwo mehr entdecken. Innerlich seufzend legte er im Graben die paar Schritte bis zum vorderen Aussichtspunkt zurück, es wurde schließlich Zeit.
Minuten später begann sich das Vorfeld, von Kern observiert, mit Soldaten zu füllen. Der Infanterist der neuen Zeit war allerdings schon optisch eine gänzlich andere Erscheinung, als seine Kollegen zwanzig Jahre zuvor, trug – oder besser, wurde getragen – von einer so genannten MWU, einer ‚Mechanized Walker Unit’. Das Ding war nicht viel mehr, als eine Art gegen leichte Waffen gepanzerter Anzug mit unterstützenden Elektromotoren für Arme und Beine – angetrieben von einem Hybridmotor mit Brennstoffzelle. Man war damit nicht unbedingt schneller, als ein sprintender Mensch in Sportschuhen, aber ganz sicher schneller als einer mit zusätzlichen 100 Kilo Gepäck auf dem Rücken. Einen mit voller Geschwindigkeit im Zickzack rennenden MWU-Infanteristen mit einer Panzerkanone, einem Raketenwerfer oder einer anderen wirksamen Waffe zu treffen, war an sich schon sehr schwierig. Jede Panzerbesatzung hatte es aber fast immer mit mindestens zehn, fünfzehn oder gar zwanzig gleichzeitig zu tun. Für die gegnerische Infanterie sah es meistens noch schlechter aus, da sich mit bloßen Sturmgewehren praktisch nichts ausrichten ließ.
Heute kam noch hinzu, dass der Gegner nur noch über wenig Artillerie verfügte, für seine Panzer und Schützenpanzer wenig oder gar keinen Treibstoff mehr hatte und im Verhältnis zwanzig zu eins unterlegen war. Der Verlauf des Gefechts spiegelte die Verhältnisse wieder, wie Kern zufrieden feststellte.
Nur der Einbruch der Dunkelheit hatte den Gegner am Vortag vor der völligen Vernichtung bewahrt – und die Tatsache, dass sich die Panzer schneller zurückziehen konnten, als die MWU-Infanterie hinterherkam. Bei dieser hastigen Flucht hatten sie aber offenkundig die letzten Reste an Sprit verbraucht, denn die Panzer standen weder sonderlich günstig verteilt, noch machten sie Anstalten, im Verlauf des Gefechts die Stellung zu wechseln. Binnen einer halben Stunde standen neun Leopards in Flammen und die Reste der Infanterie hatten den Zusammenhalt verloren. Der Widerstand zerfaserte.
Kern atmete auf. Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn. Das war es also, nach fünfzehn Jahren Kampf. Von diesem letzten Schlag würde sich die militante Rechte in Mitteleuropa nicht mehr erholen können. Ihre letzte Zentrale war schon vor Tagen gefallen, ihre Kampftruppen waren aufgerieben, zersplittert, auf der Flucht.
„Captain, get me General Winters!“
“Yes, Sir.”
Es dauerte etwas, offenbar war der General noch ziemlich beschäftigt. Schließlich aber hörte er die vertraut kratzige Stimme im comlink.
„Winters.“
„Pete, I need your assessment. Can we get the convoy running?”
“With some care, yes. It’ll need a tough escort, but yes.”
“Good enough for me, Pete. See to it, will you? I’ll be with the escort.”
“You, Sir? General, are you sure you should be doing this? There’s plenty of others and it’s still a bit risky.”
“I thought you’d just told me we could do it, didn’t you? Anyway, I’ll tag along, so you’d better make sure that it is safe.”
“Yes, General, as you wish. Will do. Out.”
Während er sich auf den Weg zu dem improvisierten Unterstand machte, der als Lager für Reserve-MWUs fungierte, ärgerte er sich über Winters’ Versuch, ihn von der Begleitung des Konvois abzubringen. Allein der Gedanke! Hielt ihn der Mann schon für so alt, dass er auf dem Schlachtfeld nichts mehr taugte? Kopfschüttelnd zwängte er sich in eine der MWUs, die entlang der hastig gezimmerten Bretterwand aufgereiht waren. Es war ein neueres Modell, mit verstärkter Kohlefaserpanzerung und verbesserten Kommunikationssystemen. Rasch prüfte er Optik, Sensoren, Waffen und den Ladestand der Energiesysteme, dann verlagerte er sein Gewicht und machte ein paar erste, prüfende Schritte. Perfekt.
„Command: This is MWU four-three-two-one-seven-eight, callsign Daimyo, leaving HQ-reserve. Authorisation gold-alpha-omega-nine-two-nine. Link me in!”
“Copy, Daimyo. Now linked. Good hunting, Sir!”
Auf verwilderten Feldern eines aufgegebenen Landwirtschaftsbetriebs westlich der Straße sammelte sich der Konvoi. Die meisten Güter ließen sich problemlos in kleinen Lastcontainern auf den Rücken der MWUs verteilen. Maximal konnte man so pro Soldat etwa 200 Kilo zusätzlich transportieren. Aus Gründen der taktischen Beweglichkeit beschränkte man sich allerdings auf 100 bis höchstens 150 Kilo pro Einheit. Für große Stücklasten und den Transport auf Straßen gab es allerdings eine effektivere Methode:
Man verwendete alte LKW-Anhänger, die man speziell für die Koppelung an ein Zuggeschirr modifiziert hatte. Zwanzig eingespannte MWU-Infanteristen zogen selbst bei leichter bis mittlerer Steigung praktisch alles.
Schon 2013, als sich beim Zerfall der Bundesrepublik die Reste der Bundeswehr auf die in Entstehung begriffenen Milizen verteilten, hatte es für die noch einsatzfähigen Fahrzeuge nur noch sehr begrenzte Treibstoffvorräte gegeben. Alle Seiten hatten diese argwöhnisch behütet und so gut wie möglich rationiert, aber da selbst Diesel-Benzin noch ein wichtiger Grundsstoff der chemischen Industrie sein konnte, hatte die erste Regierung der Global Republic im Winter 2019 entschieden, konventionellen Treibstoff nur in extremen Ausnahmefällen als Brennstoff zu verwenden. Mittlerweile gab es ja wieder so etwas wie eine systematische Ölförderung, wenngleich auf niedrigem Niveau, aber nun hatte man praktisch keine einsatzfähigen Lastfahrzeuge mehr, die man damit hätte betreiben können. Die meisten waren schon vor Jahren als Ersatzteillager oder schlicht im Zuge der Altmetallsammlung ausgeschlachtet worden – und die, die in Betrieb blieben, waren mehrheitlich der Zerstörung im Kriegseinsatz anheim gefallen. Schade, dachte er, heute wären sie nützlich gewesen.
Mehr als dreißig LKW-Hänger mit vorgespannten MWUs warteten bereits, zweitausend Last-MWUs waren um sie herum verteilt und dieser große Hilfstransport war seinerseits auf allen Seiten durch mehr als tausend weitere MWU-Infanteristen geschützt.
Kern, noch immer trunken vor Erleichterung, reihte sich unmittelbar hinter der ersten Gruppe des Vorauskommandos in die Linie der eskortierenden MWU’s ein. Vorsicht und vorausschauendes Handeln waren eine Sache, die großen Ereignisse dieses historischen Tages nicht an der Spitze seiner Truppen zu erleben, kam für ihn jedoch nicht in Frage.
„General? This is Winters. We’re ready to move out on your mark, Sir.”
“All right, Pete, get us moving. You’ll retain command, though. I think I’ll just tag along for this one. Execute! Daimyo out.”
Einen Augenblick später kam Winters Startkommando über comlink.
„Commander SupCon-H to all SupCon-H units! Stay together, stay in formation, come what may. Keep alert! SupCon-H Escort: I want immediate report on all suspicious activity – but if need be, take them out first. Move it! Now!”
Der Konvoi setzt sich in Bewegung. Die Bundesstraße entlang geht es in schnellem Marschtempo, die Gespanne nutzten die bröckelnde Fahrbahn, während Last- und Eskort- MWUs zu beiden Seiten der Straße weit auseinander fächern. Verstummt sind die Kanonen der Panzer, aber noch immer ist die Luft erfüllt von fernem Kampflärm, ist in mittlerer Distanz noch das Feuer leichter Waffen zu vernehmen. Dem stetigen Informationsstrom, der ungefragt in Kerns Ohr rieselt, während er sich anstrengen muss, mit den jüngeren Soldaten Schritt zu halten, kann man entnehmen, dass es noch immer vereinzelte Widerstandsnester gibt. Vorbei geht es an brennenden Panzern und gepanzerten Mannschaftstransportern, an halbfertigen Schützenlöchern, die ihren Urhebern kein Glück gebracht haben, an verlassenen, verfallenen, heruntergekommenen Häusern und Wirtschaftsgebäuden. Beißender Rauch brennenden Treibstoffs, gemischt mit anderen, deutlich widerwärtigeren Anteilen, behindert die Sicht und ist sich nicht zu schade, in jede Ritze zu kriechen, um den Weg in die Helme zu finden.
Immer wieder muss er sich in Erinnerung rufen, warum er das hier macht, sich die Gründe im Geist gebetsmühlenartig wiederholen, damit der Strom der verinnerlichten Notwendigkeit nicht abreißt, wie die Strömung unter der Tragfläche eines Flugzeugs. Nur jetzt nicht einknicken, all den Bildern und Gerüchen zum Trotz, die in der Wiederholung stets nur schlimmer statt erträglicher zu werden scheinen. Das Ende eine Schlacht ist immer furchtbar. War es nicht schon Wellington, der behauptet hatte, es gäbe nichts Schlimmeres, als eine gewonnene Schlacht – mit Ausnahme einer verlorenen? ‚Anfänger’ denkt er mit düsterer Belustigung, während aufsteigender Ekel das Grinsen im Ansatz unterbindet. Nur jetzt nicht reiern wie ein Rekrut, verdammt! Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, kondensiert, da die Lüftung mit dieser Menge nicht Schritt halten kann, auf dem Helmvisier und beeinträchtigt die Sicht zusätzlich. Ein echter Geistesblitz war das mal wieder gewesen, den Konvoi persönlich eskortieren zu wollen. Er wird langsam zu alt für diesen Unsinn.
Zwanzig Jahre zuvor hatte die Welt im Großen und Ganzen noch relativ friedlich ausgesehen – wenngleich natürlich nur aus der recht willkürlichen Perspektive eines saturierten Westeuropäers. Dass man schon seit längerem auf einer Insel der Stabilität in einem großen Meer aus kleinen wie größeren Kriegen, aus Not und Elend lebte, das freilich drang kaum ins Bewusstsein der meisten, die mit ihren eigenen Nöten wachsender sozialer Ungleichheit genug zu tun zu haben glaubten. Dass das Gebäude der internationalen Beziehungen längst schon unter der Last der Konflikte ächzte und stöhnte, ging im allgemeinen Wehklagen über nationale Probleme unter. In Vergessenheit geraten war zudem, dass es sich beim Welthandel in dieser Spätphase der globalisierten Wettbewerbswirtschaft um ein Kartenhaus handelte, welches seinerseits auf dem Dach des Gebäudes besagter internationaler Beziehungen ruhte. Als das Letztere unter dem Ansturm der Konflikte in Brand geriet und schließlich einstürzte, war auch das Erstere nicht mehr zu retten. Es war – für manche nicht überraschend – das Erdöl, das den Brennstoff für diese Feuerbestattung lieferte, wenngleich die tieferen Ursachen vielfältig waren. Sie reichten zurück bis in die späten achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, als man in Deutschland und Westeuropa, vor allem aber in den USA aus einer Siegerlaune heraus die Chance verspielte, eine tragfähige und belastbare Weltfriedensordnung zu schmieden. Bereits zehn Jahre danach, im Winter 1999 war diese Chance nur noch Erinnerung, war der weitere Weg, wennschon nicht im Detail, so doch zumindest von seinen äußeren Rahmenbedingungen her, vorgezeichnet. Dass die Versorgung mit fossilen Brennstoffen, welche die Weltwirtschaft am Leben hielt, letztlich zum entscheidenden Schlachtfeld werden würde, war logisch und folgerichtig – jedoch keineswegs zwingend. Spätestens seit dem dritten Golfkrieg und der Besatzung des Irak durch US-geführte Truppen war diese Entwicklung allerdings stark beschleunigt und in ihrer späteren Auswirkung unabwendbar geworden.
Unabwendbar…das Wort klebt lästig im Vordergrund seiner Gedanken, während es ihm immer schwerer fällt, den Anschluss an die Führungsgruppe zu halten. Klar, ein Kommando von ihm, und der Konvoi würde sofort das Tempo drosseln, aber das kommt nicht in Frage. Halle wartet – und jetzt, da er nun einmal so töricht gewesen ist, unbedingt bei der Befreiung dabei sein zu wollen, gibt es kein Zurück mehr. Jede Stunde zählt, da ist es völlig ausgeschlossen, höchstpersönlich für eine absolut unnötige Verzögerung verantwortlich zu werden. Oder eine Gruppe der Eskorte zu seinem eigenen Schutz abzuziehen und mit ihnen den Konvoi zu verlassen, was die andere Option wäre. Einen weiteren sanften, mit schwärzlichen Trümmern zerstörten Kriegsgeräts übersäten Abhang hinauf – und auf der anderen Seite wieder hinunter. Die anderen sind nun gut zwanzig Meter voraus – und Kern weiß, dass er das Tempo nicht viel länger wird halten können. Er lässt sich weiter und weiter zurückfallen, bewegt sich auf diese Weise langsam von vorne nach hinten durch den Konvoi hindurch. Die Soldaten seiner Eskortgruppe bemerken es, aber sie wissen ja, wer das da ist, in der ungekennzeichneten Reserve-MWU – und keiner traut sich, nach dem Grund zu fragen. Der General wird schon wissen, was er tut. Die Last-MWUs dahinter wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben, nur das permanent gesendete Rang-Signal von Kerns MWU sagt ihnen, dass es sich um einen vorgesetzten Offizier handelt – der mutmaßlich die Marschordnung des Konvois im Auge behalten will. Auch sie stellen keine Fragen. Zu den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Aufmerksamkeit und Fähigkeit zur Konzentration zählt es, dass der Torwächter, dem eingeschärft worden ist, unbedingt jeden Eindringling von außen am Betreten des Grundstücks zu hindern, kaum geeignet ist, gleichzeitig einen Ausbrecher am Verlassen des Grundstücks zu hindern. Sicher, die MWUs der Nachhut sind wachsam – nur eben in die falsche Richtung Drei Anläufe braucht er, zweimal wird er angesprochen, dann ist er nach hinten durch den Schirm gerutscht, geht hinter der halb eingestürzten Ziegelwand einer abgebrannten Scheune in Deckung und schaltet die Positions- und Rangsignalsender ab. Geschafft! Drei Minuten gibt er sich, um zu Atem zu kommen, vor allem aber, damit der Konvoi außer Hörweite ist. Gegen die Wand gelehnt schließt er die Augen und versucht, die Selbstvorwürfe niederzuringen.
„Command: This is Kern. I have left the Konvoi, will return to HQ shortly. ETA 30 minutes. Tell General Nowak to take over until I’m back. Do you copy?`”
„Copy Sir. You’ll be back in thirty minutes, General Nowak takes temporary command.“
Die Stimme klingt einigermaßen überrascht, die entscheidende Frage wird sich aber dankenswerter Weise verkniffen. Kern atmet auf. Krystyna Nowak ist zuverlässig, klug, vorsichtig und nötigenfalls kreativ-gerissen. Er kennt sie seit Jahren und hat jedes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, für den Fall, dass mit seiner eigenen Rückkehr etwas schief gehen sollte.
Die Schultern straffend stößt er sich von der Wand ab, geht einen Schritt und hört das Geräusch, das ihm sagt, dass er tot ist, das Geräusch, das der Druckzünder einer schweren Landmine hervorruft, wenn er sich bei Wegfall des Drucks wieder nach oben bewegt. Und so den Sprengsatz auslöst, der nun in einem weißen Feuerball auf ihn zugerast kommt.
Er spürt noch einen dumpfen Schlag, dann versinkt er in Schwärze.
Als er zu sich kommt, ist der Schmerz weiß, glühend und schließt seinen Geist in eine enge, nadelbewährte Zelle ein. Sein Körper ist eisig und reglos, auch den Kopf kann er nicht heben, was ihm den Blick auf seine in den Trümmern der MWU steckenden Beine erspart. Gnädiger Schock schickt ihn erneut ins Tal der Besinnungslosigkeit.
Noch einmal erlangt er das Bewusstsein, oder doch zumindest das, was davon übrig ist. Der Schmerz ist nicht mehr so schlimm jetzt und das Gefühl der Kälte hat ihn verlassen. Denken ist anstrengend, als müsse er jeden Gedanken erst durch eine poröse Schaumstoffwand drücken, um ihn auf der anderen Seite klar fassen zu können. Bilder stellen sich ein, Geräusche, Gerüche, Erinnerungen, Szenen der Vergangenheit. Blass sind die Bilder. Spielende Kinder, Gesichter von Freunden…über allem liegt erneut das Vorgefühl des Unheils, die drückende Ahnung einer unausweichlichen Katastrophe.
Wieder ist es früher Morgen, wieder ist es Herbst, wieder ist die Luft klar, der Himmel noch in tiefblaue Dämmerung gehüllt, wieder steht er am großen Dachfenster seiner Leeraner Wohnung und blickt nach Westen. Wie so oft schon. Und dann, wie in jeder einzelnen Nacht seither, kneift er die Augen zusammen, geblendet von unerträglicher, gleißender Helligkeit, die über all die Meilen dazwischen noch immer stark genug ist, um zu schmerzen und Erblindung befürchten zu lassen. Die Helligkeit wird nachlassen, das weiß er und auch blind ist er nicht. Er weiß, was ihn erwartet, wenn er die Augen öffnet, aber er kann nicht anders, genauso, wie er jedes Mal am Fenster stehen bleibt, bis es ihm die Druckwelle in tausend Scherben ins Gesicht schleudert. Er weiß, dass er vor fast zwanzig Jahren nicht auf die Druckwelle gewartet hat, sondern geistesgegenwärtig in den Keller flüchtete, aber in seinen Albträumen nützt ihm das nichts. In seinem Traum ist der Rauchpilz sichtbar, kündet turmhoch und flammend vom Ende der Welt. Er weiß, dass es so nicht gewesen sein kann. Wenn er wach ist, erinnert er sich nur an eine seltsam geformte und sehr schwarze Wolke am fernen Horizont. Fünfundzwanzig Kilometer hoch stieg der Rauchpilz damals, der Lichtblitz war noch in vielen hundert Kilometern Entfernung sichtbar und noch bis Oldenburg gab es später Tote durch den direkten Fallout. Das alles weiß er, ebenso, wie er weiß, dass er in Leer an diesem Tag zwei Freunde verlor, die von fliegendem Glas förmlich in Stücke gerissen wurden. Eine zuerst an hoch liegenden Wolken und dann an plattem Land reflektierte Druckwelle kann erstaunliche Distanzen überwinden. Als der Traum endet, wie er enden muss, sinkt er erneut in Dunkelheit.
Einmal noch, ein letztes Mal, erwacht er zu einer Art Halbschlaf. Lächeln würde, er, wenn das noch ginge. An diesen Tag hat er nicht mehr oft gedacht, unscharf waren die Erinnerungen, zu schwierig die Aufgaben, zu viel ist geschehen seither, aber klar und deutlich sind die Bilder jetzt. Ein heller Tag. Er sieht das fast unnatürliche Blau des ruhig liegenden Mittelmeeres unter einer fiel zu hellen ägyptischen Sonne in der unerträglichen Mittagshitze flirren. Um ihn all die Stimmen, jeder redet, alle wollen irgendetwas, jeder und jede etwas Anderes, viel zu viele erwarten viel zu viel von ihm. Aber das war damals. Heute hat er Muße, die Szene zu betrachten, zu zusehen, wie aus dem wirren Durcheinander der Delegationen allmählich so etwas wie eine Ordnung entsteht, wie – langsam wie ein Kristall in Salzlösung – ein Konsens zu wachsen beginnt. Als Konferenz oder auch als der Frieden von Alexandria, als der Tag, an dem der Leichnam der UNO beerdigt und die Global Republic als ihre Nachfolgerin errichtet wurde, ging dieser Tag in die Geschichte ein. In Wahrheit war es beides nicht, denn dem beschlossenen Frieden überall zur Geltung zu verhelfen, das wird erst morgen vollendet sein – und es war auch nicht eine Konferenz, sondern es waren viele Monate voller Konferenzen. Er weiß das, denn er war dabei, als es geschah, hatte seinen Anteil, leistete seinen Beitrag. Mehr als zwei Milliarden Menschen hatten bis zu diesem Tag ihr Leben verloren, aber weitere hundert Millionen starben selbst noch danach, ohne dass die Republik ihnen dieses Schicksal hätte ersparen können. Und es ist dieser Augenblick, in dem er durch die letzte, entscheidende, erfolgreiche Verhandlungsrunde gleitet und weiß, dass es gelingen wird, in dem er erkennt, wie sich sein Leben zu einer leichten, unbeschwerten Heiterkeit fügt, wie das Gute und das Schlechte, das Bittere und das Schwere, wie all die erlebte Grausamkeit und Trauer ihre angemessenen Plätze in einem großen Plan einnehmen, der seinem Leben die Ordnung und den Sinn verleiht, die er so lange vergeblich gesucht hat. Morgen ist Frieden und der Frieden braucht nicht länger Generäle. Sie, die anderen, die jüngeren, werden es besser machen. Morgen ist Frieden.