Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 4

Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 4 – Fortsetzung von „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 3"

„Dieser Platz ist so gut wie jeder andere dafür geeignet, uns auf unsere Ankunft auf Sicyl vorzubereiten, Cytys“, bemerkte Famal, als sie anhielt. Sie wollte ihrem Mann allerdings nicht mitteilen, wieso sie sich in diesem Teil des Waldes so gut auskannte. Sie wusste aber auch, dass er ein gutes Gespür dafür hatte, herauszufinden, ob sie etwas vor ihm verborgen halten wollte. Deshalb tat sie das nicht mehr sehr oft. Aber es gab Situationen, in denen sie zu Ausnahmen gezwungen war. Zumindest glaubte sie das.

Cytys schien aber nicht weiter auf sie zu achten, denn er war bereits damit beschäftigt, einen seiner Röcke – einen der dunkelblauen – aus der Packtasche zu holen, um sich möglichst schnell der Hose zu entledigen, in der er sich so unwohl fühlte. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie es gut finden sollte, dass er nicht bereit war, sich zu verstellen. Sie fand immer noch, dass es seine Vorteile haben würde, wenn er nicht direkt als Viri erkennbar wäre, auf der anderen Seite konnte sie es ihm nicht übelnehmen, dass er nicht vorgeben wollte, jemand zu sein, der er nicht war. Zumindest hatte er darauf verzichtet, sich zu auffällig zu schminken, aber er hatte seine Augen schwarz umrandet. Er käme allerdings nie auf die Idee, seine Haare abzuschneiden oder sie nicht in einem Zopf zu tragen. Sie hatte relativ lange gebraucht, um zu begreifen, dass es sich für einen Viri einfach nicht gehörte, mit offenen Haaren in der Öffentlichkeit zu erscheinen.

„Wie weit ist es noch bis zum Haus deines Vaters?“, wollte er von ihr wissen, während er sich umzog.

„Kein Haus, eine Burg“, verbesserte sie ihn abwesend, weil sie gerade die Umgebung nach möglichen Gefahren absuchte. Sie hatte im Oixyyaa keine einzige Burg entdeckt und wenn sie Dejivoar glauben sollte, dann gab es dort auch keine, genauso wenig wie im Imperium der Vassu. „Wir brauchen vielleicht noch eine halbe Stunde bis zum Saum des Waldes, dann führt der Weg durch das Dorf direkt zum Sitz des Duco von Sicyl.“

„Mitten durch das Dorf? Hältst du das für eine gute Idee?“ Er sah sie fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Den Weg, den ich gerade beschrieben habe, will ich nicht nehmen. Schließlich sind wir keine gewöhnlichen Besucher. Wir werden das Dorf umgehen. Inzwischen ist es fast dunkel, deshalb werden wir uns vorbeischleichen und haben dabei eine gute Chance, nicht entdeckt zu werden. Aber spätestens am Burgtor können wir uns nicht mehr verstecken.“

„Gut“, beschied er ihr, während er die Hose verstaute. „Wir haben das ja auch schon alles besprochen. Ich hatte nur für einen Moment befürchtet, du wolltest etwas an unseren Plänen ändern.“

Schließlich war er mit seinen Vorbereitungen fertig und trat neben sie, das Packpferd am Zügel haltend. Normalerweise wechselten sie sich damit ab, das Tier zu führen, aber je weiter sie sich Sicyl näherten, desto öfter hatte er das übernommen und ihr damit Gelegenheit gegeben, auf Erkundung zu gehen. „Ist das hier der Teil des Waldes, in dem du früher geübt hast?“ Er sah sie von der Seite her an und sie wusste sofort, dass er sie erneut durchschaut hatte. Sie hatte ihre Reaktion auf diesen Ort nicht vor ihm verbergen können.

Sie nickte. „Die Stelle, an der ich überfallen wurde, befindet sich nicht weit von hier.“ Mehr musste sie nicht sagen. Er kannte die Geschichte über die drei Männer, die gemeint hatten, sie müsste leichte Beute sein und aus diesem Grund jetzt nicht mehr lebten. Dies war der Auslöser für ihre Reise in den Süden gewesen. Außer Cytys wusste niemand, dass sie diese Männer getötet hatte, nicht einmal ihr Vater, dem sie ansonsten immer alles erzählt hatte.

Als ihr Blick auf das Packpferd fiel, stellte sie fest, dass er auch bereits ihre langen Kapuzenumhänge herausgeholt hatte. Diese wollten sie dafür benutzen, um ihre Identität noch eine Zeitlang zu verbergen, nachdem sie die Deckung des Waldes verlassen hatten. Sie wollte auch nicht riskieren, am Burgtor erkannt zu werden. Zumindest nicht, bevor sie eine Chance gehabt hatte, die Lage zu erkunden. Und nicht, bevor sie erfahren hatte, ob ihr Vater noch lebte und in der Burg herrschte. Deshalb hoffte sie, Jasypas wäre immer noch Hauptmann der Wache. Er war mit ihrem Vater im Krieg gewesen und sie würde ihn sogar als seinen Freund bezeichnen, auch wenn ein Duco offiziell nicht mit einem einfachen Equito befreundet sein konnte. Aber schließlich musste nicht immer alles offiziell sein. Jasypas hatte sie immer freundlich behandelt und sie war sich sicher, ihm vertrauen zu können. Wenn nicht ihm, dann wusste sie nicht, an wen sie sich in der Burg wenden könnte. Schließlich hatte sie keine Möglichkeit, ohne fremde Hilfe bis zu ihrem Vater vorzudringen.

Cytys sah sie immer noch an. „Geht es dir gut?“, wollte er schließlich von ihr wissen. Gerade wollte sie ihm schon sagen, dass es ihr selbstverständlich gut ginge, aber dann hielt sie inne. Sie verspürte schon eine gewisse Nervosität, die langsam anwuchs, während sie sich Sicyl näherten.

„Ich bin etwas nervös“, gab sie dann zu. „Aber das muss wohl so sein.“ Sie lächelte ihn an.

Er legte seinen freien Arm um sie und küsste sie kurz, aber leidenschaftlich. „Gemeinsam werden wir das schon schaffen.“ Er trat wieder einen Schritt zurück. „Und ich bin schon auf die Reaktion deines Vaters gespannt, wenn du ihm so unangekündigt einen Schwiegersohn ins Haus bringst.“ Er grinste. „Verzeihung, ich meinte natürlich in die Burg.“ Bevor sie irgendetwas darauf erwidern konnte, wandte er sich wieder dem Pferd zu. „Wollten wir nicht aufbrechen?“, fragte er mit gespielter Unschuld.

Sie lachte. Aber sie setzte sich auch in Bewegung.

Sie wusste genau, wo sie lang mussten, auch wenn sie fast drei Jahre von zu Hause weggewesen war. In einem sarvarischen Wald bedeuteten drei Jahre überhaupt nichts. Die Bäume wuchsen langsam und die meisten Büsche hatten schon vor Jahren ihre maximale Höhe erreicht. Ihr Vater hatte gewusst, was ihr dieser Teil des Waldes bedeutete, deshalb war sie davon ausgegangen, er würde nichts daran umgestalten. Hätte sie dagegen festgestellt, dass sich viel verändert hatte, wäre das für sie ein Indiz gewesen, dass ihr Vater nicht mehr das Sagen auf Sicyl hatte. Auf der anderen Seite allerdings, wäre keine Veränderung auch kein Garant dafür, dass es ihm gut ging. Sie konnte nur hoffen.

Sie hatte recht gehabt, mit ihrer Einschätzung. Als sie nach ungefähr einer halben Stunde unter den Bäumen hervortraten, war es bereits völlig dunkel geworden und sie war froh darüber, dass Cytys die Umhänge schon bereitgelegt hatte. Wenn sie sie jetzt hätten heraussuchen müssen, hätte das bedeutet, ein Licht zu entzünden und dieses hätte jemanden auf sie aufmerksam machen können. So aber konnten sie die Kleidungsstücke im Dunkeln ohne Probleme überwerfen, auch weil ihr Mann in der Lage war, die beiden an der Borte, mit der er die Kapuzen verziert hatte auch dann zu unterscheiden, wenn er sie nicht sehen konnte. Sie nahm ihren entgegen und hüllte sich darin ein, schloss ihn anschließend sorgfältig und zog dann die Kapuze weit nach vorne, bis in ihr Gesicht. Neben sich hörte sie, wie Cytys seinen Umhang ebenfalls anlegte.

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Wir müssen zusehen, nicht getrennt zu werden. Wir sollten in körperlichem Kontakt bleiben.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Auf diese Weise sollte es besser funktionieren. Geh nur voran.“ Er klang völlig ruhig.

Wie konnte er sich nur so ruhig anhören. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich nicht besorgt war. Schließlich befand er sich in einem ihm völlig fremden Land, mitten unter Menschen, deren Verhalten sich nach völlig anderen Regeln richtete, als die, mit denen er aufgewachsen war. Und er war auf dem Weg zu einer ihm ebenfalls völlig fremden Burg und wusste nicht, ob sie dort ihnen freundlich gesinnte Personen antreffen würden.

„Ich bringe uns zum Haupttor und dann gehen wir so vor wie wir das besprochen haben.“ Sie musste ihm nicht sagen, dass es für sie gefährlich werden konnte, sollten sie es nicht schaffen, sich wieder zurückzuziehen, falls sie keinen Freund antrafen.

Er verstärkte kurz den Druck auf ihre Schulter, damit sie wusste, dass er verstanden hatte. Mehr war nicht nötig. Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.

Nachdem sie das Dorf umrundet hatten, näherten sie sich der Burg vom Wald her. Ein im Dunkeln liegender Pfad brachte sie fast bis an die äußere Begrenzung heran, die an dieser Stelle nicht beleuchtet wurde. Die Bewohner der Burg hielten das offensichtlich nicht für notwendig, denn die Mauer war ziemlich hoch und wurde nicht von irgendwelchen Öffnungen durchbrochen. Auf dieser Seite gab es weder Türen, noch Fenster, noch nicht einmal Schießscharten. Soweit Famal wusste, hatte noch nie jemand versucht, an dieser Stelle in die Burg einzudringen. Trotzdem hätte sie es unter normalen Umständen lieber gesehen, wenn auch dort Wachen gestanden hätten. Aber an diesem Abend war sie über deren Fehlen froh.

Sie und Cytys folgten dem Pfad um die Burg herum, bis zur Vorderseite des Komplexes und gerieten dort in den Lichtschein der Fackeln, die den Zugang zum Haupttor beleuchteten. Sie waren nicht die einzigen, die sich um diese Stunde noch auf dem Weg zur Burg befanden, denn auch aus dem Dorf waren noch Personen unterwegs. Allerdings nicht sehr viele und diese warfen den beiden, die so unerwartet aus dem Dunkel auftauchten, misstrauische Blicke zu. Aber keiner sprach sie an. Dies wollten sie wohl der Burgwache überlassen.

Sobald sie in Sichtweite der Wachen kamen, ließ Famal ihrem Mann den Vortritt und ging selbst neben dem Pferd her. Cytys wechselte sein Hasta von der linken Hand, mit der er auch das Pferd führte, in die nun freie rechte. Die beiden hofften, man würde den langen robusten Stab in der Dunkelheit für eine Wanderhilfe halten. Schließlich gingen sie davon aus, dass niemand hier mit Viri vertraut war. Famal wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, die beiden wären eine Bedrohung für die Wachen.

Der Viri hatte seine Kapuze bereits ein Stückchen zurückgeschoben, damit die Männer am Tor zumindest einen Teil seines Gesichts sehen konnten. Sein langer Zopf und sein Rock wurden allerdings noch von dem Umhang verborgen. Sie hofften, er würde für die Wachen, wie ein ziemlich großer sarvarischer Reisender aussehen. Sie hofften ebenfalls, niemandem fiele auf, dass der Schatten seiner Kapuze keinen Bart versteckte. Und sich niemand daran störte, dass Famal noch völlig verhüllt war.

Sie beobachteten, wie die Wachen am Tor die Dorfbewohner ohne große Überprüfung durchließen. Als sie selbst bei ihnen ankamen, wurden sie allerdings sofort aufgehalten.

„Wir können euch nicht hineinlassen, da wir euch nicht kennen.“ Der ältere der beiden Bewaffneten stellte sich ihnen in den Weg und wirkte dabei nicht besonders freundlich.

Cytys hatte auch nicht damit gerechnet, so einfach in die Burg gelassen zu werden. Er hätte sich vielleicht etwas mehr Freundlichkeit gewünscht, aber das war jetzt nicht wirklich wichtig. Famal hatte ihm gesagt, wie er weiter vorgehen sollte und diesem Plan würde er jetzt folgen.

„Guten Abend.“ Es konnte nicht schaden, wenn er freundlich auftrat. „Wenn ihr uns nicht hineinlassen könnt, dann würde ich gerne mit jemandem sprechen, der das entscheiden darf.“

Der Bewaffnete sah nicht so aus, als wenn ihm Cytys Antwort gefallen hätte. „Nur der Hauptmann der Wache kann das“, erklärte er dem Viri in einem Tonfall, als würde er mit einem Idioten sprechen.

Cytys nahm aber keinen Anstoß daran. „Dann möchte ich mit dem Hauptmann sprechen.“ Schließlich war dies Famals Plan, die darauf hoffte, der Hauptmann wäre noch der gleiche, wie vor ihrer Abreise. Ihm vertraute sie.

„Hauptmann Jasypas wird sich um diese Zeit nicht stören lassen“, versuchte die zweite Wache ihn loszuwerden.

„Dann werden wir hier warten, bis er Zeit hat“, beschied Cytys ihm. Er trat einen Schritt zur Seite, um den Pfad freizuhalten, machte aber keine Anstalten, sich wieder vom Tor zu entfernen. Die beiden Soldaten erkannten, dass es ihm ernst damit war, hier zu warten. Der ältere, der zuerst mit ihm gesprochen hatte, zuckte daraufhin resigniert mit den Schultern, wandte sich dann aber dem jüngeren zu und sprach leise mit ihm. Daraufhin verschwand dieser sofort durch das Tor ins Innere der Burg, um gleich darauf durch einen anderen Mann ersetzt zu werden. Vielleicht sollte er ja seinen direkten Vorgesetzten holen, damit der dann die aufdringlichen Reisenden verscheuchte. Vielleicht würde er aber auch den Hauptmann stören. Hoffen konnte man ja. Auf jeden Fall war der richtige Name gefallen. Es schien, als hätte der Freund von Famals Vater immer noch das Sagen bei der Burgwache.

Es dauerte aber dann nicht tatsächlich sehr lange, bis sich etwas tat, obwohl Cytys schon begonnen hatte zu glauben, der Hauptmann wolle an diesem Abend nicht mehr gestört werden. Plötzlich aber erschien der junge Soldat wieder, der losgeschickt worden war, und hinter ihm war ein älterer Bewaffneter zu erkennen, der sich auf den ersten Blick nicht von den Wachhabenden unterschied. Auf den zweiten Blick aber, war die kunstvoll verzierte Schwertscheide nicht zu übersehen, die er an seiner linken Seite trug. Er schritt forsch aus, bis er vor Cytys zum Stehen kam.

„Fremder.“ Er sprach mit erheblich mehr Freundlichkeit, als seine Untergebenen. „Ich werde dich auch nicht in die Burg lassen, sofern du mich nicht davon überzeugen kannst, es wäre zum Wohl meines Duco.“

Cytys blieb stumm, denn seine Frau hatte sich bereits an seine Seite begeben. Aber sie hatte sich mit Absicht so platziert, dass die beiden Wachen sie nicht sehen konnten. Sie schob ihre Kapuze ein kleines Stück zurück, wollte sie aber nicht ganz fallen lassen. Lieber verließ sie sich darauf, dass der Hauptmann ihre Stimme erkannte. „Onkel“, fing sie an, „erkennst du mich?“

Jasypas atmete scharf ein, aber ansonsten ließ er sich nichts anmerken. „Nicht hier!“, war alles, was er ihr leise zuraunte, um sich direkt danach zu den Wachen umzudrehen.

„Ihr habt gut daran getan, keine Fremden in die Burg zu lassen. Da ich jetzt schon mal hier bin, werde ich mich persönlich darum kümmern, dass diese beiden wieder ihrer Wege gehen.“

Er drehte sich wieder zu Cytys und Famal zurück. „Und ihr kehrt schnellstens auf dem Weg zurück, auf dem ihr gekommen seid. Und damit ihr euch nicht verlauft, werde ich euch ein Stück begleiten. Sicher ist sicher.“ Er hatte so laut gesprochen, dass seine Männer alles mithören konnten.

Famal drehte sich wortlos um, kehrte den Wachen den Rücken zu und machte sich auf den Weg. Cytys folgte ihr mit dem Pferd. Der Hauptmann schloss sich ihnen auf ihrem Weg, zurück in Richtung Wald, direkt an. Sie bogen um die erste Ecke, aber anstatt den Weg zu wählen, auf dem sie gekommen waren, ging Famal weiter an der Mauer entlang. Hätte sie Cytys nicht zuvor von dem wenig benutzten Pfad erzählt, hätte er im Dunkeln nicht mitbekommen, wohin sie verschwunden war. Er konnte sie nämlich kaum erkennen. Beinahe wäre ihm entgangen, dass sie erneut um eine Ecke bog und kurz darauf stehenblieb. Zum Glück rief sie leise nach ihm. Gleich darauf machte sie ihn darauf aufmerksam, dass er stehenbleiben müsse, sonst würde er sie umrennen. Genau so leise wie Famal, bewegte sich auch der Hauptmann und er war schon an Cytys herangekommen, bevor dieser ihn bemerkte. Aus diesem Grund versuchte er so schnell wie möglich Platz zu machen, damit der Mann ihn passieren konnte.

Dem Viri blieb nichts anderes übrig, als einige Schritte von der Mauer zurückzutreten und das Pferd ebenfalls zur Seite zu drängen. Der Pfad war so schmal, dass er damit nun mitten im Gebüsch stand, aber der andere Mann wäre sonst nicht an ihm vorbeigekommen. Dieser machte sich sofort an einer Stelle der Mauer zu schaffen, von der Cytys ausging, dass sich dort ein Tor befand, aber er war in der Dunkelheit nicht in der Lage, irgendetwas zu erkennen. Dann hörte er aber das leise Geräusch sich bewegender, gut geölter Torangeln und er erkannte schließlich den Umriss eines Eingangs, hinter dem offensichtlich eine Fackel brannte. Er hatte sich nicht getäuscht, dies war tatsächlich ein kleiner Nebeneingang, der ins Innere der Burg führte. Famal hatte offenbar genau gewusst, wo dieser sich befand und dass er das Ziel des Hauptmanns sein würde, denn sie war ohne zu zögern vorausgegangen.

„Kommt schnell herein, bevor jemand aufmerksam wird“, flüsterte Jasypas ihnen zu, aber Famal war ihm bereits gefolgt und Cytys führte das Pferd hinter den beiden her. Der Hauptmann schloss das Tor sofort wieder, blieb aber dann stehen. Er hatte offensichtlich nicht vor, sie weiter in die Burg hineinzuführen. Zumindest nicht sofort.

Famal hatte aber wohl damit gerechnet. Sie war ebenfalls stehengeblieben und schob nun ihre Kapuze vollständig zurück. Dann lächelte sie den älteren Mann an.

Dieser erwiderte ihr Lächeln allerdings nicht. Er wirkte im Gegenteil nicht gerade erfreut, sie zu sehen. „Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Famal. Weißt du eigentlich, was du deinem Vater mit deinem Verschwinden angetan hast?“, fuhr er sie an.

Cytys wollte seiner Frau schon zur Hilfe kommen, aber sie blickte ihn nur kurz an und schüttelte den Kopf, um sofort wieder den Hauptmann anzusehen.

„Ich weiß ziemlich genau was ich meinem Vater angetan habe, Jasypas. Die ganze Zeit über habe ich Var angefleht, ihn noch am Leben vorzufinden, wenn ich zurückkehre, aber ich konnte nicht hierbleiben, Onkel. Ich konnte nicht mehr so weiter machen, wie zuvor. Es ging nicht.“ Cytys konnte ihr ihre Verzweiflung ansehen. Der Hauptmann aber offensichtlich auch, denn sein Gesicht verlor seinen vorwurfsvollen Ausdruck.

„Famal, wir haben uns Sorgen um dich gemacht, nachdem wir dein Verschwinden feststellen mussten. Und wir haben die ganze Zeit über nicht aufgehört, uns Sorgen zu machen. Wir haben ebenfalls Var angefleht, damit du zu uns zurückkehrst. Kind, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen.“ Er breitete seine Arme aus.

Famal musterte sein Gesicht. „Ich hatte soeben nicht den Eindruck, als wenn du dich über meine Rückkehr freuen würdest. Aber ich kann dich verstehen, Onkel. Ich freue mich auch dich wiederzusehen. Fast so sehr, wie über ein Wiedersehen mit meinem Vater.“ Sie trat auf ihn zu und ließ sich von ihm umarmen. Er war ein großer Mann und kam fast an ihre Größe heran, deshalb musste er sich nicht strecken, als er seine Arme um sie legte. Cytys erkannte sofort, dass er tatsächlich Zuneigung für Famal empfand.

„Aber wohin bist du verschwunden? Wir haben an allen Orten in Kisarvar gesucht. Überall, wo wir uns vorstellen konnten, dass du dich dort aufhältst und auch an vielen Orten, von denen wir uns nicht vorstellen konnten, dass du dort sein würdest. Aber nie haben wir auch nur eine Spur von dir gefunden.“

Famal lächelte ihn erneut an, auch wenn es kein besonders glückliches Lächeln war. „Ihr konntet mich nicht finden, Onkel, denn ich habe mich nicht in Kisarvar aufgehalten. Ich bin in den Süden gegangen, um Kämpfen zu lernen. Was ich in diesem Land noch hätte lernen können, hätte mich nicht weit gebracht.“ Sie sah ihn an und beobachtete seine Reaktionen, offensichtlich um zu ergründen, was er von ihren Worten hielt.

Was sie und Cytys zu sehen bekamen, war Erstaunen. „In den Süden? Du meinst südlich des Sees?“ Er schüttelte den Kopf, weil er es offensichtlich nicht glauben konnte. Ganz kurz erschien wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht, aber dann fiel ihm plötzlich ein, dass er nicht alleine mit Famal war. Sein Kopf fuhr abrupt herum und er fixierte Cytys. „Und wer ist das?“

„Glaube mir bitte, dass du dir um ihn keine Sorgen machen musst, Onkel. Ich würde dir jetzt gerne alles erzählen, aber wenn du nicht bald zum Tor zurückkehrst, könnte die Wache anfangen, sich zu wundern. Außerdem möchte ich wirklich gerne so bald wie möglich meinen Vater sehen.“

Jasypas sah wieder zu ihr hin, wenn auch ziemlich widerstrebend. Und genauso widerstrebend gestand er sich wohl ein, dass sie recht hatte. „Du weißt, dass du von hier aus zu dem kleinen verborgenen Garten kommst. Warte bitte dort und ich werde deinen Vater zu dir bringen. Und vergiss nicht, das Tor sofort hinter mir zu schließen.“ Mit diesen Worten öffnete er den Ausgang wieder und verschwand durch ihn in die Dunkelheit. Famal schloss das Tor schnellstmöglich wieder.

„Können wir ihm wirklich vertrauen?“, wollte ihr Mann von ihr wissen. Aber eigentlich war ihm klar, dass es nun zu spät war, den Hauptmann zu hinterfragen.

Statt ihm zu antworten, gab Famal ihm einen Kuss und zog ihn dann mit sich auf einen gewundenen Pfad, der sie tiefer in die Burg hineinführte. Rechts und links säumten Büsche den Weg und alles wurde nur schwach von der einzelnen Fackel hinter ihnen beleuchtet. Schließlich erreichten sie einen kleinen Garten. Als Cytys sich umsah, erkannte er, dass es sich eigentlich um einen bepflanzten Innenhof handelte, der zwischen der Mauer, einem Turm und einem Gebäude lag. Das einzige Licht kam von einer weiteren Fackel, die neben einer Tür brannte, die in das Gebäude hineinführte. Cytys konnte in den sie umgebenden Mauern keine weiteren Öffnungen entdecken. Entweder gab es keine oder die Räume dahinter waren unbeleuchtet und damit für ihn nicht erkennbar.

„Wir werden hier warten“, teilte Famal ihm mit. „Du kannst das Pferd dort drüben an den Baum binden und dann zu mir herüberkommen. Hier steht eine Bank. Im Schatten unter den Bäumen kann uns niemand, der durch diese Tür kommt, sehen. Das Pferd wird auch nicht zu sehen sein.“

Er tat, wie sie ihm geheißen hatte und setzte sich dann zu ihr.

„Wenn ich dem Hauptmann nicht vertrauen kann, dann kann ich auch gleich davon ausgehen, dass mein Vater mich hintergehen würde“, beantwortete sie seine Frage von soeben. „So oder so können wir jetzt nur noch warten und hoffen, dass Var uns wohl gesonnen ist.“

„Ich liebe dich.“ Mehr hatte er dazu nicht zu sagen, aber natürlich hoffte er ebenfalls auf Vas Wohlwollen. Etwas anderes blieb ihm nun auch nicht mehr übrig, denn wenn tatsächlich gleich ihnen feindlich gesinnte Kämpfer durch diese Tür strömten, konnten sie auch nicht mehr durch das kleine Tor entkommen. Dort würden auch Wachen auf sie warten.

Es dauerte aber dann doch nicht lange und zwei Männer erschienen in der Tür, die ins Innere der Burg führte. Der erste stellte sich als Hauptmann Jasypas heraus, aber hinter ihm betrat ein weiterer, älterer Mann den Innenhof. Er war breitschultrig, noch ein kleines bisschen größer als der Hauptmann – womit er so groß war wie Famal – mit kurzem dunklem Haar und einem dunkelbraunen Vollbart. Er trug ebenfalls eine einfache Lederrüstung, aber an seiner Seite hing eine ebenso kunstvoll verzierte Schwertscheide, wie die des vor ihm Gehenden.

Cytys entging nicht, wie Famal den Neuankömmling anstarrte, während sie langsam aufstand. Er selbst hatte sich ebenfalls erhoben und nach seinem Hasta gegriffen, auch wenn das, dem Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau nach zu urteilen, nur Duco Ynesam sein konnte, ihr Vater. Sie hatte auf der Reise sehr oft daran gezweifelt, dass er noch lebte, aber nun stand er wenige Meter von ihr entfernt. Allerdings wirkte er sehr müde und von dem langandauernden Kampf mit seinem Verwandten zermürbt.

Auf einmal begann Famal zu zittern und schien sich nicht mehr bewegen zu können. Sie hatte sich bisher nicht von der Bank wegbewegt und war damit im Schatten der Bäume verblieben, obwohl die beiden Männer bereits versuchten, herauszufinden, wo die beiden Neuankömmlinge sich befanden. Cytys legte einen Arm um seine Frau, um sie zu unterstützen und sie sah zu ihm hoch. Und dann lächelte sie ihn plötzlich an. „Danke“, flüsterte sie, „danke, dass du hier bist und mir beistehst.“ Mit diesen Worten löste sie sich aus seiner Umarmung und trat nun endlich in den Lichtkreis der Fackel. Cytys sah, wie rasch der Fremde auf sie reagierte. Erst erschien ungläubiges Staunen auf seinem Gesicht, dann unbändige Freude. Er legte die kurze Strecke bis zu Famal im Laufschritt zurück und ließ sie in seiner Umarmung verschwinden. Anders konnte Cytys nicht beschreiben, was er beobachtete. Und für eine kurze Zeitspanne sprach keiner von ihnen auch nur ein Wort.

„Famal“, brachte der Duco endlich hervor und rückte etwas von seiner Tochter ab, um sie ansehen zu können, „hast du nur die geringste Vorstellung davon, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen? Kannst du dir vorstellen, was es mit bedeutet zu erfahren, dass du noch lebst? Aber warum bist du zurückgekommen? Warum bist du ausgerechnet jetzt zurückgekommen? Siyudys hat sein Ziel fast erreicht. In ein paar Tagen wird der Coronar hier eintreffen und ihn als meinen Erben bestätigen und wir können nichts mehr dagegen unternehmen. Und er wird dich als eine Bedrohung ansehen, auch wenn du nur eine Frau bist. Du hättest wegbleiben müssen, denn hier ist es nicht mehr sicher für dich.“

Famal grinste ihren Vater an. „Glaubst du tatsächlich, ich würde dich jetzt im Stich lassen, nachdem ich endlich wieder zu Hause bin. Und wenn unser Verwandter noch nicht als dein Erbe bestätigt wurde, dann bin ich rechtzeitig zurückgekehrt, Vater.“

Der Duco runzelte die Stirn. „Ich wusste immer, dass du ein pflichtbewusstes Kind bist und ich hatte auch nie ein Problem damit, dass du eine Tochter bist, aber an den Gesetzen des Reiches hat sich nichts geändert. Du kannst mich nicht beerben, Famal. Wie willst du mir dann beistehen?“

Famal drehte sich um und winkte Cytys zu sich, der umgehend aus dem Schatten heraustrat. Der Duco musste gewusst haben, dass er dort stand, denn der Hauptmann hatte ihm bestimmt vom Begleiter seiner Tochter erzählt. Trotzdem hatte er bisher nichts gesagt.

Cytys Ehefrau drehte sich wieder zu ihrem Vater um. „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass der Rego in den paar Jahren, die ich unterwegs war, die sarvarische Gesellschaft auf den Kopf gestellt hat. Trotzdem bin ich nicht unvorbereitet zurückgekehrt. Ich habe dir einen Schwiegersohn mitgebracht, Vater.“

Hatte Ynesam zuvor seinen Augen nicht trauen wollen, als er seiner Tochter ansichtig wurde, so war er sich jetzt wohl nicht sicher, richtig gehört zu haben. Offensichtlich wollte er den Worten seiner Tochter nicht so ohne Weiteres glauben. Sein Blick ging von Famal zu ihrem Begleiter und wieder zurück. Um schließlich auf Cytys zu verweilen. Viel konnte er wegen des Umhangs von dem Viri allerdings nicht erkennen, denn dieser hatte nur die Kapuze zurückgeschlagen. So sah er nichts außer dessen enormer Größe und seinem nackten, und nicht besonders einnehmendem, Gesicht. Alles andere blieb ihm noch verborgen.

„Du hast mir was mitgebracht, Famal?“ Der Duco musste offensichtlich bei seiner Tochter nachfragen.

„Wie ich deinem Hauptmann bereits erzählt habe, bin ich in den Süden gereist, um Kämpfen zu lernen. Und von dort habe ich einen Ehemann mitgebracht, Vater. Einen Schwiegersohn für dich und damit eine Möglichkeit für mich, dich doch zu beerben.“ Jetzt wurde sie allerdings wieder ernst. „Wir müssen den Coronar nur davon überzeugen, meine Heirat anzuerkennen. Allerdings kann ich ihm nichts anderes als mein Wort und das meines Ehemanns als Beweis bieten. ich bin aber bereit, dieses Risiko einzugehen. Und mein Mann ebenfalls.“

Bei ihren letzten Worten hatte sie sich wieder Cytys zugewandt, der inzwischen neben sie getreten war. „Vater“, stellte sie ihn vor, „dies ist mein Ehemann Cytys.“

Dieser verbeugte sich vor dem Vater seiner Uxora. Dabei ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sich kein Viri normalerweise Gedanken darüber machte, wie sein Schwiegervater zu ihm stand. Die Virei hatten auf so etwas keinen Einfluss. Aber er befand sich nicht mehr im Imperium und seine Ehefrau war keine Vassu.

„Du hast also im Süden einen Ehemann gefunden, der tatsächlich noch größer ist als du selbst. Erstaunlich. Aber wieso gibt es kein Dokument über deine Heirat? Du musst doch gewusst haben, wie wichtig das gewesen wäre?“ Der Duco musterte immer noch das Wenige, was er von Cytys sehen konnte.

„Na ja, ich habe schon ein Dokument, aber eben keines über die eigentliche Heirat. Nur die Bestätigung einer Secundi der Oixya, dass wir ein verheiratetes Paar sind. Mehr konnte sie nicht bezeugen, denn sie war bei der eigentlichen Zeremonie nicht dabei. Zu diesem Zeitpunkt kannten wir sie noch nicht.“

„Du hast eine Secundi kennengelernt? Im Oixyyaa?“ Ganz offensichtlich wusste Famals Vater was eine Secundi war. „Ich habe am Hof des Rego vor einiger Zeit ebenfalls eine Secundi kennengelernt. Sie begleitete die Hereda und ihren Ehemann bei deren Besuch in Kisarvar.“

Famal nickte. „Ich weiß. Du sprichst von der Secundi Dejivoar, nicht wahr? Sie hat mir von ihrem Besuch hier erzählt. Aber mir war nicht bekannt, dass du sie ebenfalls kennengelernt hast. Das bedeutet aber, der Coronar kennt sie ebenfalls. Dies könnte ein Vorteil für uns sein.“

„Diese Möglichkeit besteht“, stimmte Ynesam ihr zu. „Der Rego und sein Sohn waren ziemlich beeindruckt von ihr. Besser gesagt, der Rego und seine Söhne. Ich habe mitbekommen, dass Tovarjal sie ebenfalls kannte.“

„Ssutovar“, verbesserte Famal automatisch. „Sein Name lautet jetzt Ssutovar. Wir sollten uns daran gewöhnen, Vater. Er wird nie mehr der Princepo Tovarjal sein.“

„Nun“, erwiderte ihr Vater, „damit hast du durchaus recht. Aber es ist jetzt nicht der Ehemann dieser Vassu, mit dem ich mich beschäftigen sollte, sondern der einer Sarvarerin namens Famal. Wen hast du also geheiratet, Tochter. Bisher kenne ich nur seinen Namen und seine Größe. Alles andere verbirgt er noch vor mir.“

Famal nickte Cytys zu und er öffnete seinen Umhang und ließ ihn dann fallen. Und ihr Vater kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ganz offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass seine Tochter einen Viri mit nach Hause brachte. Aber es war nicht zu leugnen, dass er gerade auf einen blickte. Einen riesigen Mann in einem Rock, statt der bei den Sarvar üblichen Hose und mit einem langen Zopf, statt der kurzgeschorenen Haare, die ein Sarvarer tragen würde. Und ohne einen Bart. Dann erblickte er die grünen Armbänder und ihm war augenblicklich klar, für was sie standen. Sein Blick ging zurück zu Famal, die inzwischen ebenfalls ihren Umhang abgelegt hatte und er sah den Schlüssel und das Messer an ihrem Gürtel hängen. In diesem Moment wurde ihm klar, wieso sie kein Dokument über ihre Heirat mitgebracht hatte.

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„Der Coronar ist eingetroffen.“ Der Hauptmann war persönlich zu ihnen gekommen, um die Neuigkeit zu überbringen. „Es wird aber bestimmt noch einige Stunden dauern, bis er sich mit deinem Vater und Siyudys treffen wird. Er muss sich erst von der Reise erholen.“ Jasypas grinste respektlos. „Zumindest wird das als offizieller Grund für die Verzögerung genannt. Ich persönlich glaube ja, dass nicht Payn selbst so erschöpft ist, sondern einige seiner Begleiter.“

„Das ist egal“, erwiderte Famal, „wir werden auf jeden Fall bereit sein. Wir benötigen nicht lange.“ Sie blickte sich nach ihrem Ehemann um, der auf der Bank unter den Bäumen saß.

„Deinen Vater wird das freuen.“ Sein Tonfall klang seltsam. Vielleicht hatte das etwas mit der bereitgelegten Kleidung zu tun?

Cytys hatte nur wenige Tage Zeit gehabt, sich um die Kleidung zu kümmern, die er und Famal für den Besuch des Coronar anlegen wollten, um einen guten Eindruck auf den Sohn des Rego zu machen. Er sollte ja nicht nur Famals Heirat anerkennen, sondern sie ebenfalls als Erbin ihres Vaters bestätigen. Und sie waren sich sicher, dass Ynesams Verwandter Siyudys auch versuchen würde, Payn auf seine Seite zu ziehen, damit er selbst der nächste Duco von Sicyl würde.

Aus diesen Gründen musste Cytys dafür sorgen, dass er und seine Frau nicht wie arme Verwandte auf der Flucht wirkten. Er hatte zwar auf der Reise ihre Kleidung immer wieder ausgebessert, aber es war nie genug Zeit geblieben, dies gründlich zu erledigen. Das hatte er nun alles nachgeholt. Da niemand außer dem Hauptmann und dem Duco selbst wusste, dass sie sich auf der Burg aufhielten, hatte sich auch niemand bemüßigt gefühlt, ihm diese Arbeit abzunehmen. Aber das hätte er sowieso nicht zugelassen. Er hatte in aller Ruhe in dem geschützten Garten gearbeitet, in dem sie ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Bei diesem handelte es sich immer schon um den privaten Rückzugsort des Ducos und seiner Familie und deshalb suchte ihn außer Ynesam niemand auf. Und weder dem Viri noch seiner Custa machte es etwas aus, im Freien zu übernachten.

Selbstverständlich hatte sich Famal bereits im Vorfeld Gedanken darüber gemacht, wie sie auftreten wollte. Ihr Ehemann hatte ihr die Planung gerne überlassen, schließlich kannte sie die Menschen hier besser als er. Allerdings hatte er ihr zuvor klargemacht, dass er nicht auf seinen Rock verzichten würde – er hatte sich für diesen Anlass für einen in einem dunklen Blau entschieden – genauso wenig, wie auf seinen Zopf. Und er hatte auch nicht vor sich einen Bart wachsen zu lassen. In den wenigen Tagen, die ihm zur Verfügung standen, wäre er mit einem solchen Vorhaben auch nicht weit gekommen. Aber Famal hatte sich ebenfalls entschlossen, sich nicht mehr zu verstecken. Auch wenn sie wusste, ihr Vater wäre nicht begeistert darüber, dass sie dem Coronar als die Kriegerin entgegentrat, zu der sie in den letzten Jahren geworden war. Aber der Duco hatte ihre Entscheidung akzeptiert. Als er ihr das mitteilte, verhehlte er ihr auch nicht, wie stolz er auf sie war. Er hatte ihr aber auch nicht verschwiegen, dass er noch nicht wusste, was er von seinem Schwiegersohn halten sollte.

„Glaubst du der Coronar wird sich über unseren Aufzug wundern, Onkel?“, wollte Famal vom Hauptmann der Wache wissen.

„Wundern?“ Der Ältere konnte nur den Kopf schütteln. „Ich glaube nicht, dass du das richtige Wort gewählt hast. Willst du dir das nicht noch einmal überlegen?“

„Nein!“ Ihre Antwort kam schnell und hart. „Ich bin es leid, mich zu verstellen und zu verstecken. Damit werde ich nicht wieder anfangen. Der Coronar muss mich so akzeptieren wie ich bin.“

„Glaubst du tatsächlich, du kannst deinem Vater auf diese Art helfen?“ Jasypas sah aus, als ob er sich Sorgen machte, aber wahrscheinlich mehr um den Duco, als um dessen Tochter.

„Ich habe gehört, Secundi Dejivoar hätte Payn ziemlich beeindruckt. Ich will ja nicht behaupten, ich wäre eine Milli, aber offensichtlich ist er nicht völlig gegen Kriegerinnen eingestellt. Sofern es sich nicht um Vassu handelt. Aber ich hoffe, ich erinnere ihn mehr an eine Oixya, auch wenn ich einen Viri geheiratet habe. Was übrigens auch andere Oixya getan haben. Wir haben einige kennengelernt, als wir durch den Bund reisten.“

Der Hauptmann seufzte. „Was rede ich überhaupt. Du wirst deine Meinung nicht mehr ändern, das hast du schon nicht mehr getan, seitdem du ein kleines Mädchen warst. Ich sollte besser gehen, damit ich mitbekomme, wann ich euch holen muss.“ Damit wandte er sich der Tür zu und verschwand im Innern des Gebäudes.

„Er hat nicht ganz unrecht, weißt du?“, erklang die Stimme ihres Ehemanns. Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihn an, wie er mit einem vorgetäuschten unschuldigen Gesichtsausdruck auf der Bank saß.

„Ich sehe nicht, dass du dir eine Hose zurechtgelegt hast, Ehemann“, antwortete sie ihm, während sie sich ebenfalls zur Bank begab und sich neben ihn setzte.

„Ich würde dir niemals vorschreiben, was du tragen solltest und ich hoffe, du siehst das bei mir ähnlich.“ Ihr wurde bewusst, dass er seine Worte zum Teil tatsächlich ernst gemeint hatte, aber sie merkte auch, dass sie davon nicht überrascht wurde. Sie fand es allerdings sehr erstaunlich, dass er sie überhaupt geäußert hatte. Vor einigen Monaten hätte er sich noch nicht getraut, etwas Derartiges von sich zu geben. Einen Viri, der seine Custa, in welcher Form auch immer, kritisierte, gab es im Imperium nicht.

„Ich werde dir selbstverständlich nicht befehlen, was du anziehen sollst. Ich kann sogar nachvollziehen, wieso du auf deinem Rock bestehst, obwohl ich nie verstehen werde, wieso jemand einen Rock einer Hose vorzieht. Wenn ich nie mehr Rock oder Kleid tragen muss, bin ich eine glückliche Frau.“

Er lachte. „Und ich dachte, ich hätte dich zu einer glücklichen Frau gemacht, Custa.“ Er wusste genau, dass sie es nicht sonderlich mochte, wenn er sie so nannte. Er wusste auch, dass sie nicht vorhatte, sich in eine Vassu zu verwandeln oder deren Verhalten nachzuahmen. Aber er neckte sie einfach gerne.

„Du traust dich einiges, Cuviri.“ Was er konnte, konnte sie schon lange. Aber ihre Worte schienen ihn nicht weiter zu stören, denn statt darauf zu antworten, küsste er sie lieber.

„Schade, dass wir uns jetzt umziehen müssen …“, fing er an und legte einen Arm um sie.

„Beherrsch dich! Wir wissen nicht wie lange der Coronar oder seine Begleiter tatsächlich ausruhen wollen und wenn es dann zu dem Treffen kommt, müssen wir bereit sein. Wir werden dann nicht viel Zeit haben.“ Trotzdem erwiderte sie den Kuss und umarmte ihn ebenfalls.

„Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns hier zu langweilen“, seufzte er und küsste sie erneut. Famal musste kichern. Sie hoffte, nicht zu lange warten zu müssen. Schließlich hatten sie bereits alles vorbereitet und mussten sich nur noch umziehen.

Als sie damit fertig waren, nutzten sie die verbleibende Zeit dazu, noch einmal über all das zu sprechen, was sie bei dem Treffen mit dem Erben des Rego vorbringen wollten. Aber sie machten sich nicht verrückt und verfielen schließlich in ein entspanntes Schweigen, während sie nebeneinandersaßen und die Nähe des jeweils anderen genossen.

*************************************

Jasypas hatte keine Probleme dabei gehabt, die Flure und Hallen zwischen dem Innenhof und dem Empfangssaal von allen Menschen freizuhalten. Als Hauptmann der Wache war er auch derjenige, der den Männern des Duco ihre Aufgaben und ihre Positionen zuteilte. Aus diesem Grund waren Famal und Cytys in der Lage, den Weg zu dem Treffen mit Coronar Payn ungesehen zurückzulegen. Niemand bekam mit, wie sie die Seitentür erreichten, vor der der Hauptmann selbst auf sie wartete.

„Der Coronar und seine Begleiter sind vor kurzem eingetroffen. Wenn ihr jetzt den Saal betretet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr euch unbemerkt zum Duco gesellen könnt. Vor allem dürfte Siyudys nichts mitbekommen, denn der konzentriert sich ganz auf die Hauptstädter.“ Dem Hauptmann war die Anspannung und die Sorge um seinen Freund Ynesam deutlich anzusehen. Selbst Cytys entging das nicht.

„Dann sollten wir keine Zeit mehr verschwenden“, antwortete seine Frau und wartete ungeduldig darauf, dass der Hauptmann die Tür öffnete und prüfte, ob sie tatsächlich ungesehen in den Saal schlüpfen konnten.

Der Ältere öffnete die Tür einen Spalt und spähte vorsichtig in den dahinterliegenden Raum, öffnete sie rasch weiter und winkte den beiden, die hinter ihm warteten. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt“, drängte er sie.

Als Cytys hinter Famal durch die Tür schritt, erkannte er sofort, wieso es ihnen gelingen könnte, für den Moment unbemerkt zu bleiben. Im Saal bewegten sich gerade Personen aus zwei verschiedenen Gruppen wild durcheinander. Einmal waren das diejenigen, die aus der Hauptstadt gekommen waren und die anderen gehörten zu den Leuten des Duco. Dem Viri erschien es, als wenn keiner genau wüsste, wohin er gehörte und dass dadurch ein großes Durcheinander entstanden war. Eigentlich konnte der Viri sich aber nicht vorstellen, dass dies ein Zufall war. Dann fiel sein Blick auf den Duco selbst und er stellte fest, dass dieser völlig ruhig nicht weit von ihnen entfernt stand. Und hinter ihm, in einer Ecke des Raums, hatte der Hauptmann einige Mitglieder der Wache platziert, halbversteckt im dortigen Schatten. Genau dorthin führte er dann auch die beiden Neuankömmlinge, um sie zwischen den Männern zu verbergen. Dies war eine nicht einfach zu bewerkstelligende Aufgabe, waren sie doch beide größer als alle anderen, aber trotzdem könnte es gelingen. Sie sollten auch nicht zu lange auf den Moment warten müssen, an dem die Anwesenden sie zu Gesicht bekommen sollten. Jetzt nutzten sie allerdings erstmal die Gelegenheit, sich in aller Ruhe umzusehen.

Famal wies ihn auf einen großen schlanken Mann mit kurzem braunem Haar und dem unvermeidlichen Vollbart hin, der auf der anderen Seite des Saals stand und das Durcheinander mit verkniffener Miene beobachtete. „Das ist Siyudys“, erklärte sie ihm. Er fand nicht, dass der Mann viel Ähnlichkeit mit dem Duco aufwies. Allerdings konnte er ohne Probleme erkennen, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen Krieger handelte.

Cytys ließ seinen Blick weiter durch den Raum schweifen und sein Auge blieb schließlich an einem Mann hängen, der alleine schon durch seine Kleidung aus der Menge herausragte. Er trug zwar ebenfalls die Hose, das Hemd und die Weste eines Equito, wie die sarvarischen Krieger genannt wurden, aber seine Kleidung war von sehr viel besserer Qualität, als die seiner Begleiter. Das traf auch auf seine Stiefel oder seinen Schwertgurt zu. Aber vor allem an seiner reich verzierten Schwertscheide erkannte Cytys, dass dies nicht irgendjemand war. Er schätzte ihn auf um die fünfunddreißig Jahre – er könnte vielleicht auch etwas jünger sein – denn weder in seinem schwarzen Haar, noch in seinem fast genauso dunklen Bart, konnte er eine Spur von Grau entdecken. Er hielt sich auch aufrecht und gerade. Seine große, muskulöse Gestalt vermittelte ihm den Eindruck, er könne im Kampf ohne Probleme seinen Mann stehen.

Gerade wollte er Famal fragen, ob das Payn sei, als der Mann sich in Richtung des Duco drehte und Cytys auch sein Gesicht sehen konnte. Ihm lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter, denn diese dunklen Augen, diese Nase und diesen Mund – auch wenn er zum Teil durch den Bart verborgen wurde – selbst diese Ohren und die Stirn hatte er bereits einmal gesehen. Er wusste aber genau, dass er dem Mann auf der anderen Seite des Raumes noch nie begegnet war, trotzdem hatte er dieses Gesicht – oder besser gesagt, eines, das diesem Gesicht sehr ähnlich war –schon einmal gesehen. Es war schon einige Jahre her und er hatte im Steinbruch viele Männer kennengelernt, aber das änderte nichts daran, dass er sich noch sehr gut daran erinnerte und auch an den Mann, zu dem dieses Gesicht gehörte. Mit der Erinnerung daran, kamen auch Bilder aus einer Zeit seines Lebens zurück, die er lieber vergessen würde. Nicht etwa, weil er sich – völlig zu Recht – als verurteilter Verbrecher im Steinbruch befunden hatte, sondern weil er der Schrecken seiner Mitgefangenen geworden war. Er hatte sich immer einen herausgepickt, der ihm zu Willen sein musste. Seine Ehemänner hatte er sie spöttisch genannt. Er hatte sie unter denjenigen ausgesucht, die nur für eine begrenzte Zeit, für wenige Monate, bleiben würden, denn er wollte sich keine Konkurrenz heranziehen. Was er mit ihnen gemacht hatte, war für seine Opfer alles andere als angenehm gewesen. Und der Mann, an den er gerade dachte, hatte ebenfalls unter ihm zu leiden gehabt.

„Ist das der Coronar?“, wollte er von Famal wissen und lenkte ihren Blick auf den gut gekleideten Krieger.

Famal nickte, nachdem sie die Person entdeckt hatte, die er meinte. „Ja“, beantwortete sie seine Frage, so wie er das befürchtet hatte. „Ich habe ihn einmal gesehen. Damals begleitete er seinen Bruder Tovarjal, als dieser unterwegs zum See war, und auf dem Weg zu seiner Heirat mit der Hereda. Er ist jetzt natürlich etwas älter, aber er hat sich kaum verändert.“

‚Tovarjal‘, dachte Cytys, ‚der zu einem Viri geworden ist.‘ Zumindest hatte Dejivoar ihnen das erzählt, aber auch, dass er jetzt Ssutovar genannt wurde. War es möglich, dass er ihm im Steinbruch begegnet war? War Tov, wie der Mann sich genannt hatte, tatsächlich der Bruder des Coronar? Konnte er tatsächlich der Bruder des Mannes sein, der darüber zu entscheiden hatte, ob Famal ihren Vater beerben könnte? Cytys schluckte und er war sich bewusst, dass er Famal davon erzählen musste. Allerdings war ihm klar, dass dies jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war.

„Eindrucksvoll“, gab er deshalb nur von sich und hoffte, Famal bekäme nicht mit, wie er sich tatsächlich fühlte. „Hoffentlich ist er so aufgeschlossen wie du glaubst. Er macht nicht gerade einen – wie soll ich es nennen – fortschrittlichen Eindruck, wenn du weißt, was ich meine.“ Er hoffte auch, dass der Coronar nichts von seinem Unbehagen mitbekam, das ja gar nichts mit ihm persönlich zu tun hatte.

Langsam legte sich das Durcheinander im Saal. Der sarvarische Thronfolger hatte sich in der Zwischenzeit einen Platz gesucht und seine Männer nahmen sich an ihm ein Beispiel. Siyudys wollte dem Coronar gegenüber nicht als Idiot dastehen und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ebenfalls hinzusetzen. Der Duco und seine Männer hatten sich bereits zuvor ihre Plätze gesucht und so standen in kürzester Zeit nur noch die Wachen. Und hinter denen des Hausherrn verbargen sich immer noch Cytys und seine Frau. Noch hatte sie niemand entdeckt.

Nach und nach wurde es still. Und dann erhob sich Duco Ynesam wieder. „Coronar Payn“, er blickte den Sohn des Rego an, „ich heiße dich herzlich auf der Burg von Sicyl willkommen.“

Payn war ebenfalls wieder aufgestanden. Er blickte ganz kurz zu Siyudys hinüber, der aber so tat, als würde er das nicht mitbekommen. „Ich danke dir, Duco Ynesam, dass du meine Männer und mich so herzlich auf deiner Burg aufgenommen hast.“

„Auf Sicyl bemühen wir uns immer, unsere Gäste willkommen zu heißen, selbst wenn wir sie nicht selbst eingeladen haben. Zum Glück wurden wir nicht tatsächlich von deiner Ankunft überrascht, ansonsten hätten wir Probleme damit bekommen, so viele zusätzliche Personen zu verköstigen.“ Auch der Duco hatte einen kurzen Blick auf seinen Verwandten geworfen, der schließlich dafür verantwortlich war, dass der Coronar nach Sicyl kam, der es aber versäumt hatte, die Burg von dem bevorstehenden Besuch zu unterrichten. Aber der Duco besaß Freunde in der Hauptstadt, die ihn rechtzeitig informiert hatten. Trotzdem war er selbstverständlich nicht glücklich über den Vorstoß von Siyudys und hatte das auch seiner Tochter, in Cytys Beisein, erzählt.

Payns Blick ging noch einmal kurz zu Siyudys. Offensichtlich war dem Coronar nicht bewusst geworden, dass die Einladung ohne das Wissen des Hausherrn ausgesprochen worden war. Er zog es aber vor, nicht auf diese Bemerkung zu antworten.

Der Duco wandte sich nun direkt an seinen Verwandten. „Ich heiße auch dich willkommen, Siyudys, auch wenn du nicht nur dich selbst eingeladen hast. Ich habe mir allerdings die Frage gestellt, wieso du auf die Idee kommen konntest, einfach so über die Gastfreundschaft meiner Burg, dem Sitz des Duco von Sicyl, zu verfügen. Vielleicht magst du das mir und dem Coronar verraten, Verwandter.“ Beim Duco handelte es sich um niemanden, der vor einem Frontalangriff zurückschreckte und daher handelte er auch in dieser Situation so. Dies lag aber auch daran, dass er vor dem Erben seines Herrschers keine Schwäche zeigen wollte, denn er hatte nicht vor, preiszugeben, dass er Angst davor hatte, sein Verwandter könnte mit seinem Plan Erfolg haben und als sein Erbe bestätigt werden. Er traute Siyudys nicht über den Weg und wenn erst offiziell festgelegt worden war, er würde dem Duco nachfolgen, musste Ynesam damit rechnen, dass er versuchen würde, schnell an die Macht auf Sicyl zu gelangen. Egal auf welchem Weg.

Bevor der Angesprochene antworten konnte, meldete Payn sich noch einmal zu Wort. „Wenn du möchtest, dass ich in der Angelegenheit der Erbfolge des Hauses Sicyl eine Entscheidung treffe, Siyudys, dann wäre es jetzt gut, wenn du mir erklären könntest, wo das Problem liegt.“ Natürlich wusste der Coronar um das Problem der Erbfolge, aber er wollte es Siyudys offenbar nicht zu leicht machen. Er schien ziemlich verärgert darüber zu sein, von dem anderen mit einer Einladung hierher gelockt worden zu sein, die dieser alleine nicht hätte aussprechen dürfen.

Ynesams Verwandtem blieb nichts anderes übrig, als nun ebenfalls aufzustehen. Er hatte den Coronar hierhergebracht, damit dieser ihm dazu verhalf, der nächste Duco zu werden. Aber offensichtlich hatte er sich das einfacher vorgestellt. Vielleicht war er ja davon ausgegangen, dass Payn eher zu Gunsten eines Mannes entscheiden würde, den er öfter zu Gesicht bekam, weil er sich in der Hauptstadt und am Hof des Rego aufhielt, während sein Verwandter, der Duco, in den letzten Jahren selten in Dysarvar gewesen war. Er hatte sich um die Angelegenheiten der Menschen gekümmert, für die er verantwortlich war und diese lebten nun einmal nicht in der Nähe des Palastes.

„Jeder Duco hat die Verpflichtung dafür zu sorgen, dass es den Untertanen des Rego, für die er verantwortlich ist, gut geht“, fing Siyudys an. „Zu diesen Verpflichtungen gehört aber auch, dass ein Duco dafür zu sorgen hat, einen Erben für den Fall vorzuweisen, dass ihm etwas zustoßen sollte. Damit dann jemand da ist, der seine Verpflichtung übernehmen kann. In dieser Hinsicht hat mein Verwandter es versäumt, seiner Pflicht nachzukommen. Er hat nicht für einen Erben gesorgt. Nun wünsche ich meinem Verwandten selbstverständlich nichts Schlechtes und er ist ja noch nicht zu alt, um noch einmal zu heiraten und Söhne oder zumindest einen Sohn zu zeugen. Auf der anderen Seite hatte er allerdings fast zwanzig Jahre Zeit und ich habe nie festgestellt, dass er irgendwelche Anstrengungen in dieser Hinsicht unternommen hat. Deshalb möchte ich nun, dass der Coronar einen Erben festlegt, damit die Menschen hier nicht auf einmal ohne Schutz dastehen. Aus diesem Grund habe ich diese Einladung ausgesprochen, denn ich bin der nächste Verwandte des Duco und damit auch sein rechtmäßiger Erbe. Aber mein Verwandter hat mich nie als seinen Erben anerkannt. Er hat mir im Gegenteil immer wieder mitgeteilt, ich würde niemals der nächste Duco werden. Damit stellt er sich gegen die Gesetze des Rego. Ich fordere nicht mehr, als mir von Rechts wegen zusteht, Coronar. Deshalb bitte ich dich, im Sinne meiner Bitte zu entscheiden, damit die Menschen von Sicyl nicht unter dem Starrsinn des Duco leiden müssen.“

Der Coronar hatte ihm mit unbewegtem Gesicht zugehört und wandte sich nun dem Duco zu, ohne Siyudys zu antworten. Mit einer Handbewegung forderte er den Hausherrn auf, sich ebenfalls zu äußern.

„Herr“, fing Ynesam an, „du kannst fragen, wen du willst, jeder wird dir bestätigen, dass ich meine Verpflichtungen, den Menschen von Sicyl gegenüber, sehr ernst nehme. Und der Vorwurf meines Verwandten, ich hätte nicht für einen Erben gesorgt, ist lächerlich. Schließlich habe ich eine Tochter.“

Siyudys schnaubte. „Eine Tochter! Wie soll die dich denn beerben?“

Es war der Coronar, der auf diesen Einwurf reagierte. „Das Gesetz erlaubt einer Tochter durchaus, das Erbe ihres Vaters anzutreten, wenn sie dabei durch ihren Ehemann unterstützt wird.“

Der andere versuchte zumindest seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Er hatte durchaus erkannt, dass es ihm nicht sonderlich nützlich wäre, wenn er zeigte, dass ihn Payns Worte nicht sonderlich interessierten. Er war sich aber offensichtlich nicht bewusst, wie unzureichend ihm das gelungen war. Cytys hoffte, dies werde Famal und ihrem Vater zu Gute kommen.

„Das weiß ich durchaus“, entgegnete er. „Aber die Tochter des Duco ist seit drei Jahren verschwunden und stünde daher als Erbe nicht zur Verfügung, selbst wenn sie verheiratet wäre. Was sie aber nicht ist.“ Er konnte nicht völlig verbergen, was er von der Idee hielt, das Erbe des Duco einer Frau zu überlassen.

Coronar Payns Blick ging wieder zurück zu Ynesam und ihm konnte nicht entgehen, dass dieser völlig entspannt wirkte. Dies ließ ihn einen Moment stutzen.

„Wo ist deine Tochter, Duco?“, wollte er schließlich von ihm wissen. „Stimmt es, dass sie sich gar nicht auf Sicyl aufhält? Wenn sie nicht verheiratet ist, bist du derjenige, der für sie verantwortlich ist.“

„Ich versichere dir“, erwiderte Ynesam, „dass ich beizeiten dafür gesorgt habe, dass meine Tochter Famal in der Lage ist, auch ohne mich zurechtzukommen, damit ich meinen Verpflichtungen den Menschen gegenüber nachkommen kann. Es stimmt, sie war eine Zeitlang nicht hier, aber das bedeutet nicht, dass sie als Tochter-Erbin nicht zur Verfügung steht. Und meinem Verwandten ist wohl entgangen, dass sie nach Sicyl zurückgekehrt ist.“ Der Duco lächelte sein Gegenüber an, während er mit einer Handbewegung Famal dazu aufforderte, zu ihm zu treten. Seine Tochter hatte dies bereits vorausgesehen und sich in Bewegung gesetzt, bevor die Blicke der Anwesenden zu ihr gingen. Dadurch vermied sie es, dass auch Cytys in diesem Moment schon ins Blickfeld der anderen geriet.

Der Coronar wollte offensichtlich gerade etwas sagen, aber dann erblickte er Famal und schloss seinen Mund abrupt wieder. Ganz offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm eine Frau in Hosen und mit einem Schwert am Gürtel entgegentreten würde. Aber er war nicht der einzige, der die Tochter des Duco anstarrte.

„Coronar.“ Sie begrüßte Payn mit einer respektvollen Verbeugung. „Verwandter.“ Für Siyudys hatte sie nur ein knappes Kopfnicken übrig. „Auch ich begrüße euch herzlich auf Sicyl.“ Sie lächelte den Coronar an.

Payn hatte sichtlich Probleme, sein Erstaunen zu überwinden. Er starrte Famal an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Eine Frau in Hosen hatte er in einer sarvarischen Burg wohl nicht erwartet.

Doch dann riss er sich zusammen. „Sei ebenfalls gegrüßt, Succedi Famal. Ich bin froh, festzustellen, dass du nicht, wie einige Personen wohl angenommen hatten, verschwunden bist. Auf der anderen Seite frage ich mich allerdings, wo du dich aufgehalten hast. Besonders im Hinblick auf deine Kleidung. Dies ist nicht gerade die traditionelle Art sarvarischer Frauen.“ Cytys war nicht in der Lage, seinem Tonfall zu entnehmen, ob, und wenn ja, wie stark ihn Famals Bekleidung störte.

„Herr, sieh mich an. Sehe ich aus, wie man sich eine sarvarische Frau vorstellt? Mein Leben lang rage ich schon aus der Menge der anderen Frauen heraus. Ich konnte mich noch so sehr mit traditionellen Beschäftigungen abgeben, ich bin immer aufgefallen. Irgendwann habe ich dann den Entschluss gefasst, in diesem Fall könne ich doch auch das tun, was mir gefällt, statt dem, was die anderen dachten, das ich tun sollte. Wenn ich doch sowieso immer auffalle.“ Famal lächelte ihn weiterhin an.

Payn schnaubte, aber dann umspielte tatsächlich ein leichtes Lächeln seine Lippen. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, Famal, dass du aus der Menge herausragst. Obwohl das natürlich nicht zu bedeuten hat, dass du direkt damit anfangen musst, ein Schwert zu tragen. Wahrscheinlich sollte ich dich nicht fragen, ob du damit umgehen kannst. Du scheinst nicht der Typ Mensch zu sein, der sich nicht gründlich vorbereitet. Du erinnerst mich an jemanden, die ich letztes Jahr kennengelernt habe.“

„Ich hoffe, Herr, du willst mich nicht mit Secundi Dejivoar vergleichen. Ich bewundere sie, aber ich komme nicht an sie heran. Es gehört mehr dazu, eine Milli zu sein, als mit dem Schwert umgehen zu können.“

Der Coronar starrte sie erneut erstaunt an. Diesmal, weil Famal sofort gewusst hatte, auf wen er anspielte. Cytys konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er seinen Gesichtsausdruck sah.

„Das war genau die Person, die ich gemeint habe. Und du hörst dich so an, als wärst du ihr schon selbst begegnet.“ Payn blickte Famal fragend an. Der Rest der Anwesenden, vor allem Siyudys, sah die beiden an, als könnten sie nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten.

„Ich durfte in ihrer Begleitung in den Norden reisen“, führte Famal aus, „und deshalb konnte ich den See auf einem der vassu Schiffe überqueren. Ansonsten hätte meine Rückreise sehr viel länger gedauert und das hätte ich sehr bedauert.“

Siyudys verlor offensichtlich die Geduld. „Wer interessiert sich hier für eine Frau aus dem Süden! Wir sind hier, um über den Erben des Duco zu reden. Wir sollten also zum Thema zurückkehren. Ich gebe zu, nicht gewusst zu haben, dass Famal wieder zurück ist, aber das ändert nichts an ihrer Unfähigkeit zu erben. Welcher Sarvar würde eine Frau, die so verrückt ist wie sie, zur Ehefrau nehmen? Sie wird niemals einen Ehemann finden, der es ihr ermöglicht, ihren Vater zu beerben. Deshalb solltest du mich als Erben bestätigen, Coronar.“

Payn drehte sich zu ihm um und musterte ihn von oben bis unten. Cytys fand nicht, dass er den Eindruck erweckte, Siyudys Worte hätten ihm besonders gut gefallen. Er wirkte nicht im Geringsten so. Und dann drehte er sich, ohne den anderen weiter zu beachten, erneut zu Famal um.

„Ich würde mich gerne weiter mit dir über die Secundi unterhalten. Auch über deine Reise in den Süden, denn das klingt alles sehr interessant. Leider werden wir das auf später verschieben müssen. Denn auch wenn du jetzt wieder hier bist, muss ich dir leider sagen, dass du ohne einen Ehemann deinen Vater nicht beerben kannst. Wie dir ja sicherlich auch bekannt ist.“

Famal nickte. „Das ist es durchaus, Herr. Und leider muss ich auch sagen, dass mein Verwandter mit einer Sache recht hat. Die meisten Sarvarer würden mich nicht als ihre Ehefrau akzeptieren, zumindest nicht so, wie ich bin. Und ich habe nicht vor, mich zu ändern. Trotzdem bin ich mir bewusst, dass ich meinem Vater gegenüber und den Menschen, für die er verantwortlich ist, eine Verpflichtung habe.“

Siyudys brach in Gelächter aus. „Du bist dir deiner Verpflichtung bewusst, sagst du! Aber das nutzt dir nichts. Du wirst keinen Ehemann finden.“

Payn betrachtete ihn und machte sich dieses Mal nicht die Mühe, seine Verachtung zu verbergen. „Meine Eltern haben mir beigebracht, Frauen mit Respekt zu begegnen. Ich dachte eigentlich, alle Sarvarer wären so erzogen worden. Aber offensichtlich habe ich mich getäuscht.“

Dann drehte er Siyudys den Rücken zu und sah stattdessen Famal wieder an. „Du musst dir keinen Ehemann suchen, oder? Du hast bereits einen gefunden. Wo ist er?“ Er sah sich um.

„Ihr seid ein guter Beobachter, Coronar.“ Famal lächelte erneut, aber diesmal mit viel mehr Wärme als zuvor.

„Jedem hätte das auffallen können, Herrin“, antwortete Payn ihr. „Also, wirst du ihn uns vorstellen?“

„Selbstverständlich.“ Cytys hatte nur darauf gewartet, dass Famal das richtige Wort aussprach. Oder eines der richtigen Worte. Er schob die Wachen zur Seite, die vor ihm standen und trat neben Famal. Und jeder im Saal verstummte.

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Die Stille im Saal hatte nicht lange angehalten und danach wurde es erst so richtig laut. Vor allem Siyudys konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Schließlich musste der Coronar seinen Wachen den Befehl erteilen, für Ruhe zu sorgen, denn auf die Männer des Duco wollte dessen Verwandter nicht hören. Immer wieder schimpfte er darüber, dass kein Sarvar eine solche Ehe und einen solchen Ehemann anerkennen würde. Er gab lautstark von sich, dass er das auf keinen Fall anerkennen würde, und dass der Coronar das auf keinen Fall anerkennen durfte.

Der Coronar vermittelte den Anwesenden aber nicht den Eindruck, ihm in diesen Punkten zustimmen zu wollen. Er zeigte im Gegenteil seine Verachtung ganz offen und diese galt nicht etwa dem Duco, auch nicht seiner Tochter oder ihrem Ehemann, auch wenn er von dem ganz offensichtlich überrascht worden war und dies noch mehr, als von Famal selbst. Siyudys unverblümter Griff nach der Macht oder besser gesagt, sein Versuch nach der Macht zu greifen, hatte ihm dagegen überhaupt nicht gefallen. Cytys hatte nicht glauben wollen, dass dieser Mann der Krieger war, von dem Dejivoar Famal und ihm erzählt hatte. Es war ihm unwahrscheinlich vorgekommen, dass die Secundi tatsächlich diesen Menschen in Dysarvar getroffen hatte, denn auf ihn hatte er den Eindruck eines typischen Sarvarers gemacht. Aber offenbar hatte er sich geirrt, denn in ihm steckte offensichtlich viel mehr, als man auf den ersten Blick – oder auch den zweiten - erkennen konnte.

Ynesams Verwandter hatte den Coronar auch völlig falsch eingeschätzt. Er hatte darauf gesetzt, dass dieser ihn unterstützen würde, denn er war ihm wie ein Mann der Traditionen erschienen. Stattdessen hatte er zu seinem großen Ärger und Verdruss feststellen müssen, dass Payn sich auf die Seite von Famal und ihres viri Sklaven – Siyudys Worte – gestellt hatte. Statt als Erbe des Duco bestätigt zu werden, musste er nun die Verachtung des Coronar und seiner Begleiter ertragen. Dies war mehr als er verkraften konnte und deshalb floh er regelrecht aus der Burg und niemand wollte ihn und seine Männer aufhalten. Man ließ sie auf ihren Pferden in der Nacht verschwinden und alle waren froh, sie losgeworden zu sein.

„Ich hoffe, dass sich dies nicht als Fehler herausstellt“, flüsterte Cytys Famal zu, als beide etwas später über den fliehenden Siyudys sprachen. „Meinst du tatsächlich, er hat schon aufgegeben?“

Seine Ehefrau sah ihn von der Seite her an. „Der Coronar hat gegen ihn entschieden. Das Gesetz ist auf meiner Seite. Er kann nichts mehr machen.“

Cytys schüttelte den Kopf. „Ich kenne ihn nicht, aber so wie er sich hier aufgeführt hat, kam er mir nicht wie jemand vor, der sich vom Gesetz von seinem Ziel abbringen lässt. Solange du keinen Sohn geboren hast, gilt er immer noch als Erbe, wenn auch erst nach dir. Aber wenn sowohl dein Vater, als auch du sterben sollten, dann würde er doch noch der nächste Duco werden. Daher ist mir nicht wohl dabei, dass wir nicht wissen, wo er sich aufhält.“

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„Du hast eine bemerkenswerte Tochter, Duco Ynesam“, bemerkte der Coronar seinem Gastgeber gegenüber. „Hätte ich allerdings im letzten Jahr die Secundi nicht kennengelernt, wäre ich nicht in der Lage, das zu erkennen. Aber dir muss ich ja nichts über Famal erzählen.“

Der Duco lachte leise. „Nein, Herr, über meine Tochter musst du mir wirklich nichts erzählen. Ich habe ihrer Mutter versprochen, sie immer zu unterstützen und ich habe all die Jahre mein Bestes gegeben, mein Versprechen zu erfüllen. Und doch bin ich mir nicht sicher, ob mir das tatsächlich gelungen ist.“

„Sieh sie dir doch an, Duco. Wie kannst du glauben, du hättest versagt?“ Payn sah den älteren Mann ungläubig an.

Ynesam wirkte traurig. „Wäre ich tatsächlich erfolgreich dabei gewesen, mein Versprechen einzuhalten, dann wäre sie vor drei Jahren nicht einfach so verschwunden. Irgendetwas muss damals vorgefallen sein, aber sie ist nicht zu mir gekommen, um sich mir anzuvertrauen. Sie ist einfach gegangen. Von einem Tag zum anderen war sie nicht mehr da und wir konnten nirgends eine Spur von ihr entdecken. Und niemand ist auf die Idee gekommen, sie könnte in den Süden gereist sein.“

„Ich glaube, du hast dich selbst getäuscht, Ynesam.“ Payn legte dem anderen seine Hand auf die Schulter. „Du hast dir selbst eingeredet, sie wäre verschwunden, weil du versagt hast. Weil sie dir nicht ausreichend vertraute. Aber was wäre, wenn du dich geirrt hast. Was wäre, wenn sie gegangen ist, um dich zu schützen. Hast du sie gefragt?“

Ynesam schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst vor ihrer Antwort, Herr. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich bin ein Vater, der froh ist, seine Tochter zurückerhalten zu haben und das nicht aufs Spiel setzen will.“

Cytys war sich nicht sicher, ob den beiden Männern klar war, dass er sie hören konnte. Auf der einen Seite war er keine Person, die man übersehen konnte, aber auf der anderen Seite waren die beiden sehr aufeinander konzentriert. Und auf Famal, die sich auf der anderen Seite des Raumes, im Gespräch mit Hauptmann Jasypas, befand. Vielleicht hatten sie tatsächlich nicht mitbekommen, dass er hier wartete. Sie konnten aber auch der Meinung sein, ihn ohne Konsequenzen übersehen zu dürfen. Er hatte feststellen müssen, dass ihn die Männer des Duco nicht als ihnen ebenbürtig ansahen. Aber weder Payn noch Ynesam hielt er eigentlich für derart engstirnig, könnte sich aber in dieser Hinsicht auch geirrt haben. Er hoffte es allerdings nicht, denn das würde es ihm sehr viel schwerer machen, ihnen seine Besorgnis wegen Siyudys zu vermitteln.

Aber dann drehten sich die beiden Männer zu ihm um und er stellte fest, doch recht gehabt zu haben. Sie hatten ihn offensichtlich die ganze Zeit über im Auge gehabt.

„Cytys“, begrüßte ihn sein Schwiegervater, „was wolltest du mit uns besprechen?“

Der Viri lachte leise. „Nun weiß ich, von wem Famal ihre Beobachtungsgabe geerbt hat, Herr. Ich hätte mir denken können, dass dir nicht entgangen ist, dass ich hier herumschleiche.“

Der Duco musste selbst lachen, allerdings blieb er dabei ziemlich leise. „Ich will dir nicht zu nahetreten, aber du eignest dich nicht unbedingt zum Herumschleichen. Wenn ich auch zugeben muss, dass du dich ziemlich leise bewegen kannst.“

„Von einem Viri wird erwartet, dass er nicht auf sich aufmerksam macht.“ Cytys hatte versucht, diese Aussage mit einem leichten Lächeln von sich zu geben, aber er merkte sofort, dass ihm das nicht gelungen war. Famal hatte ihm beigebracht, dass er mehr als nur ein Diener war, aber damit hatte sie ihm auch einen Teil seines Schutzschildes genommen. Sie hatte ihn tatsächlich verletzlicher gemacht. Dafür hatte sie ihm aber etwas Kostbares geschenkt. Würde. Und Selbstachtung.

„Ich kann nicht gerade behaupten, viel über Viri zu wissen“, bemerkte der Duco, „aber dies ist etwas, das ich mir gut vorstellen kann.“ Er war ebenfalls wieder ernst geworden. „Was wolltest du nun mit uns besprechen?“

Cytys riss sich zusammen. „Ich mache mir Sorgen um Famal. Sie glaubt die Gefahr wäre vorbei, nachdem sie als rechtmäßiger Erbe anerkannt wurde.“

Ynesam nickte. „Famal hat immer schon an das Gute in jedem Menschen geglaubt. Obwohl sie so oft schlechte Erfahrungen gemacht hat. Das ist genau das, was ich von ihr erwartet habe.“

„Ich sollte mich nicht darüber beschweren“, antwortete Cytys ihm, „ansonsten wäre ich wohl tot. Allerdings wird es dadurch noch wichtiger, dass wir auf sie aufpassen. Meiner Meinung nach wird Siyudys nicht einfach so aufgeben. Er wird weitermachen, weil er unbedingt Duco werden will.“

Payn nickte. „So schätze ich ihn auch ein. Ich war sehr verwundert, als er sich einfach so zurückgezogen hat.“

„Ich habe nie geglaubt, dass er tatsächlich bereit ist, aufzugeben. Deshalb habe ich meine Männer bereits angewiesen, ihre Augen aufzuhalten“, mischte sich der Duco ein. „Ich traue meinem Verwandten nicht, gerade weil ich ihn bereits sein ganzes Leben lang kenne. Ich habe nicht vor, ihn zu unterschätzen. Aber ganz offensichtlich habe ich dich, Cytys, völlig falsch eingeschätzt. Ich muss zugeben, dass ich zuerst nicht verstehen konnte, wieso Famal dich geheiratet hat. Aber inzwischen habe ich eine gute Vorstellung von ihren Beweggründen gewonnen. Trotzdem kann ich immer noch nicht begreifen, wieso ihr auf vassu Art geheiratet habt. Ich habe vermutet, du wärst froh, nichts mehr mit den Gesetzen des Imperiums zu tun zu haben.“ Er sah seinen Schwiegersohn fragend an.

Der Viri zuckte mit den Schultern. „Es mag seltsam für dich klingen, aber nachdem ich völlig von meinen Ursprüngen abgeschnitten worden war, hat mir diese Zeremonie Sicherheit gegeben. Famal hat das sehr schnell verstanden. Sie war zwar nicht begeistert von meinem Wunsch, aber sie konnte meine Gründe nachvollziehen.“

Ynesam schüttelte den Kopf. „Das klingt tatsächlich seltsam für mich. Ich muss aber zugeben, dass ich auch nicht wirklich darüber nachgedacht habe. Im Endeffekt ist es mir auch egal, schließlich ist das etwas, das nur dich und meine Tochter etwas angeht. Und ihr beiden scheint kein Problem damit zu haben.“

Der Coronar sah ihn verblüfft an. „Das ist ein erstaunlicher Satz für einen sarvarischen Vater. Den meisten käme nicht in den Sinn, ihren Töchtern eigene Entscheidungen zu überlassen und sich damit zufriedenzugeben. Vor einiger Zeit hätte ich das auch nicht verstanden. Aber seitdem mein Bruder vor einigen Monaten Dysarvar besucht hat und ich die Gelegenheit erhielt, ausführlich mit ihm zu sprechen, musste ich feststellen, dass der sarvarische Weg nicht unbedingt der Beste ist. Ich hätte niemals gedacht, so etwas einmal zuzugeben.“ Jetzt war es an ihm, den Kopf zu schütteln.

„Der Weg des Imperiums ist aber auch nicht der beste“, hielt Cytys ihm entgegen. „Genau wie die sarvarischen Männer glauben die meisten Vassu, ihre Lebensweise wäre die einzig wahre. Aber selbst bei den Oixya, die sich damit brüsten, bei ihnen könne jeder machen, was er will, haben wir Menschen getroffen, die nicht verstehen konnten, warum ich an meinem Rock festhalte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin zufrieden, wenn die Menschen darüber nachdenken, dass andere Lebensweisen, als die eigene, durchaus eine Berechtigung haben.“

Payn brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. „Durch den Krieg, aber vor allem durch die Heirat meines Bruders, haben wir Sarvar mehr über das Imperium erfahren. Dies hat viele von uns allerdings zu der Meinung gebracht, den Virei wäre nicht viel zuzutrauen. Ich war mir aber schon zu dem Zeitpunkt sicher, dass sie sich irren.“

Cytys erwiderte sein Lächeln. „Genau wie bei euren Leuten gibt es auch unter den Virei Idioten. Wer euch etwas anderes erzählen will, ist selber einer.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber wir sind vom Thema abgekommen.“

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Duco Ynesam sah auf die beiden vor ihn gebrachten Übeltäter herab. Einer von ihnen wirkte reumütig, der andere aufmüpfig. Beide sahen ziemlich mitgenommen aus, mit ihren blauen Flecken, den Abschürfungen und Platzwunden, aber auch wegen der zerrissenen Kleidung.

„Wie konnte es soweit kommen?“, wollte der Duco in strengem Ton wissen.

„Ich habe mich nur verteidigt“, ließ sich Ostyor vernehmen. Er war ein dünner Achtjähriger.

Ynesam wandte sich dessen Gegner zu. Der sechsjährige Visar, sein ältestes Enkelkind, war genauso groß wie der Achtjährige, aber viel kräftiger gebaut. Und er vermittelte nicht den Eindruck, dass er sich wegen irgendetwas schuldig fühlte.

„Ich durfte das“, schleuderte ihm der Junge seine Worte entgegen. „Seine Familie sind alle Verräter!“ Seine Augen blitzten.

Der Duco seufzte. Immer wieder ging es um die gleiche alte Geschichte. Und nun musste er versuchen, seinem Enkel die ganze Angelegenheit zu erklären. Er wusste nicht, ob der Junge das verstehen konnte, denn ganz offensichtlich war das ja für manchen Erwachsenen zu schwierig.

„Kommt her, ihr beiden!“, befahl er den Jungen. Er sah direkt, dass sie beide nicht sehr begeistert von seiner Aufforderung waren, aber sie trauten sich nicht, sich ihm zu widersetzen. Schließlich war er der Duco und in Visars Fall auch sein Großvater. Bei Ostyor sah die Sache allerdings anders aus. Die zwei Jahre Altersunterschied reichten bereits aus, um den Jungen verstehen zu lassen, dass er sich als Unterpfand für das richtige Verhalten seiner Eltern auf Sicyl befand. Der Duco versuchte zwar, ihn das nicht spüren zu lassen, aber er konnte nicht verhindern, dass andere den Jungen wie eine Geisel behandelten. Schließlich war er ja auch eine. Leider gab es auch in der unmittelbaren Umgebung des Duco Personen, die der Meinung waren, Ostyors Familie wären insgesamt alle Verräter. Diese Menschen störten sich auch nicht daran, dass sie deswegen niemals vom Rego verurteilt worden waren. Und sie schreckten auch nicht davor zurück, ein Kind zu benutzen.

„Ich möchte, dass ihr beiden mir gut zuhört. Und dass ihr euch merkt, was ich euch erzähle. Ich war damals dabei, deshalb kenne ich die Wahrheit. Und die werdet ihr nun von mir zu hören bekommen. Ihr müsst meine Worte im Gedächtnis behalten und ihr müsst das vergessen, was andere euch erzählt haben. Manche Menschen lügen euch an, weil sie sich einen Vorteil davon versprechen.“ Die beiden Jungen blickten mit großen Augen zu ihm auf. Er war sich sicher, dass Ostyor ihn verstanden hatte, bei Visar wusste er es hingegen nicht. Sein Enkel war schließlich erst sechs Jahre alt, auch wenn er so groß und kräftig wie ein zwei Jahre älterer Junge war. Trotzdem würde er auch ihm heute diese Geschichte erzählen. Und wenn es nötig war, dann würde er sie ihm wieder und wieder erzählen. Irgendwann würde er alles verstehen. Er war das Kind seiner Eltern und hatte deren Intelligenz geerbt und ebenfalls deren Einfühlungsvermögen. Daran zweifelte er nicht.

Er begann über die Zeit zu sprechen, als sein Verwandter Siyudys, Ostyors Großvater, mit allen Mitteln versuchte, der nächste Duco von Sicyl zu werden. Er sprach darüber, wie Siyudys und dessen Ehefrau und der ältere seiner beiden Söhne Männer anwarben, um den rechtmäßigen Duco und dessen Erbin zu beseitigen. Wie sie gleichzeitig versuchten, in der Hauptstadt Stimmung gegen den Duco zu machen, der vorhatte, alles seiner Tochter und deren fremdländischen Ehemann zu hinterlassen. Es gab genug adelige Häuser, die bereits bei dem Gedanken an eine Erbin schauderten, obwohl es dem sarvarischen Gesetz entsprach. Wenn besagte Tochter dann auch noch gelernt hatte, Waffen zu nutzen und mit einem Ehegatten von ihrer Reise in den Süden zurückkehrte, der kein Sarvar war, dann machte dies alles nur noch schlimmer. Aber sein Verwandter hatte den Einfluss des Rego unterschätzt, dessen jüngerer Sohn selbst ein Viri geworden war, ganz wie Famals Ehemann einer war. Der Angriff auf den Duco scheiterte und Siyudys, seine Ehefrau und sein Sohn Setovym wurden dem Rego übergeben, der sie zum Tode verurteilte. Der Duco war hingegen davon überzeugt, dass Xeppur, Siyudys jüngerer Sohn, nichts mit den Plänen seines Vaters zu tun hatte, aber trotzdem konnte er nicht verhindern, dass Ostyor als Geisel zu ihm gesandt wurde. Dies war keine angenehme Erfahrung für den Jungen gewesen.

„So war das damals“, beendete er seinen Bericht und sah die beiden an. Während er gesprochen hatte, waren die beiden zusammengerückt, ohne es zu bemerken. Er blickte seinen Enkel an. „Wenn dir noch einmal jemand erzählt, Ostyor und seine Familie wären Verräter, dann weißt du, dass dies nicht stimmt. Ich möchte, dass du in einem solchen Fall zu mir kommst und mir darüber berichtest.“ Visar nickte mit ernstem Gesicht. Der Duco wandte sich an den älteren Jungen. „Wenn dich wieder jemand bedrängt, kommst du ebenfalls zu mir.“ Ostyor nickte ebenfalls.

Beide sahen mit ernstem Blick zu ihm auf. „Ich möchte aber auch, dass ihr beiden euch gegenseitig unterstützt. Wenn ihr miteinander streitet, helft ihr damit nur meinen Feinden. Die auch eure Feinde sind.“ Er war sich bewusst, dass dies für die beiden nicht einfach werden würde. Aber er hoffte, sie würden einmal Freunde werden. Er hoffte, der Riss in der Familie würde irgendwann einmal geheilt werden. Ihm war klar, dass das dauern würde, aber wenn er Glück hatte, schenkte ihm das Leben noch einige Jahre, bevor er die Last an Famal und Cytys übergeben musste. Und wenn er sehr viel Glück hatte, könnte er noch miterleben wie diese beiden zu jungen Männern heranwuchsen. Er lächelte bei diesem Gedanken.

Ende
 



 
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