Die Geschichte von Björn und Ilvy

mandrellski

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Es war einmal ein Nordmann edlen Blutes, nennen wir ihn Björn. Björn war ob seiner jungen Jahre ein reifer, erfahrener und gar weiser Mann. Als zukünftiger Nachfolger seines ehrwürdigen Reiches, würde er in einigen Jahren seinen Vater ablösen, in seine Fußstapfen treten und über sein Dorf und die angeschlossenen Höfe, bestehend aus tapferen Maiden, Kriegern und Bauern, herrschen.

Er lebte sein Leben in der ständigen Bemühung, seiner Pflicht nachzukommen. Schon früh musste er auf eigenen Beinen stehen, sein Geschlecht verteidigen und sich seinen Namen erkämpfen. Das tat er unentwegt. Waren es Kämpfe gegen verfeindete Sippen wie die jenseits des großen Flusses, der das Gebiet, in dem er lebte, aufteilte, oder das Ringen mit seinem Vater, der das Zepter selbst nicht aufgeben wollte, aber seinen Stamm zunehmend schlechter verteidigen konnte. Er ging stets mit Kraft, gepaart mit Rafinesse vor, sodass er erfolgreiche Bündnisse schloss und die Menschen ihn liebten. So hatte er sich seines Beinamens „der Schlaue“ verdient gemacht.

Es kam nun, dass er eines Tages zu einer Expedition aufbrach, die Handelsstärke seines Vaters Königreiches zu erweitern. Da es ein schwieriges Unterfangen würde und er die gegnerische Partei mit Gesprächen statt Gewalt auf seine Seite zu ziehen gedachte, hatte er sich gegen die Begleitung seiner königlichen Entourage entschieden. Ganz allein sattelte er in den frühen Morgenstunden, der Nebel hing noch tief über den Auen der Ländereien, seinen stolzen Rappen und gab ihm die Sporen, sein Ziel zügig zu erreichen. Er war im Zwiespalt, da er einerseits gezwungen war, Gespräche im verfeindeten Gebiet zu führen, die über Krieg oder Frieden in der Heimat entscheiden konnten und sich daher nicht weiter aufschieben ließen – andererseits war er von der letzten Schlacht geschwächt. Sein Körper schmerzte, als er aufsaß und die Fieberträume, die ihn seit Tagen wie ein schlechter Freund begleiteten, konnte er auch im morgendlichen Galopp nicht abschütteln, ebenso wie die Gedanken an das, was am Ziel auf ihn zukäme. Lange Zeit hatte er dieses Treffen hinausgezögert und vor sich hergeschoben. Doch die Zeiten hatten sich verändert, er musste seinem Vater beweisen, dass er würdig seinen Platz würde einnehmen können und nun war der Tag gekommen, an dem es an ihm lag, den Beweis anzutreten.

Bei seiner Ankunft im fremden Land, nachdem ihm die Tore der Festung geöffnet worden waren, erblickte er eine wunderschöne, lächelnde junge Frau, doch in ihrem Blick erkannte er noch etwas anderes. Sie wirkte verletzt und gequält, allerdings konnte er dahinter ein gutes, großes Herz erkennen. Sie ließ ihn hinein und versorgte ihn mit Met und dicken Scheiben Schmalzbrot, um den friedvollen, aber doch respekteinflößenden Gesandten nach seinem anstrengendem Ritt zu empfangen.

Er nahm alsbald die diplomatischen Gespräche auf, dabei jedoch stets die junge Magd im Blick behaltend. Sie tauchte mal hier, mal dort auf, immer im geschäftig treibend. In ihrem Gesicht meinte er ihre Verzweiflung lesen zu können. Ihr grünes Kleid und die kupfernen Strähnen, die ihre Schultern leicht umspielten, brannten sich in sein Herz ein und als er abends seine komfortable Bettstatt errichtete, war das Letzte, das er sah, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel, ihre wallenden Stoffe und das Gesicht, das ihm aus unerklärlichen Gründen Sicherheit vermittelte. Er musste zu ihr gelangen, ihre samtene Haut tasten, eine Strähne ihrer Haare zwischen seinen Fingern greifen, um zu fühlen, ob sie tatsächlich so zart waren, wie sie wirkten. Und er wollte ihr endlich wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern, er wollte derjenige sein, der ihr den Schwermut nahm, dem er bei jeder Begegnung mit ihr so gewahr wurde.

Die Gespräche im benachbarten Reich waren zäh und verliefen nicht wie erhofft. Björn war nach den nicht voranschreiten wollenden Verhandlungen noch geschwächter als bei seiner Ankunft, sodass er einen folgenschweren Fehler begann: Er diskreditierte Leif, den Vertrauten der Königin und wurde ins Verließ geworfen.

Er verbrachte Tage und vielleicht Wochen im Fieberwahn, so geschwächt, dass er nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden konnte. In Stunden der Unsicherheit verabschiedete er sich von seinem Leben. Er hoffte, dass sein Vater ihm eines Tages würde verzeihen können, dass er seine Pflicht verletzte, denn nun würde Jonte, sein minderbemittelter Vetter das Reich führen müssen.

Eines Tages, er hatte aufgehört zu zählen, wie viele Stunden er in Dunkelheit verbracht hatte, erreichte eine Stimme sein Gehör. „Björn?“ wisperte es leise. Er reagierte nicht sofort, denn er war sich sicher, dass die Sirenen ihn nun holen würden. Doch da erklang die Stimme erneut, diesmal lauter, klarer und mit mehr Nachdruck: „Björn! Wach auf!“ Er versuchte sich der Stimme entgegenzurecken, doch jeder Muskel seines Körpers schmerzte bei dem leisesten Versuch, sich zu bewegen. „Shh, bleib liegen,“ sprach da die Stimme erneut „ich bin hier, um dir zu helfen.“ Er hörte ein Scharren auf dem kahlen, feuchten Steinboden seiner Zelle und erblickte einen Krug sowie eine hölzerne Schale mit einem dampfenden, wohlduftenden Etwas darin. Das einfache Mahl, es schien ein Brei aus Gries oder Weizen zu sein und das klare, kühle Wasser im Krug erschienen ihn nach den vielen Tagen des Hungerns wie das größte Festmahl, das ihm je serviert worden war. Er griff unter größter Anstrengung nach dem grob geschnitzten Löffel und führte hastig einen ersten Bissen an seinen Mund, an dem die Lippen durch Folter und Qualen spröde und blutig aufgerissen waren. Der Brei schien das Beste zu sein, das er jemals hatte kosten dürfen und seit Ewigkeiten fühlte er, dass ihm noch einige wenige Lebensgeister verblieben waren. „Iss nicht so schnell“ drang nun die Stimme wieder an sein Ohr, doch er hörte nicht auf sie. Zu groß war die Angst, dass ihm dieser Traum wieder entrissen werden könnte. „Wer bist du?“ brachte er zwischen zwei Bissen atemlos hervor. „Warum hilfst du mir?“ „Ilvy“ erklang die zarte Stimme hinter kalten Gitterstäben, als sich gleichzeitig eine Hand vorsichtig auf seine Schulter legte. Er richtete sich ächzend auf und zog sich an der Wand hoch, um sie ansehen zu können. Ihr Anblick durchfuhr ihn wie ein Blitz, denn sofort waren die Bilder von grünen Gewändern und stählernen Augen wieder in seinem Kopf. Fantasierte er doch? War es nun zu Ende mit ihm? Seine Gedanken drehten sich immer schneller, als sein Bewusstsein schwand. „Hey, bleib bei mir, halte die Augen geöffnet!“ erklang nun wieder Ilvys Stimme. „Bist du echt?“ rang sich ein Keuchen aus Björns Rachen. „Ja. Natürlich. Ich hatte Angst, zu spät zu sein. Die Wachen ließen mich nicht durch, aber ich habe einen Weg gefunden. Du musst essen!“ Sie beobachtete ihn liebevoll, als ihm das wohltuende Mahl verloren geglaubten Kräfte zurückbrachte. Björn verstand nicht, doch mit jedem Bissen schmerzte sein Körper weniger und seine Wunden schienen zu verheilen. „Was passiert mit mir?“ fragte er Ilvy verblüfft. „Nur ein klein wenig Magie“ erwiderte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Danke.“ brachte Björn ergriffen hervor. „Sag, Ilvy, was tust du hier?“ – „Ich brauche dich, Björn, nur du kannst mir helfen.“ – „Wie könnte ich dir in meiner Situation helfen? Was ist los?“ fragte Björn.

Ilvy seufzte. Das, was ihr bevorstand zu berichten, schien sie sehr zu belasten. Die Wahrheit einem Wildfremden zu offenbaren, von dem sie nicht wusste, ob er Feind oder Freund war, fiel ihr nicht leicht. Doch sie hatte nur diese eine Chance. Björn war der einzige Mensch auf Erden, der sie jetzt noch retten konnte.

Sie berichtete ihm von ihrem Leben, in welchem sie als einzige Tochter des Königs an einen guten Mann von Ehre und Stand verheiratet werden sollte. Ihre Mutter hatte ihre Wahl getroffen – es war Leif, der engste Vertraute der Königin – eben jener, den Björn zutiefst beleidigt und diesen Fehler mit seiner, offen gestanden einem Thronfolger nicht ganz entsprechenden, Unterkunft bezahlen musste. Ilvy wehrte sich gegen die Heirat und hatte mehrfach versucht zu fliehen. Doch die Wachen seiner Eltern hatten sie immer nach kürzester Zeit gefunden, bevor sie sich weit genug vom Reich entfernen konnte. Leif war nicht nur doppelt so alt wie Ilvy, er war auch kleingewachsen und rachsüchtig zu allen, die ihn jemals schräg anschauten. Und das waren einige, denn er war kein schöner Anblick mit seinen Furunkeln im Gesicht und seinem gebückten Gang, der mehr zu einem unglücklichen Greis denn zu einem stattlichen Herrn passte. Nicht mal sein Geist konnte davon ablenken, denn seine Gedanken waren schal und von geringem Intellekt. Auch Ilvy war bei ihm in Ungnade gefallen als er begriff, dass sie ihn nicht achtete. Und so wurde sein Verhalten ihr gegenüber immer bösartiger und gewalttätiger. Nach ihrem letzten Fluchtversuch prügelte er sie grün und blau als die Wachen sie zu ihm zurückbrachten und schloss sie im Turm ein, damit sie nicht mehr fliehen konnte. Nur dank des alten Druiden, der sie schon seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war wie ein gütiger Großvater liebte, konnte sie hin und wieder ihre Kammer verlassen. Die Kräfte des Magiers reichten allerdings nicht bis hinter die Burgmauern, sodass er ihr nicht zur Flucht verhelfen konnte. Dies zu vollbringen, vermochte nur ein Edelmann eines anderen Reiches. Er hatte ihr prophezeit, dass eines Tages ein junger Reiter das Land besuchen würde – er sei ihre einzige Chance, sich Leif ein für alle Mal zu entreißen. Ab diesem Tag setzte sie all ihre Hoffnung in den Mann, der den Geschichten der alten Weiber nach der schönste, stärkste und intelligenteste sein sollte, den das gesamte Westland, von den Niederbergen, über den großen Fluss hinweg, ja bis nach Brockenheim gesehen habe. Björn.

Doch keine der Geschichten reichten an den Anblick heran, der sich ihr zeigte, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Wie er dort stand, erhitzt und ermattet von der anstrengenden Reise und trotzdem so perfekt wie es ein Mann nur sein konnte. Seine Haare glänzten in strahlendem Gold, gleich wie reife Weizenähren auf dem Feld an einem sonnigen Augusttag. Und seine Augen waren von so tiefem, klaren Blau, durchzogen von abertausenden, feinsten Silberfäden, dass die schönsten Winterhimmel vor Neid erblassten. Wenn es einen Menschen gab, der sie retten konnte, dann Björn oder niemand. Das wurde ihr in diesem Augenblick schmerzlich bewusst.

Sie versuchte seine Aufmerksamkeit zu erlangen und ihm ihre Geschichte zu erzählen, doch Leif schirmte sie ab und drohte ihr, sie steinigen zu lassen, sollte sie es noch einmal wagen, sich jemanden anzuvertrauen oder gar zu fliehen. Nur mit der Hilfe des Alten hatte sie es in dieser Nacht geschafft, zu Björn zu gelangen und ihn um Hilfe anzuflehen.

Nachdem sie ihre traurige Geschichte beendet hatte, brauchte Björn einen Moment, das Gehörte zu verarbeiten. So viele Worte hatte er in jenen Wochen im stillen Verließ nicht mehr gehört, sodass ihre Sätze in seinem Kopf wild durcheinander schwirrten. „Hast du mich verstanden?“ fragte Ilvy daher nach einem Moment des Zögerns. „Ja, ja…“ gab Björn gedankenverloren von sich. „Was nun? Wie kann ich dich hier rausholen?“ „Es gibt nur eine Möglichkeit. Und es muss morgen Nacht geschehen. Hier, nimm“ sagte sie, während sie ihm ein Amulett mit einem seltsam glänzenden und zugleich wunderschönen Stein in die Hand drückte. Björn konnte den Blick kaum von dem Schmuckstück reißen, so außergewöhnlich war seine Wirkung auf ihn. „Nur morgen kann der Stein seine volle Wirkung entfalten. Er wird dir helfen, dein Verließ zu verlassen und meines aufzusuchen. Warte ab, bis die Wächter ihre Nachtrunde absolviert haben. Dann ziehen sie sich zurück zum Kartenspielen und Rum trinken. Warte noch eine Stunde, dann sind sie so benommen, dass du dich in der Dunkelheit an ihnen vorbeischleichen kannst. Am Ende des Korridors ist eine kleine Falltür. Du musst sie öffnen und die Treppen emporsteigen. Am Ende des Treppenabsatzes folgt eine weitere Tür, hinter der meine Kammer liegt. Nutze das Amulett, um die Tür zu öffnen. Dann fliehen wir gemeinsam.“ Björn konzentrierte sich auf das Gesagte, um kein Detail zu missachten. Ihm wurde klar, dass er nur diese eine Chance hatte, Ilvy und sich selbst zu retten. Denn durch das kleine Fenster seines Gefängnisses, das auf den Marktplatz führte, hatte er am frühen Abend beobachtet, wie ein Galgen aufgebaut worden war und er konnte sich denken, für wen dieser bestimmt war.

Plötzlich wurden Schritte laut, Matsch aus den Gassen schabte unter den schweren, ledernen Sohlen der Wachen, die in den Gängen hallende Geräusche hinterließen. „Ich muss los!“ flüsterte Ilvy mit schreckverzerrtem Blick. Im nächsten Augenblick war sie in der Dunkelheit verschwunden und Björn saß einen langen Moment in seiner Zelle, darüber nachdenkend, ob er sich die letzten Minuten nur eingebildet hatte. Doch dann fühlte er die kühle Schwere des Amuletts, das er noch in den Händen hielt und ihm wurde bewusst, dass diese letzten Minuten tatsächlich passiert waren. Schnell ließ er es in die Tasche seines Gewands gleiten, als sich das höhnische Gelächter der Wachen näherte.

Am nächsten Tag wachte Björn auf und fühlte, wie all seine Kraft zurückgekehrt war. Er wurde von Stärke durchströmt und wusste, er würde die Rettung in der kommenden Nacht schaffen. Er besann sich auf sein Blut, das durch Generationen von Kämpfern das beste geworden war, dass es hier und jenseits gab. Sein Selbstvertrauen kehrte zurück, als er wieder an das Bild der Frau dachte, die ihn so verzaubert hatte. Die Stunden krochen nur schleichend vor sich hin und als die Sonne langsam hinter den letzten Häusern des Marktplatzes verschwand, konnte er vor Anspannung kaum noch an sich halten. Plötzlich überkamen ihn Sorgen. Würde die Flucht glücken? Oder würde er heute Nacht sein Schicksal besiegeln? So oder so – es war ihm egal, denn es gab nur einen einzigen Weg für ihn. Hinaus, zusammen mit Ilvy.

Als die Wachen bei ihrer Abendrunde das fade Essen durch die Gitterstäbe schoben und sich die Hälfte des ungenießbaren Breis auf dem Verließboden ergoss, stießen sie ein gellendes Lachen, das mehr wie ein Bellen klang aus. Doch Björn verhielt sich ganz so, als sei er noch immer geschwächt, und versteckte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, sein durch ein Wunder geheiltes Gesicht im Schatten der steinernen Mauern, die ihn umgaben. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke und Panik stieg in ihm auf. Wie würden sie aus dem Turm fliehen können? Das Amulett half ihm, die versiegelten Türen zu öffnen, aber gegen Heerscharen bewaffneter Wachen überall in der Burg verteilt würde er allein nichts ausrichten können, selbst ein ausgezeichneter Kampfkünstler wie er einer war. Das Gespräch mit Ilvy hatte ihn so perplex zurückgelassen, dass er nicht weitergedacht hatte, als bis zum Betreten ihrer Kammer. So schlich er sich leise während der Wachablösung mithilfe des Amuletts aus seinem Kerker und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, hoffend, in den dunklen und feuchten Gängen überhaupt etwas erkennen zu können. Er dachte fieberhaft nach, wie sie schnell und unauffällig die Burg verlassen konnten. Da vernahm er einen modrigen und feuchten Geruch nach Algen und Fisch und wandte sich in die Richtung, aus der er zu kommen schien. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das erblickte, was er zu hoffen nicht gewagt hatte. Ihre Flucht war gesichert. Mit dem guten Gefühl, eines sicheren Plans im Kopf kehrte er unauffällig in seine Zelle zurück, bis der Moment des Aufbruchs gekommen war.

Im Kopf hatte er nach Ilvys Beschreibung einen Plan der Korridore erstellt und huschte nun so leise wie möglich mit einer kleinen Fackel, die er von der Wandhalterung gelöst hatte, durch die verschlungenen Flure, bis er die Treppe erreichte, die ihn zu ihr führen sollte. Er stieß die knarzende Falltür auf und drehte sich sorgenvoll um, doch wie Ilvy vorhergesagt hatte, waren die Wachen nun schon so berauscht und ausgelassen, dass sich niemand mehr um sonderbare Geräusche, die das alte Gemäuer absonderte, kümmerte. An Ilvys Tür angelangt, nahm er das Amulett aus seiner Tasche, das in der Nähe des Schlosses zu leuchten begann. Das eigentlich mit Magie verschlossene und nicht zu öffnende Schloss klickte bei der Berührung mit dem merkwürdigen Stein kurz und die Tür glitt lautlos auf. Ilvy stand kerzengerade vor Schreck erstarrt in ihrer Kammer und schaute ihn aus großen Augen erst angsterfüllt und dann hoffnungsvoll an. Bei ihrem Anblick klopfte Björns Herz bis in seinen Hals und er musste einen Kloß der Aufregung hinunterschlucken, bevor er sprechen konnte. „Ich bin da. Komm!“ raunte er heiser. Ilvy wandte sich zur Tür, blieb aber wie gelähmt auf dem Absatz stehen, als sie Schritte hörte. Schwere Stiefel und rasselnde Kettenhemden waren deutlich vom unteren Bereich des Treppenhauses zu vernehmen. Sie riss die Augen auf und wandte sich zu Björn: „Wir sind verloren! Versteck dich!“ – „Nein.“ erwiderte Björn selbstbewusst. „Folge mir“ wies er sie an, als er sich an eins der Fenster wandte. „Was hast du vor? Du willst, dass wir springen? Da unten ist der Kanal und zu dieser Jahreszeit ist das Wasser eiskalt! Bevor wir schwimmend die Burgmauern erreicht haben, werden wir erfroren sein!“ Björn grinste immer noch und Ilvy wurde langsam wütend, weil sich ihr Plan in Luft aufzulösen schien. Was ihr dann blühte, wenn man sie hier mit ihm fand, darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Plötzlich, noch halb in ihren panischen Gedanken gefangen, packte Björn sie an der Hüfte und hob sie hoch, als sei sie ein Bündel Federn. Ehe sie sich versah, machte er einen Satz auf den Fenstersims und ließ sich im nächsten Augenblick gemeinsam mit ihr in die Tiefe fallen. Ilvy versuchte einen Schrei zu unterdrücken und presste sich an Björns stählerne Brust, als sie im Bruchteil einer Sekunde weich landete.

Sie lagen ineinander verknotet in einem kleinen Transportboot, wie sie bald in dem trüben Licht der Fackel, die Björn beim Fall gerettet hatte, ausmachen konnte. Es wurde wohl üblicherweise für die Verschiffung von Stoffen verwendet, denn sie konnte den warmen Geruch von Baumwolle ausmachen. „Deck dich damit zu“ sagte Björn und warf ihr eine Stoffbahn zu, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. Lieber wollte Ilvy zurück in seine starken Arme sinken, in denen sie sich sicher und behütet fühlte. Sie versteckte sich unter der Baumwolle, damit man ihren Leib nicht sah, während Björn die Funzel im eiskalten Kanalwasser löschte, sodass Zischen und Qualm sich seinen Weg bahnten und das Tau einholte, mit dem die Barke festgemacht worden war. Er löste die Ruder aus der Verankerung und machte sich dran, mit starken, gleichmäßigen Zügen den Kahn unauffällig und so leise wie möglich aus dem tunnelartigen Kanalsystem zu manövrieren. Als Björn einen Blick hinauf zum Turm warf, stellte er erleichtert fest, dass die Wachen nicht am Fenster auf sie hinabblickten. Keiner der Gardisten war zu sehen. Sie waren in Sicherheit. Zumindest, bis er die dunklen Gestalten an der Burgmauer ausmachte, die alle Händler kontrollierten. Doch darauf hatte er sich vorbereitet. „Was transportierst du zu so später Stunde, Händler?“ riefen sie ihm unwirsch zu, da sie sich von der späten Unterbrechung gestört fühlten. Björn hatte zuvor seine Schulterplatten abgelegt und wirkte nun wie ein ganz einfacher Handelsmann. Er nestelte mit der einen Hand ein Stück Papier, mit der anderen ein paar Goldmünzen als Zoll aus den Innentaschen seines Mantels. Den Zettel hielt er hoch, während er die Münzen klimpernd in die Hände der Männer fallen ließ. „Nur ein paar Bündel Leinen und Baumwolle die Herren. Es ist spät geworden, meine Reise in euer Königreich ist weit und nach den Strapazen habe ich dem Wein und dem Weibern im Gasthaus zu lang gefrönt. Nun muss ich mich eilen, meine Heimat vor dem Morgengrauen zu erreichen, sonst gibt es Schelte vom Dienstherren. Ihr kennt das ja.“, setzte er mit einem Zwinkern nach, in der Hoffnung, damit die Sympathien der Wächter zu erlangen. Jenen war sein Geplapper recht egal und er machte auf sie keinen zweifelhaften Eindruck. Sie warfen nur einen flüchtigen Blick auf die Transportpapiere, die eigentlich etwas ganz anderes bescheinigten, aber sie wollten ihre Ruhe haben und sich wieder ihrem Würfelspiel widmen, sodass sie ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung passieren ließen.

Die Erleichterung ließ sich Björn erst anmerken, als er wieder zu rudern begonnen und den Wachmännern den Rücken zugekehrt hatte. Erst dann atmete er merklich auf und das verschmitzte Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Schweigend und in sanften Bahnen rudernd manövrierte Björn das Boot den Kanal entlang, raus aus dem Dorf.

Eine Weile hörte Ilvy nur das Geräusch der gleichmäßigen Ruderzüge auf dem Wasser und spürte die klare Nachtluft, die sich unter den Stoffen ihren Weg bis zu ihrer Haut bahnte. Sie tat nach der langen Zeit ihrer Gefangenschaft gut, sodass sie ein paar tiefe Atemzüge nahm und versuchte, die letzten Szenen zu verarbeiten. Nach einer Weile, von der Ilvy nicht hätte sagen können, wie lang sie so verharrte, spürte sie Björns schützende Hand auf ihrem Rücken. „Du kannst jetzt rauskommen. Wir sollten in Sicherheit sein.“ Mühsam schälte sie sich aus ihrem Versteck und blinzelte ein paar Mal, während sie sich suchend umblickte. Sie fuhren viel friedlicher, als es zu dieser Situation passte, auf einem schmalen Fluss, der von Büschen und Bäumen umrahmt wurde. Die Häuser, die die Burg umgaben, lagen weit am Horizont und sie konnte die Schornsteine im Licht des anbrechenden Tages nur noch ausmachen, als sie die Augen fest zusammenkniff. Neben dem monotonen Rudergeräusch, das sie in einen fast meditativen Zustand versetzte, hörte sie nichts weiter als hier und da einen Kauz, welche sich in den alten Eichenbäumen am Ufer versteckt hielten.

„Wir haben es geschafft.“, presste Björn zwischen zwei Zügen hervor. Auf Ilvys Gesicht huschte ein kleines, schüchternes Lächeln und Björn verstand mit einem Mal, warum ihn immer, wenn er sie erblickte, diese Trauer ergriff, obwohl ihre Schönheit und Anmut auf ihn wirkten wie ein Fabelwesen. „Im Grunde meines Herzens habe ich deine Verzweiflung gefühlt“ erwiderte er daher leise und schloss sie in seine Arme. Die Kälte der Nacht und die Anstrengungen, die das Bootfahren verursachte, nahm er nicht mehr wahr, da die Wärme ihres Körpers und ihre Berührung die schönste Medizin für ihn war, die er jemals empfangen hatte.

Als sie sich unwillig aus ihrer Umarmung lösten, schauten sie sich lang und tief in die Augen und verstanden alles. Den Schmerz, die Hoffnung und die Pein, die sie fühlten und durchmachten. Sie fühlten sich wie Schlüssel und Schloss, die einfach, ohne Hindernisse, ineinanderpassten. Björn waren plötzlich alle Konsequenzen egal. Was dieser Schritt für ihr Leben bedeuten würde, nun, da er einem Mann sein Weib gestohlen hatte. Er würde nicht in sein Königreich zurückkehren können, weil sie ihn dort finden würden. Und sie würden ihn jagen, das war ihm mehr als bewusst. Er würde seine Heimat, seinen Status und seine Reichtümer aufgeben müssen, nicht aber seine Ehre und seinen Stolz oder die Liebe zu dieser Frau. Es würde nicht leicht werden, aber jetzt, da er sie so anschaute und das Gefühl hatte, in ihren blauen Augen bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können, ihr Haar in den schönsten Farben glänzte, während es mit den ersten Strahlen des neuen Tages Fangen spielte – da wusste er, dass sie gemeinsam alle Widrigkeiten überstehen konnten und dass ihre Umarmung bis zu seinem letzten Atemzug das Heilmittel für jeden Schmerz auf Erden sein würde. Er konnte es nicht verhindern, dass ein breites Lächeln sein Gesicht noch schöner machte, falls es denn möglich war. Und Ilvy lächelte wissend zurück.

***

„Ilvy, komm schnell!“ rief Björn lachend in ihre Richtung. Ilvy ließ den Korb, den sie zum Holzsammeln nutzte, fallen, raffte ihre Röcke und lief den Hügel zur Hütte hinauf. Dort standen im fahlen Spätsommerlicht alle Menschen, die ihnen lieb waren und strahlten über beide Ohren. Alle waren sie gekommen, Freunde, Familie und die Menschen aus den umliegenden Höfen, die lange Zeit keine Ahnung gehabt hatten, mit welchen Nachbarn sie wirklich zusammenlebten, um sie zu feiern. Verblüfft schaute Ilvy erst zu Björn, dann zu den Menschen und wieder zurück zu ihm, der gespielt ratlos die Schultern zuckte. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus und setzte an, jeden einzelnen ihrer unerwarteten Gäste herzlich zu umarmen. „Na, das nenne ich eine Überraschung!“ Dass sie eines Tages wieder alle vereint sein würden, das hatten Björn und Ilvy an diesem einen, schicksalhaften Morgen auf dem still daliegenden Fluss nicht gedacht. Sie wussten, dass sie gemeinsam stark sein und sich ein neues Leben aufbauen würden, aber blickten auch in Wehmut auf die Menschen und das Leben zurück, dass sie hatten verlassen müssen. Um sicher zu sein, durfte niemand wissen, wo sie sich aufhielten, und so hatten sie die Monate nach der Flucht zurückgezogen in ihrer Hütte am Waldrand verbracht. Dort hatten sie alles, was sie brauchten – der Wald bot genug Nahrung für die beiden und auch ein wenig Gemüse hatte Ilvy zuletzt angebaut. Björn war ein großartiger Handwerker und hatte den einfachen Verschlag zu einem wunderschönen Heim für die beiden ausgebaut. Dicke Holzbohlen schützten sie vor dem manchmal unbarmherzigen Wetter und der großzügige Steinkamin wärmte sie, wenn sie nach einem arbeitsreichen Tag von Draußen zurückkehrten. Und wenn das nicht reichte, dann hatten sie die Wärme des anderen, die alles vergessen machte.

Alles hatte sich verändert, als Björn eines Tages möglichst unauffällig die nächstgelegene Stadt betrat, um dringend benötigte Medizin für Ilvy zu kaufen, die in einem besonders strengen Winter an einem schlimmen Husten litt, gegen den kein Hausmittel half. Dort hingen noch die inzwischen verblichenen Zettel an den Holztüren der Gasthäuser, auf denen sein Kopf prangte und eine Belohnung für eben jenen aussprachen. Im Schatten der dunklen Gassen bahnte er sich einen Weg zur Apotheke. Doch das, was dort unter den Dorfleuten getuschelt wurde, und er im Vorbeilaufen aufschnappen konnte, war für ihn im ersten Moment unbegreiflich gewesen: Leif war in Ungnade gefallen und war, wie er selbst einst, in den Kerker gesperrt und später gehängt worden. Nach seinem Tod erfuhren Ilvys Eltern, was er ihr angetan hatte und waren so gepeinigt von Scham und Schuld, dass ihr Herz brach und sie eines Morgens sich Arm in Arm haltend reglos da lagen.

Björn war an diesem Tag schnell wie der Wind und seinen Rappen anpeitschend nach Hause zu Ilvy geritten und ihr in zusammenhanglosen Satzfetzen von dem, was er am Marktplatz erfahren hatte berichtet. Ilvy hatte einen Moment gebraucht, bis ihr klar wurde, was das für sie bedeutete: Sie waren endlich frei. Sie hatten es geschafft, sie hatten zusammengehalten und nicht aufgegeben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Doch nun war die Last von ihren Schultern gefallen und sie konnten wieder zu ihrer Familie und zu ihren Freunden zurückkehren. Der König und die Königin waren in den Monaten Björns Abwesenheit schier verzweifelt vor Trauer um ihren geliebten Sohn und hatten zu Ehren seiner Rückkehr – und das auch noch mit einer wundervollen Frau im Arm – ein großes Fest für den totgeglaubten Thronfolger veranstaltet. In einigen Jahren, so hatten sie sich geeinigt, würde er die Familienwürde übernehmen, das Reich nach seinen Regeln weiterregieren und alle Pflichten erfüllen, die von einem ehrwürdigen König verlangt wurden. Doch bis dahin durften Björn und Ilvy die Zweisamkeit in ihrer kleinen Hütte genießen. Nur noch kurz würden sie so zurückgezogen leben können, nur auf sich selbst gestellt und mit der Natur in Einklang. Ohne Erwartungen von außen, ohne Druck und ohne Fehler, die man in der Gesellschaft begehen konnte – und davon gab es viele. Es blieben ihnen nur noch wenige Monate und sie kosteten jeden von ihnen aus.

Und als sie so mit all ihren geliebten und verloren geglaubten Menschen rings um ein lauschiges Feuer, Ilvys Geburtstag zum Anlass, saßen, mit Met und gegrilltem Hammel und den Geschichten lauschten, die sie verpasst hatten, während sie in ihrem Versteck warn, warf Björn Ilvy einen liebevollen Blick zu. Er drückte ihre Hand, während er ihr einen Kuss auf den Scheitel hauchte. Und alles war gut.
 



 
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