Die Geschichte

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

lietzensee

Mitglied
Die Geschichte

Die Worte flossen auf das Papier und der Erzählfaden in seinem Kopf riss nicht ab. Das Ende fügte sich natürlich wie immer am schwersten. Er konzentrierte sich, griff das Thema des Anfangs wieder auf und fand eine überraschende Wendung. Dann leckte er seine Lippen. Er war begeistert, endlich mal wieder eine gute Geschichte geschrieben zu haben. Mit diesen Worten würde er sie auch Dorothe zum Durchsehen geben. Als er sich dann aber im Sessel streckte und den Text noch einmal las, merkte er es.
Die Geschichte war gut, die Handlung aufs Wesentliche reduziert. Aber diesen Plot hatte er irgendwann schon einmal verwendet. Er war nicht sicher, ob als Science-Fiction, Horror oder in einem DDR-Setting, aber die Handlung hatte er schon benutzt. Er schüttelte den Kopf, zerknüllte das Papier und setzte noch einmal von Neuem an.
Etwa zwei Stunden dauerte es, bis er sich eine neue Geschichte ausgedacht hatte. Er lief im Raum umher, blickte aus dem Fenster auf die Straße hinab und kaute an seinem Stift. Schließlich hatte er alles zusammen und auf dem Papier. Erschöpft las er dann noch einmal den Text. Tatsächlich war es wieder genau dieselbe Geschichte. Selbes Problem, selbe Lösung, selbe emotionale Reise des Protagonisten in die Tiefen der Verzweiflung. Wurde er senil? Er zwang sich, vom Schreibtisch aufzustehen, trank ein Bier zum Abendbrot und wich in der Küche den Fragen Dorothes aus. Nein, es war nichts und ja, es ging ihm gut.
Nach dem Krimi aber, als Dorothe schon zu Bett ging, schlich er noch einmal die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf. Manchmal brauchte es einfach ein paar Ablenkungen, damit der Kopf neue Ideen ausbrütete. Die Gurken zum Abendbrot und Dorothes Blumenkleid hatten etwas in ihm bewegt. Er schrieb locker und mühelos. Sein Einfall begeisterte ihn, aber beim letzten Satz stellte er fest, dass es eben wieder dieselbe Geschichte war. Es schien ihm, dass er keine andere Geschichte mehr schreiben konnte. Er zweifelte, wie überhaupt je eine andere Geschichte geschrieben worden war. Aber es musste doch noch andere Geschichten geben! Noch einmal setzte er an und schrieb. Die ganze Nacht durch schrieb er. Er zog frisches Papier vom Stapel, beschrieb es und warf es zerknüllt in den Papierkorb. Was immer er sich ausdachte, auf dem Papier stand nur noch diese Geschichte. Seine letzten Versuche begannen, sich wortwörtlich zu wiederholen, bis hinein in Streichungen und seine verzweifelten Korrekturen. Als die Sonne aufging, gab er sich geschlagen. Nur ein einzelnes Blatt war von seinem Stapel übrig. Er nutzte es, um für Dorothe einen Abschiedsbrief zu verfassen und stürzte sich aus dem Fenster.
Fassungslos blickte Dorothe dann auf die wehenden Vorhänge und las den Brief. Er konnte nichts erklären, denn er bestand natürlich wieder aus derselben, unausweichlichen Geschichte. Deren Handlung fand sie abwegig. Schon der erste Satz war gestelzt formuliert:
Die Worte flossen auf das Papier und der Erzählfaden in seinem Kopf riss nicht ab ...
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo lietzensee,

am Anfang dachte ich: „Ach nö, wieder so ein Text, wo nur erzählt wird, dass der Autor eine Schreibblockade hat, nichts Neues und sterbenslangweilig von der Thematik her", aber dann wurde es tatsächlich interessant und der Schluss sehr originell. Mit zwei Worten: fünf Punkte.

LG SilberneDelfine
 

lietzensee

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
vielen Dank für deine Antwort und die volle Punktzahl. Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Du hast Recht, über Schreibblockaden schreibt man meist, wenn einem nichts anderes einfällt. Ich hab mal wo gelesen, dass jeder Schreibende genau einmal im Jahr über das Nicht-Schreiben-Können schreiben darf. Ich hoffe, ich habe diesen Joker dann hiermit gut genutzt.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
Oben Unten