Die Geschichte des P...

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Was war da los? Einer von uns steckte in der Passkontrolle fest – es war P... mit seinem großen Cowboyhut. Krasser Fehlgriff, so ausstaffiert von Europa in die USA einreisen zu wollen. Es war doch nicht seine erste Reise dieser Art … War er schon mal aufgefallen, lag etwas gegen ihn vor? Er sprach so gut wie kein Englisch, es ging nicht voran. Einer aus unserer Gruppe kam ihm zu Hilfe. Endlich war P... losgeeist und dann nahmen uns Männer vom New Yorker Club in Empfang. Sie verfrachteten uns in großen, langen Autos zum Times Square, verteilten uns auf verschiedene Hotels. P... war im selben wie ich untergebracht. Ich begegnete ihm manchmal auf der Straße oder in einer Bar und übersah ihn gern.

Seit zwei Jahren verkehrte ich in Berlin in seinen Kreisen. Er war mittelalt und für mich als damals sehr jungen Mann von vornherein reizlos. Er ging schon auf die fünfzig zu, trug nur Jeanskleidung und alles an ihm wirkte nachlässig. Ich sah ihn fast jede Woche in meiner Stammkneipe. Er stand immer lange herum, beobachtete, trank langsam ein Bier nach dem anderen. Ein dunkler Vollbart verbarg sein Mienenspiel. Allerdings kannte er viele von den regelmäßigen Gästen, auch unter meinen neuen Bekannten. Er hatte gewiss schon länger mit ihnen zu tun und die meisten schätzten ihn nicht. Sie witzelten über ihn und behandelten ihn im Gespräch herablassend. Offenbar wurde er nicht für voll genommen.

Allmählich bekam ich private Einladungen. Da sah ich oft P… und auch dort spielte er den Underdog, dabei stark berlinernd. Er war der Prolet, wenig gepflegt, ungebildet, interessenlos, abgesehen vom Sex. Er genoss diese Rolle nicht geradezu, er schien sie einfach als die ihm zukommende anzusehen. Es gab peinliche Momente wie diesen: Ein Büffet war von den Gästen fast leergeräumt worden, bis auf ein letztes Schnittchen, da sagte der Gastgeber zu P...: Na, nimm es dir endlich, du wartest doch schon darauf … Das wurde laut und betont vorgebracht, die humoristische Wirkung auf die anderen war berechnet. Sie lachten, erkannten das Typische der Situation wieder. P… griff leise knurrend nach dem Rest.

Manche von uns reisten viel, vor allem an den Wochenenden. Ich begegnete P... in Köln oder in Hamburg. Wir grüßten uns jetzt nicht bloß, wir redeten einige Sätze miteinander, wenig Belangvolles, wie man angereist war, wann es zurückging. Einige sprachen in meiner Nähe über ihn. Ich bekam mit, dass P... gewöhnlich kein Hotelzimmer nahm, sondern es darauf ankommen ließ, dass ihn einer bei sich unterbrachte. Hämisch formulierte ein Berliner: Unser lieber P... wohnt wieder im ZOB ... Er selbst beklagte sich bei mir einmal über die vergangene Nacht. Man hatte ihm einen Schlafplatz angeboten - tatsächlich habe er dann auf dem Balkon in einer Hollywoodschaukel liegen müssen!

Er galt als filzig. Als wir damals drüben waren, löste sich unsere Gruppe wie vorgesehen nach der Hälfte der Zeit auf und jeder steuerte ein eigenes Ziel an. Ich hörte, P... wolle, um Geld zu sparen, mit dem Greyhound-Bus nach Kalifornien. Ob er es wahrmachte, erfuhr ich nicht. Solange ich noch in New York war, hing er bis tief in die Nacht herum, an seiner Seite meist ein Frührentner Anfang sechzig, auch fester Bestandteil unserer Clique. Dieser Senior hatte wieder mitkommen müssen – wozu? Umgeben von aktiven jüngeren Männern bot er ein erbarmungswürdiges Bild, nur erbarmte sich keiner. Der Rentner sagte mir: Wenn ich all die Jungen da so sehe, weiß ich schon, was später mal aus ihnen wird – all das Elend … Er schien erfüllt von vorweggenommenem Mitleid.

Auf unseren Kurzreisen übernachteten P... und ich einmal in derselben Düsseldorfer Wohnung. P... hatte dort schon am Freitagabend seine Notunterkunft gefunden, auf einer Liege im Wohnzimmer. Mich lud der Wohnungsinhaber eine Nacht später ein, sein eigenes Bett mit ihm zu teilen. Wir fuhren im Wagen zu viert von Köln rheinabwärts, es war noch ein Schweizer dabei. Mag sein, dass ich meinen Platz im Bett auch der Tatsache verdankte, dass der Düsseldorfer seinem Wochenendgast aus Zürich ausweichen wollte. Am anderen Morgen beschwerte sich P… bei mir. Die Liege sei zu schmal für zwei gewesen und außerdem habe der aus der Schweiz seine Tätowierungen einfach scheußlich gefunden.

Wir fuhren am Sonntagmittag mit dem Zug nach Köln zurück. Unterwegs sprach sich P... offen aus und ich ließ mich von seinem Selbstmitleid anstecken. Er war ursprünglich aus Ostberlin, erfuhr ich, und hatte erst mit Ende dreißig in den Westen gehen können, viel zu spät, um all das bis dahin Versäumte nachzuholen, sagte er. Er war in Westberlin Registrator geworden, ich kannte die einschlägige Gehaltstabelle und P...s Eingruppierung. Es reichte gerade für eine Ein-Zimmer-Altbauwohnung im Wedding.

Nach dieser USA-Reise – ich bin nur einmal mit ihm drüben gewesen – wirkte P… unzufriedener als vorher. Er pries jetzt immer wieder das sexuell Freizügige, Unkomplizierte der Amerikaner, das er in Berlin vermisste. Er wurde merklich älter, auch nörgeliger, und so blieb er mir in Erinnerung, als ich bald darauf nach Hamburg umzog. Zweimal traf ich ihn dort noch. Beim ersten Wiedersehen begrüßten wir uns und er begann gleich die Hamburger Bars und ihr Publikum herunterzumachen. Es sei hier alles noch schlimmer als in Berlin, nur Gerede und Getue, kein richtiger Sex. Als ich die Szene verteidigte – die Leute unterhielten sich offenbar gut und hätten viele Interessen gemeinsam -, lachte er meckernd, fast hysterisch, und trollte sich. Gegen Morgen saß er auf einem Barhocker, allein und auf Unbestimmtes wartend. Ich nahm ihn mit und ließ ihn im Gästezimmer schlafen. Beim Frühstück wirkte er wenig zugänglich, verschlossen. Hätte er Lust, mit mir einen Flohmarkt zu besuchen? Ja, hatte er. Aber bald hatte er genug davon und wollte lieber zur Reeperbahn. Ich ließ ihn ziehen, wir trennten uns auf einem U-Bahnhof.

Fünf Jahre später, dieselbe Bar in Hamburg. Ich erkenne ihn noch, obwohl er sehr gealtert ist. Biblisch-mythisch wie ein schwuler Methusalem hockt er Stunde um Stunde auf demselben Platz an der Theke und beobachtet in erstarrter Haltung, ausdruckslos. Haar und Bart sind sehr grau geworden, der breite Rücken ist ganz rund, gebeugt. Ist es nur Langeweile, was ihn noch in die Bars und auf Reisen treibt? Es bleibt offen, ob ich jetzt etwas in ihm auslöse. Mir fehlen der Mut und die Kraft, ihn noch einmal anzusprechen.
 

Matula

Mitglied
Guten Abend @Arno Abendschön !

Ein schwuler Mann hat einmal zu mir gesagt: "Mein Problem ist, dass ich auch Männer nicht leiden kann." Ich vermute, Ähnliches gilt für P., denn dass er wenig verdient, wenig Bildung und Lifestyle besitzt, hieße ja, dass er nur einen passenden Freundeskreis finden müsste, um nicht immer der Außenseiter zu sein. Umgekehrt scheint die Gruppe der - pardon - jungen Snobs ihn nicht ganz auszuschließen, um sich gegen einen Verlotterten wie ihn abgrenzen zu können und an seinem Beispiel zu erfahren, wie das Alter im ungünstigen Fall aussehen kann.
Ein wenig gnadenlos ist Deine kleine Studie, aber sehr gut beschrieben.

Schöne Grüße,
Matula
 
Zuerst meinen Dank an Matula und minimalist für die erfreulichen Bewertungen.

Zu dem vorstehenden Kommentar: Der Text enthält keinen genauen Anhaltspunkt für die Zeit der Handlung, sie scheint lange zurückzuliegen. Nehmen wir einmal an, es seien ca. 40 - 50 Jahre, dann kommen wir bei P... auf ein Geburtsjahr ca. 1925, d.h. er hat den Krieg und die schlimme Zeit danach noch bewusst miterlebt - in Ostberlin. Als er mit seinen Voraussetzungen in mittlerem Alter in den Westen gehen kann, hat er dort auch schlechte Karten und kann froh sein, wenn er überhaupt in einer Clique als Randfigur toleriert wird. Immerhin ist er nicht einsam. Man kann den Fall als frühen, extremen Fall vom Ossi im glitzernden Westen betrachten. Ich habe in den 80ern in Hamburg noch einige schwule Männer aus der DDR erlebt, die gerade herübergekommen waren. Sie waren viel jünger und anpassungsfähiger. An ihnen habe ich als gemeinsames Merkmal den Anpassungsdruck bemerkt, unter den sie sich selbst stellten.

Unabhängig von dieser historischen Betrachtungsweise sind die von Matula oben angestellten Überlegungen zu einer zeitlosen Gruppendynamik gewiss auch hier zutreffend.

Schöne Morgengrüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

was mir heute auffällt - und dabei sind die anderen genannten Aspekte durchaus auch beachtenswert - ist diese dann doch mehr oder weniger unfreiwillige Cliquenbildung. Wenn man eine Gruppe Menschen nur aufgrund einer Gemeinsamkeit einordnet, kommt 'das' dabei heraus. Das ist zwar auch bei anderen Gruppen so, aber hier geht es ja um das Privatleben.

Ich habe den Eindruck, dass junge Menschen heute anders mit ihrer Sexualität umgehen (können), vielleicht sogar mit den gleichgeschlechtlichen Möglichkeiten spielen, sich ausprobieren. Wer dann am Ende mit welchen Personen einen Freundeskreis bildet, und ob da die sexuelle Orientierung (noch) so eine große Rolle spielt, kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich hoffe es nicht. Das ist ja immer das Problem bei der 'angesagten' Freizügigkeit, dass manche sich vielleicht nur bedeckt halten, und neben ihrem CIS Horizont keinen anderen nachempfinden können. Homophobie verschwindet ja nicht einfach.

Aber der P., der ist so wegen seines Seins, nicht wegen seines Schwulseins. Die 'Verhältnisse' können deformieren, so oder so.
Es ehrt Deinen Protagonisten, dass er immerhin erwägt, den gealterten P. 'wahrzunehmen'. Ich frage mich, warum. Solidarität?

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, fürs Lesen, Kommentieren und Bewerten. Zu deinen Gedanken: Ob solche oder vergleichbare Cliquen heute noch auf ähnliche Weise entstehen und zusammengesetzt sind oder nicht, das entzieht sich meiner Kenntnis. Matula hat oben ja etwas über Gruppendynamik dabei geäußert, das ich recht interessant fand. Läuft es nicht darauf hinaus, dass manche Cliquen, um zu funktionieren, einen wie P... brauchen? Das lässt mich überlegen, wie einer heute in einer tadellosen LGBT-Gruppe dadür beschaffen sein müsste. Vielleicht schwer traumatisierter arabischer Flüchtling? Oder ein russischer Emigrant, dessen Ansichten und Auftreten man beim besten Willen nicht komplett gutheißen kann? Oder ein Biodeutscher, der im Verdacht steht, heimlich mit der einen oder anderen Partei am politischen Rand zu sympathisieren?

Zu der Frage nach dem Motiv des Erzählers fürs Wahrnehmen. (Ja, es ist autobiographisch und ich habe sehr zeitnahe Tagebuchnotizen und Fotos für den Text verwendet. An die meisten Details hätte ich keine Erinnerung mehr gehabt.) P... gehörte zunächst einfach zu der Gesamtheit, die der Erzähler studieren und für spätere Verwendung in Reserve halten wollte. Diese Gestalt war ihm lange nicht angenehm, dann gab es die gemeinsame Fahrt von Düsseldorf nach Köln mit den Eröffnungen. Sie waren berührend bis beschämend. An dieser Einstellung hat sich dann auch nichts mehr geändert.

Liebe Grüße
Arno
 

Ubertas

Mitglied
Lieber Arno Abendschön,
was ich hier lese, ist eine brillante Gesellschaftsstudie! Es sieht zunächst alles danach aus, als wäre P. nach den Jahren noch der Gleiche. Du lässt es trotz Andeutungen offen. Gefällt mir sehr gut. Dein P. hat sich in den Jahren dadurch geändert, dass sich die Sichtweise auf ihn gewandelt hat. Der einstige Cowboy-Hut Träger, er sitzt eines Tages wieder in der gemeinsam besuchten Bar. Ist er der Alte?
Ist der Erzähler noch der Alte? Gefühle vermischen sich.
Ein tiefer Einblick jenseits sexueller Orientierung.
Mit Ansprache:
Da reichen fünf Sterne nicht aus!
Lieben Gruß ubertas
 
Danke dir,Ubertas, für die freundliche Aufnahme des Textes und auch für die günstige Bewertung. Ja, das ist wesentlich am erzählten Verlauf, dass die innere Einstellung der beiden Hauptfiguren und damit auch der Blick auf die Mitwelt sich gewandelt haben. Gleichwohl ist es im Ergebnis eine traurige Geschichte, passend zum November.

Liebe Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Arno,
Matula hatte das Wort ja auch schon in den Mund genommen, mir klingt das zu snobistisch. Der arme, dicke Ossi. Mit den coolen, elitären und jüngeren Wessis kann er nicht mithalten. An seiner Stelle hätte ich längst die Biege gemacht. Die Geschichte erinnert mich an: „Sommerhaus, später“ von Judith Hermann. Auch hier will jemand aus dem Osten in der Nachwendezeit in Berlin in eine Intellektuellenclique rein, von denen die meisten wohl, wie auch die Autorin, Wessis sind. Was für ihn auch nicht gut ausgeht.

Den Film „Faustrecht der Freiheit“ von Fassbinder kennst Du bestimmt auch. Auch hier versucht ein Prolet in einer Gruppe von Männern, wo er gar nicht rein paßt, Fuß zu fassen.

Auch unter den Randgruppen der Bluesfreaks und unter den Punks gibt bzw. gab es elitäre Tendenzen. Das Alter spielte immer eine große Rolle. Mit Mitte Zwanzig wurde ich schon mal als alte Frau bezeichnet. Man sollte möglichst immer sechzehn sein.

Als sie Hausbesetzer Anfang neunzig von Kreuzberg nach Friedrichshain kamen, gefühlt in jeder Straße gab es so was, zogen die alternativen Kneipen, die dort entstanden, natürlich auch diejenigen von den hier lebenden Ossis an, die auch nicht so reinpassten. Man musste sich aber bald eingestehen, dass man mit den elitären, obercoolen Besetzern, die meist aus Westdeutschland kamen, überhaupt nicht klar kam. Man hatte höchstens eine Duldung und wurde höflich aber distanziert behandelt. Auch Liebesgeschichten mit ihnen gingen nicht gut aus. Wenn ich da noch an einen gewissen Osnabrücker denke. Der hat mich bestimmt auch nicht für voll genommen. Das erinnert mich an Deine Hauptperson.

Gruß Friedrichshainerin
 
Danke, Friedrichshainerin, für die ausführliche Darlegung. Ja, wir haben (hatten) es hier mit zweifach erklärbarem Außenseitertum zu tun, soziologisch und historisch. Die Gegenbeispiele, die mir durch den Kopf gehen, weichen dann jeweils in mindestens einer Beziehung von dem erzählten Fall ab, also etwa bezüglich Bildung oder Aussehen oder Alter oder einer Kombination davon.

Seltsam mutet hier die Vorliebe für US-Amerikanisches an.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Ubertas

Mitglied
Lieber Arno,
ja, das ist sie. Eine traurige, ergreifende, berührende Geschichte, die mich nicht loslässt, durch deine Art des Erzählens. Sie hat mich an eine Begegnung in meinem Leben erinnert. Wenn ich an sie zurückdenke, bin ich dankbar für wenige Momente. Auch ohne der Möglichkeit einer Zukunft zum damaligen Zeitpunkt, in der Unausweichlichkeit- ich habe nichts davon vergessen. Keine Sekunde.
Daher möchte ich dir nochmals danken für deine Fähigkeit, so authentisch zu erzählen, Nebst Gesellschaftsstudie haben deine Worte all das in sich, was mir unter die Haut geht. Nochmals danke dafür.
Lieben Gruß ubertas.
 
Liebe Ubertas,

danke für diese erwärmenden Zeilen. Ich lasse sie noch etwas auf mich wirken. Dass sie mir bloß nicht zu Kopf steigen! (Hm, falsche Bescheidenheit muss ich wohl noch üben.)

Ja, es gibt solche zurückliegenden isolierten Momente (du sprichst oben davon), die man in der Erinnerung als essenziell einschätzt und zu denen die Gedanken immer wieder zurückkehren. Manchmal enthalten sie so etwas wie Glück.

Liebe Grüße
Arno
 



 
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